Liebes-Balladen, Romanzen u. ä.

Frederic Leighton Der Fischer und die Sirene um 1856-58


 

Emmy Escherich
(1856-1935)


Schön Ingigerd's Goldhaar

Jarl Thorgnyr lagert auf Jütlands Au'
In dämm'rigem Abendwehen;
Die Haide ist braun und das Fjord ist blau
Und die Wogen kommen und gehen.

Die Sonne sinkt abschiedglühend in's Meer,
In Purpur die Wolken prangen;
Dem Jarl nur ist das Herz so schwer
Und Trübsal hält ihn umfangen.

Denn sie, um die er in sonniger Stund'
In treuen Züchten geworben,
Sie ist ihm - das drückt ihm die Seele wund -
Im Jugendschimmer gestorben.

Zwei Schwalben fliegen zu Neste all' beid',
Dieweil sie im Spätwind erschauern;
Da fährt er empor in trotzigem Leid:
"Was soll ich nur einsam vertrauern?

Was soll ich vertrauern die Sommerzeit
Mit wehmuthumflortem Sinne?
Mein Herz ist noch jung und stark und weit -
Ich sehne mich nach der Minne!"

Da wirft eine Schwalbe ihm in den Schoß
Ein Knäulchen, gleichschimmernd dem Golde,
Ein einzig Menschenhaar ist es bloß,
Doch manneslang. !Wer ist die Holde,

Der solches eignet?" Der Jarl da sinnt:
"Und müßt' ich darob verderben,
Das liebliche, goldhaarumflossene Kind
Will ich mir zum Eh'gemahl werben!" -

Das Mondlicht fließt über Jütlands Au'
In thauigem Nachtwindswehen;
Die Haide ist braun und das Fjord ist blau
Und die Wogen kommen und gehen.

In Thorgnyr's Halle, beim brennenden Span,
Lehnt der Jarl in Träume versunken!
Sein Harfenmeister sitzt nebend'ran,
Das Methorn ist ausgetrunken.

""Was fehlt Dir, mein Jungherr, was denkst Du, mein Held?""
Fragt Biörn, der getreue Skalde.
- "Zwei Schwalben flogen wohl über Feld,
Ueber Meerstrand und Haidenhalde;

Die brachten mir Zeichen von einer Magd,
- Spricht Thorgnyr - ihr eignet mein Sinnen!"
Und wie er die Märe zu Ende gesagt,
Da ruft er: "Sie muß ich gewinnen!"

Und Biörn, der Alte, der lächelt fein,
Er kennt alle Fürsten der Runde;
Er weiß auch von jedem Jungfräulein
Wahrhaftige, sichere Kunde.

Er sinnt nicht lang, wer die Jungfrau wert,
Die der Jarl zum Gemahl sich erkoren:
""König Hreggnid's Tochter, schön Ingigerd,
Allein hat solch' Goldhaar verloren!""

Drob jauchzt der Jarl und rüstet zur Fahrt.
Wie die Morgenwolken sich färben,
Da sprenget, den Troß er um sich geschart,
Nach Reußenland hin, um zu werben. -

Schön Ingigerd's Auge lacht blau und klar,
Es gleicht ihre Locke dem Golde,
Es fällt ihr seidenweich schimmerndes Haar
Wie ein Mantel rings um die Holde.

Jarl Thorgnyr reitet in's offene Thor,
Vor Hreggnid's Königshagen,
Den Goldhaarknäul, den die Schwalbe verlor,
Hochwehend als Helmschmuck getragen.

Und vor Ingigerd wirft sich in stürmischer Eil'
Der Jarl in's Knie: "Wie auf Flügeln
Hat her mich gezogen ein mächtiges Seil -
Dein Zeichen - zu diesen Hügeln".

Und dann springt er empor und haschet ihr Haar,
Die güldenen, wallenden Massen,
Und küßt ihre Stirn' und umhalset sie gar:
"Nun will ich Dich nimmer lassen!" - -

Jarl Thorgnyr lagert auf Jütlands Au'
In wonnigem Morgenwehen;
In den Armen hält er die lieblichste Frau,
Die die Sonne jemals gesehen.

Und der Skalde sitzet zu Füßen dem Paar,
Es rühret die Harfe der Reine -
Er singet die Märe von Ingigerd's Haar
Und seinem goldfarbenen Scheine.

Aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart
ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 59-60)
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