Liebes-Balladen, Romanzen u. ä.

Frederic Leighton Der Fischer und die Sirene um 1856-58



Minna von Mädler
(1804-1891)


Inhaltsverzeichnis der Balladen:
 




Dolores

In den Straßen, welch' ein Wogen!
Wohin drängt das Volk in Eile?
Aus der Fremde hergezogen
Tanzen Gaukler auf dem Seile.

Wie die kühnen Sprünge glücken!
Bravo! schallt's aus jedem Munde,
Und gefüllt mit blanken Stücken
Kreis't der Teller in der Runde.

Reife fliegen, Leitern schweben,
Trommeln klappern, Pfeifen gellen,
Und es rührt mit lust'gem Streben
Arlechino seine Schellen.

Doch nur eine kurze Weile
Läßt er seine Laune blitzen,
Dann beseitigt straffe Seile
Er an zweier Häuser Spitzen.

Und das Volk erfaßt ein Grauen,
Mancher will den Blick bedecken,
Zagend nicht hinauf zu schauen
Nach dem Schwindelpfad voll Schrecken.

Plötzlich fliegt es bang und leise,
Wie bei'm ängstlichen Erkennen,
Durch die dichtgedrängten Kreise,
Und "Dolores" hört man nennen.

Und ein wunderholdes Wesen,
Florbeschwingt, im Rosenkranze,
Wie zum Opfer auserlesen,
Schwebt heraus im leichten Tanze.

Wandelt dann die grause Brücke
Still, ein bleicher Engel, nieder,
Weilt zwei kurze Augenblicke,
Kehrt dann, schmerzlich lächelnd, wieder.

Und das Volk zu ihren Füßen
Bricht mit Jubel jetzt das Schweigen,
Und Dolores will es grüßen,
Blickt hinab mit sanftem Neigen.

Blickt in zweier Augen Flammen
Weit, in bangem Grausen, offen,
Zitternd fährt sie da zusammen,
Wie von Blitzesstrahl getroffen.

All' ihr Lieben, all' ihr Leiden,
Alle hoffnungslosen Schmerzen,
Glückes Lächeln und sein Scheiden
Dämmern auf in ihrem Herzen.

Dunkel wird's vor ihren Augen,
Wo sich Erd' und Lüfte drehen;
Trost vom Himmel einzusaugen
Blickt sie auf mit stillem Flehen.

Doch der hat sich schwarz umwoben,
Schaudernd hält sie an die Schritte;
Unten Tod, Verderbniß oben,
Schwankt sie auf des Seiles Mitte.

Hört des Volkes murmelnd Tosen
Und des Mitleids laute Regung,
Da entfallen ihr die Rosen
Bei der stärkeren Bewegung.

Und sie sieht die Blumen schweben,
Sieht sie flatternd niederwallen,
Läßt aus ihrer Hand im Beben
Dann die Balanciere fallen.

Und noch einmal blickt sie nieder,
Wie von neuem Muth bemeistert,
Sieht die theuren Augen wieder,
Hebt empor sich, hochbegeistert.

Hebt empor sich, laut zu sagen:
"Einz'ger, den je zu bekennen
Niemals meine Lippen wagen,
Eine Kluft wird stets uns trennen.

Laß mich sterbend sie durchfliegen,
Laß mich sterbend Dich begrüßen!" -
Und man sieht entseelt sie liegen
Zu des Heißgeliebten Füßen. –

Aus: Gedichte von Minna von Mädler geb. Witte
Leipzig und Mitau
G. A. Reyher's Verlagsbuchhandlung 1848 (S. 97-100)
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Koit und Aemmarik
(Morgenroth und Abendroth)
Eine esthnische Volkssage, bearbeitet nach einer Mittheilung des
Herrn Dr. Fr. Faehlmann
 

Eine kurze Wonnezeit, die lieder- und blumenreiche der kürzesten Nächte, entschädigt die Bewohner unseres Nordens für die langen Drangsale des rauhen Winters. In dieser Feierzeit der nördlichen Natur, wo Abendroth und Morgenroth einander die Hand reichen, erzählte ein Greis den versammelten Enkeln die nachfolgende Liebesgeschichte Koits und Aemmariks.


Kennst du in Allvaters Hallen,
Kennst du jene Leuchte nicht?
Siehe, Purpurstrahlen wallen,
Wo erlosch ihr goldnes Licht.

Eben kaum zur Ruh' gegangen,
Lächelnd noch im Widerschein,
Tritt sie schon mit vollem Prangen
In das Thor des Ostens ein.

Weißt du, wessen Hand die Sonne
Aufnimmt und zur Ruhe bringt,
Wenn nach ihrem Lauf der Wonne
Sie ermüdet niedersinkt?

Weißt du, wessen Hand entzündet
Wieder ihr erlosch'nes Licht,
Daß ihr Himmelsgang verkündet
Von der treubewahrten Pflicht?

- Dient' Allvatern still ergeben
Einstmals ein getreues Paar
Vom Geschlecht, dem Jugendleben,
Ewiges, verliehen war.

Als der erste Tag vollendet
Und den letzten Strahlenblick
Ihm die Leuchte mild gespendet,
Sprach der Herr zu Aemmarik:

"Töchterchen, die Sonn' im Sinken
Trau' ich Deiner Sorgfalt an,
Lösche Du ihr goldnes Blinken
Und bewahr' ihr Feuer dann."

Und sie wacht die Nacht voll Sorgen,
Bis ihr trübes Dunkel floh,
Und als kam der andre Morgen,
Sprach der Herr zu Koit also:

"Laß Dein neues Amt Dir künden,
Söhnchen, sei geschäftig wach,
Um die Leuchte anzuzünden,
Vorzusteh'n dem jungen Tag."

Monde sind seitdem entflogen,
Beide harrten treu der Pflicht,
Und es fehlt am Himmelsbogen
Keinen Tag das Sonnenlicht.

Winter kam im Schneegewande,
Später flammt die Leuchte auf,
Wandelnd tief am Himmelsrand
Schließt sie früher ihren Lauf.

Doch da grünt und blüht es wieder
In der neuerwachten Welt,
Vögel singen Jubellieder
Unter Ilmarinens Zelt.

Aemmarik löscht später immer
Dann die Leuchte, luftbewegt,
Bis sie einst im letzten Schimmer
In die Hände Koits sie legt.

Und da sah'n sie tief und lange
In die braunen Augen* sich,
Und ein Kuß sprach selig – bange
Aus das Wort: "ich liebe Dich!"

Doch ein Auge, nie geschlossen,
Das Verborgnes überwacht,
Sah die glücklichen Genossen
In der stillen Mitternacht.

Beide hat der Herr beschieden
Gleich am andern Tage dann;
Sprach: - "ich bin mit euch zufrieden
Fahrt so fort als Weib und Mann."

Aber beid' aus einem Munde
Flehten nun mit holder Scheu:
"Laß die Lieb' in unserm Bunde
Immer bräutlich sein und neu!

Bräutlich hat uns ja umfangen
Alle Himmelsseligkeit."
Und zu segnen ihr Verlangen
War der Alte froh bereit.

Und er hält, was er versprochen; -
Einmal nur, wenn Frühling lacht,
Nah'n sie sich vier kurze Wochen
In der stillen Mitternacht.

Wenn die Sonn' im letzten Funkeln
Ihrem Koit giebt Aemmarik
In den Nächten, die nicht dunkeln,
Folgt ein stiller Liebesblick.

Folgt ein Kuß auf zarter Wange,
Die erröthend widerstrahlt,
Daß ihr Purpurschein noch lange
Rings den Abendhimmel malt.

Bis, geweckt durch theure Hände,
Schon die Leuchte neu erglüht,
Und der Sonne Rosenspende
Hell im goldnen Osten blüht.

Und Allvater schmückt noch immer
Lieblicher dann Hain und Flur
Mit dem schönsten Blüthenschimmer
Zu der Feier der Natur.

Und die Nachtigallen scherzen,
Weilt die Braut im Wonnedrang
Länger an des Trauten Herzen:
"Träge Maid, die Nacht wird lang!"**

 

* Söstra karwa silmad (braune Augen wie die Rinde vom Johannisbeerstrauch) sind Haupterforderniß der Schönheit bei den Esthen.
** Esthnisch: laist tüdruk, laist tüdruk! ö pik! – Eine Nachahmung des Nachtigallengesanges; wörtlich: "Säumiges Mädchen, säumiges Mädchen, die Nacht wird zu lang!" – Oepik: die Nachtigall, eigentlich: die Nacht lang.

Aus: Gedichte von Minna von Mädler geb. Witte
Leipzig und Mitau
G. A. Reyher's Verlagsbuchhandlung 1848 (S. 182-187)




 


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