Liebes-Balladen, Romanzen u. ä.

Frederic Leighton Der Fischer und die Sirene um 1856-58



Ernst von Wildenbruch
(1845-1909)


Inhaltsverzeichnis der Balladen:
 




Das Hexenlied

Zu Hersfeld im Kloster der Prior sprach:
"Der Bruder Medardus ward alt und schwach.
Ich glaube, sein Stündlein ist heute gekommen -
Geh, Bruder Beicht'ger, hinein zu dem Frommen,
Vernimm das Geständniß von seinen Sünden;
Zwar weiß ich, du wirst nicht viele finden.
Er dienet dem Kloster heut fünfzig Jahr',
Im Klosterschatten verbleichte sein Haar,
Er hat gefastet, er hat sich kasteit,
Wohl vorbereitet zur Seligkeit,
Er ist der heiligste von uns Allen
Und wird dem Allmächtigen wohlgefallen."
Der Beichtiger schlug an Medardus' Thor -
Von innen tönte kein Ruf hervor,
Der Beichtiger trat wohl über die Schwelle
Und schritt hinein in Medardus' Zelle -
Und Stunde auf Stunde nach Stunde verrann,
Die Mönche schauten sich staunend an:
"Er, der unsträflich in Worten und Thaten,
Was kann Medardus an Sünden verraten?"
Die Vesperglocke mit dumpfen Schall,
Sie rief zur Kapelle die Mönche all',
Sie beugten die Häupter, sie knieten im Kreise,
für Bruder Medardus sie beteten leise. -
Da horch, da von ferne herüberklang
Mit klagender Stimme ein düstrer Gesang.
Der Prior hob sich vom Boden empor,
Die Mönche lauschten und neigten das Ohr:
"Aus Medardus' Zelle der Sang erklingt,
Das ist Medardus, der also singt."
Sie lauschten und horchten: "Was mag es sein?
Das sind nicht Gebete und Litanei'n,
Das klingt wie sündige, weltliche Worte?"
Und siehe, und siehe, herein in die Pforte
Der Beichtiger kam voll Schrecken und Hast:
"Wir haben den Teufel im Kloster zu Gast!
Medardus ist dem Versucher verfallen,
Medardus ringt in des Satans Krallen!"
Der Prior setzte die Kerze in Brand,
Die heilig geweihte, und nahm sie zur Hand,
Die Mönche thaten alle wie er
Und hinter dem Prior schritten sie her,
Von Wand und Gewölbe scholl dröhnend wider
Die Klagestimme der singenden Brüder:
"Vor Sündenfrevel, vor Satans Spott
Bewahr' uns in Gnaden, allmächtiger Gott!" -
Die Zelle war offen - bleich, hager und mager
Lag Bruder Medardus auf kärglichem Lager,
Die Hände gefaltet in betender Wuth,
Die starrenden Augen voll sehnender Gluth,
Und von den stammelnden Lippen sprang
Rastlos und ohn' Ende der wilde Gesang.
Das Lied das hatte so seltsamen Ton,
Wie sehnende Liebe, wie lästernder Hohn,
Als trüge von fernher herüber die Luft
Fremdländischer Blumen bestrickenden Duft.
Die Mönche sie schwangen die heiligen Kerzen:
"Fleuch, Satan, entweiche aus seinem Herzen!"
Sie schwangen die Kreuze, die heiligen Bilder,
Medardus' Gesang ward wilder und wilder
Und tief in die schaudernden Seelen drang
Das sündige Lied, das Medardus sang.
Die Mönche beschlich es wie sehnender Schauer,
Verlorenen Lebens tief nagende Trauer,
Sie dachten an Dinge, die einst sie besessen,
An Tage der Jugend, die lange vergessen,
Und mählich, allmählich verstummte der Chor,
Sie schwiegen und lauschten und neigten das Ohr. -
Der Prior, ein frommer, ein eifriger Greis,
Er stand voller Schrecken und blickte im Kreis,
Zu Bruder Medardus erhob er die Stimme
Und sprach in frommen in eiferndem Grimme:
"Darfst du mir verführen die heiligen Brüder?
So fahre, Verdammter, zur Hölle hernieder!"
Und siehe, vom Lager Medardus sich hob,
Ein leuchtender Glanz sein Antlitz umwob,
Sein starrendes Aug' in die Ferne blickte,
Er reckte die Arme, er streckte sie weit:
"Ich höre Dich," rief er, "ich bin bereit,
Du reines Weib, das sie Hexe genannt,
Du süßer Leib, den sie schändend verbrannt,
Ihr schwellenden Lippen, ihr Augen voll Güte,
Du, spielender Glieder süß quellender Blüte,
Du liebende Wonne, die einst sich mir bot
Und die ich verachtend verstieß in den Tod,
Nach fünfzig Jahren voll Buße und Pein,
Ich komme, um ewigliche bei dir zu sein!"
Er reckte die Arme, er streckte die Glieder -
"Medardus ist todt," dumpf sprachen's die Brüder. -
Drei Tage und Nächte mit Buße-Gesang
Die Mönche zogen das Kloster entlang,
Sie lagen drei Nächte auf ihren Knien
Und riefen zu Gott um Gnade für ihn:
"Ihm, welcher dahinging in Sünde und Schuld,
Erlösender Heiland, vergieb ihm in Huld." -
Im einsamen Zimmer, beim Kerzenschein
Der Prior saß mit dem Beicht'ger allein.
"Nun sage mir an, was Medardus gesprochen,
Die Thaten verkünde, die er verbrochen."
Ein großes Kreuz der Beichtiger schlug:
"Sein heiliges Leben war Lug und Trug.
Du sahest ihn oft, wenn am grauenden Tag
Er betend auf steinernen Fliesen lag,
Du sagtest uns: "Werdet ihm gleich, meine Kinder" -
Erfahre, Du segnetest einen Sünder.
Du sahst ihn, wie er in brünstiger Wonne
Die Augen erhob zu Gottes Madonnen,
Nicht war es Maria, der all' das galt,
Seinen Busen erfüllt' eine andre Gestalt.
Sein Antlitz sahst Du, das träumende, milde,
Du sahst nicht sein Herz, das gährende, wilde,
Sein Haupt war kalt und sein Haar war weiß,
Sein Herz von sündigen Gluthen heiß. -
Ich war ein Priester, so sprach er zu mir,
Voll Andacht las ich das heil'ge Brevier,
Ich las es in Aengsten, ich las es in Gluth,
Denn jung war mein Leib und heiß mein Blut.
Die blonden Locken vom Haupt mir flossen
Wie strömendes Gold, das darüber gegossen,
Und als man hineinschnitt die erste Tonsur,
Da war es, als mähte man Frühlingsflur.
Es war zur Zeit, als im deutschen Land
Der böse Teufel zur Macht erstand,
Als er die Weiber zur Buhlschaft verführte
Und als man Hexen zum Brandpfahl schnürte.
Damals geschah's, ich saß allein,
In tiefer Nacht, bei der Lampe Schein,
Da schlug es klopfend an meine Thür:
"Komm, Priester, heraus, man verlangt nach Dir."
Die Nacht war schwarz, dumpf heulte der Sturm,
Man führete mich hinaus an den Thurm,
Tief unter die Erde, auf gleitenden Stufen -
Mir war es, als würd' ich zur Hölle gerufen.
Man gab eine Fackel in meine Hand
Und wies mir ein Loch in der steinernen Wand:
"Zur Hexe, die morgen in Feuers Pein
Ihre Sünden büßt, da geh' Du hinein,
Bereite sie betend zu seligem Sterben,
Entreiß' ihre Seele dem ew'gen Verderben."
Ich schritt hinein in der Erde Bauch,
In meiner Kehle stockte der Hauch,
Da kam von drüben ein Rascheln her,
Geklirr von Ketten und Seufzen schwer,
Und sieh, in der Mauer finsterster Ecke,
Wie ein Thier des Waldes in seinem Verstecke,
Da sah ich ein Weib, gebeugt und gebückt,
Das Haupt an die triefenden Steine gedrückt. -
Die Fackel heftet' ich in den Ring,
Der schwebend herab von der Wölbung hing,
Ich sagte: "Wende zu mir Dein Gesicht,
Komm her, meine Schwester, und fürchte Dich nicht."
Ich sah, wie ihr Ohr meine Worte trank,
Wie Hand nach Hand ihr vom Antlitz sank,
Sie wandte das Haupt, sie schaute mich an,
Auf ihren Knieen kroch sie heran.
Ihr nackter Arm meine Knie' umfing,
An meinem Antlitz ihr Auge hing,
Ich schaute herab, der Fackel Licht
Umspielte ihr liebliches Angesicht;
Da fühlt' ich das Herz so süß mir erwarmen,
Da quoll in die Augen mir heißes Erbarmen,
Meine Lippen verstummten in lautlosem Leide,
In schweigendem Jammer weinten wir beide.
Und als meine Thränen sie fließen sah,
Mit bebenden Armen umfing sie mich da,
Ein Schluchzen tief aus dem Busen ihr quoll,
Von stammelnden Lippen ein Flüstern scholl:
"Du kannst noch weinen, Du weinest um mich,
Wie den gütigen Heiland, so liebe ich Dich!"
Mich faßte der Schreck ob des sündigen Worts:
"Gedenke der Stunde, gedenke des Orts,
In Flammen soll morgen der Leib Dir verderben.
Durch Buße entfliehe dem ewigen Sterben!"
Da sah sie mich an so bangen Gesichts:
"Was soll ich büßen, verbrach ich doch nichts?
Meine Eltern sind todt  - im Walde allein,
Großmutter und ich, wir wohnten zu Zwei'n.
Großmutter kannte manch' heilsames Kraut,
Manch' Tränklein hat sie für Kranke gebraut,
Großmutter im Feuer verbrannten sie,
Eine Teufelshexe sie nannten sie.
Ein altes Lied Großmutter sang,
Ich lernt' es ihr ab, weil so süß es klang,
Sie sagte, es käme aus fernen Landen,
Wo Liebeszauber die Menschen verstanden,
Ich sang's und wußte nicht, was es bedeute,
Da griffen sie mich, hartherzige Leute,
Und sperrten mich in den finsteren Thurm;
Sie sagen, es sei der höllische Wurm,
Der singe aus mir, zu der Menschen Verderben,
Drum soll ich morgen im Feuer sterben." -
Ihre bebende Lippe berührte mein Ohr,
Ihr Auge mich flehend in Aengsten beschwor,
Ihr Busen drängte an meinen sich,
"Errette", sprach sie, "errette mich!
So süß ist zu leben, so bitter der Tod,
Und Feuers zu sterben, ist schreckliche Noth!
Kein Wesen hab' ich gekränkt und betrübt,
Keine Sünde gethan, keinen Zauber geübt,
Die Herzen der Menschen gleichen den Steinen,
Du aber bist gut, Du kannst noch weinen;
Der Wärter schläft, frei ist die Thür,
Komm, laß mich fliehen, entflieh' mit mir!
Wir gehen leise, man hört uns nicht,
Die Fackel erlischt, uns verräth kein Licht,
Die Thurmespforte geht in das Feld,
Niemand uns sieht, Niemand uns hält;
Wenn morgen der Schrei der Hähne schallt,
Sind wir schon ferne, im fernen Wald;
Der Wald ist dunkel, der Wald ist dicht,
Ich weiß eine Stätte, sie finden uns nicht;
Ich weiß eine Stelle, ich weiß einen Platz,
Da liegt verborgen ein alter Schatz,
Wir werden suchen, Du wirst ihn heben,
Wir ziehen ferne, wir werden leben
Im fernen Lande, Du nur mit mir,
Ewig und ewig ich nur mit Dir!
Du hast kein Weib an das Herz noch gedrückt,
Du weißt nicht, wie Weibes Liebe beglückt,
Reicher an Liebe sollst Du werden
Als jemals Menschen waren auf Erden -
Die Sterne wandeln, die Stunden zieh'n,
Es ist Zeit, es ist Zeit, komm, laß uns entflieh'n!"
Ihr heißer Odem wie Sturmwind ging,
Ihr weißer Arm meinen Nacken umfing,
Ihr dunkles Haar, wie Fittich der Nacht,
Umfloß des Leibes herrliche Pracht -
In meinem Haupte, in meiner Brust
War schwindelnde Wonne, tödliche Lust
Ich beugte mich nieder, ich wollte sie küssen, -
Da fühlt' ich mich schaudernd rückwärts gerissen:
"Du küssest die Hexe, Du segnest die Schuld!
Du hast keinen Theil mehr an göttlicher Huld!"
Auf meinen Lippen starb das Wort,
Von meinem Herzen stieß ich sie fort,
Entsetzen jagte mich aus der Kammer -
Da schrie sie mir nach in Verzweiflung und Jammer,
Sie brach zur Erde, sie lag auf den Steinen,
Dumpf hinter mir hört' ich sie schluchzen und weinen!" -
Medardus schwieg - seine Wange erblich -
Mein Bruder, sagt' ich, was ängstet Dich?
Du hast dem Versucher widerstanden
Und machtest des Teufels Künste zu schanden.
Doch als ich tröstend ihm solches sprach,
Gelächter von seinen Lippen brach,
Ein Lachen, so wild und ungestüm,
Als lachte der Teufel selber aus ihm.
Mit rollenden Augen blickt' er mich an,
Er schwieg. - Dann sprach er: "Der Tag begann -
Der Himmel brannte in Morgen-Flammen,
Die Menschen rotteten sich zusammen,
Im Felde draußen, von Scheitern geschichtet,
Stand dunkel und düster der Holzstoß gerichtet,
Und Aller Augen hingen am Pfahl -
Da stand sie und harrte ihrer Qual. -
Wie taumelnde Vögel, verflattert im Meer,
So glitten voll Angst ihre Augen umher;
Da trat ich heran mit dem Kruzifix,
Ihr Auge erfaßte mich suchenden Blicks,
Und siehe, und siehe, verstohlener Weise
Da neigte ihr Haupt sie, da nickte sie leise,
Und ein Lächeln erstand in dem süßen Gesicht,
Wie der scheidenden Sonne verlöschendes Licht. -
Die lodernde Fackel der Henker schwang,
Ihr lechzendes Aug' in mein Auge sich trank,
Die Flamme griff in das dürre Geäst,
Ihr starrenden Augen hielten mich fest,
Die Funken stoben wie prasselnder Staub,
Ihre Lippen erbebten, wie sinkendes Laub,
Und plötzlich, und plötzlich vernahm ich ein Klingen,
Vom brennenden Holzstoß begann sie zu singen,
Wie Frühlingsregen, durchrauschend die Nacht,
So ergriff mich des Liedes süß-selige Macht;
Mir war's, als trüge herüber die Luft
Fremdländischer Blumen bestrickenden Duft,
Als spräch' eine Stimme zu meinen Ohren
Von seligem Glück, das für ewig verloren.
Die Flamme ergriff ihren nackten Fuß,
Sie neigte sich scheidend, zum letzten Gruß,
Der schwarze Rauch sie wirbelnd umschwoll,
Ihr klagender Sang aus dem Rauche scholl,
Dumpf brausend die Flamme zum Himmel sprang,
Wie zitternde Glocken ertönt' ihr Gesang -
Die Ohren bedeckt' ich mit meinen Händen,
"Das Singen, das Singen, wann wird es enden?"
Ich wandte mich schaudernd, ich floh von dem Ort -
Die klagende Stimme zog mit mir fort;
Wohin ich entfloh, wohin ich entwich,
Der Gesang, der Gesang, er begleitete mich.
Ob ich schlummernd lag, ob ich betend gewacht,
Zu jeglicher Stunde, bei Tag und bei Nacht,
Seit jenem Tage die fünfzig Jahr',
Ich höre ihn immer und immerdar!" -
Medardus fuhr auf, wild war sein Gesicht,
"Ich höre sie wieder - vernehmst Du es nicht?
Den Gang herauf - es kommt durch die Thür -
Sie tritt auf die Schwelle - ist hier, ist hier!"
Ich warf mich herab zu des Lagers Fuße,
"Mein Bruder", rief ich, "thu' Buße, thu' Buße,
Der Menschenverderber hält Dich gebunden,
Des Weibes Lied hat der Teufel erfunden!"
Zum Lager zurück ich Medardus zwang,
Aus meinem Arme er los sich rang,
Von seinem Lager er fort mich stieß:
"Eine Stimme ist's aus dem Paradies!
Sie ruft mich zum Heil, das ich frevelnd verlor,
Sie öffnet zur Seeligkeit mir das Thor."
Und plötzlich die strömenden Thränen ihm rann
Und plötzlich Medardus zu singen begann -
Es war ein Lied, wie ich keines vernahm,
Das jemals aus menschlicher Kehle kam,
So in klagendem Leid, so in jauchzender Lust -
Da faßte Entsetzen mir kalt in die Brust,
Mit flüchtendem Fuße schlug ich die Schwelle,
Da rief ich Euch Alle zu seiner Zelle."
Der Beichtiger schwieg - durch die Fenster brach
Der grauende Morgen - der Prior sprach:
"Was Menschenaugen nicht fassen, noch seh'n,
Dort oben ist Einer, der wird es versteh'n,
Er hat gesprochen: Mein ist das Gericht -
Geh' beten, mein Bruder, und richte nicht."

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 196-205)
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Jung-Edward und Egwine
(Angelsächsisch)

Jung-Edward war eines Königs Sohn,
Er rief seine Diener und Herr'n,
Hieß alle sich waffnen mit Bogen und Spieß
Zu jagen am blauen Severn.

Husch, husch, durch den Wald kam ein milchweißer Hirsch
Jung-Edward husch hinterdrein
Thal auf und ab, bis die Sonne versank:
"Wo mag mein Gefolge nun sein?

Was duftet so süß hier?" Jung-Edward sprach;
"Was blinket dort unten im Thal?"
Das war eine Hütte in Blumen versteckt -
"Was gilts, ich klopfe einmal!".

Wer trat vor die Thür? Seine Amme die war's,
War alt und war weiß wie Schnee.
"Gott grüße mein Liebling, Jung-Edward dich,
Tritt ein, daß ich besser dich seh!"

Wer saß in der Kammer und drehte das Rad?
Wer webte so kunstreich den Flachs?
Ein Mädchen so jung und so hoch und so schön,
Ein Mädchen, wie Blut und wie Wachs.

"Ich hab' dich gehegt und ich hab' dich gepflegt,
Ich gab dir zum Trinken die Brust,
Ich gab dir manch Spielzeug, Jung-Edward, nun
Nun geb' ich dir Liebe und Lust.

Ich hab' dich gehegt und ich hab' dich gepflegt,
Ich gab dir zum Wohnen ein Haus;
Du Hirtenmädchen, du Schönste im Land,
Egwine, die Armuth ist aus."

Egwinen träumte, ihr stiege der Mond
Aus dem Schooße hellleuchtend und hehr -
König Athelstan hieß Jung-Edwards Sohn,
Kein König war jemals wie er.

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 109-110)

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Orpheus' Gesang vor Pluto

Als, verblutend unter Schlangenbissen
Eurydike Orpheus ward entrissen,
Stieg er nieder in das Reich der Nacht.

Niemand folgte ihm ins Land der Thränen
Als das glühend unermeßne Sehnen,
Seine Liebe nur war seine Macht.

Rings von grausenvoller Nacht umgeben,
Unter lauter Tod das einz'ge Leben,
Hob er schauernd den entsetzten Blick

Lautlos sprach sein Angesicht sein bleiches
Zu dem düstren Gott des Todtenreiches:
Schenke die Geliebte mir zurück.

Staunend zu dem kühnen Erden-Sohne
Sah der Todten-Gott von seinem Throne:
"Thörichter, wer hat dich hergesandt?

Ward dein Weib vom Weibe nicht geboren?
Nimmer kehrt sie aus des Hades Thoren
Dir zurück zum blüh'nden Erdenland."

Da ergriff es ihn wie Todes-Schauer,
Mächt'ger als das Grausen ward die Trauer,
Strömend von den Lippen floß es ihm,

Und er sang die Macht, die ihn getrieben,
Jenes Lied von dem allmächt'gen Lieben,
Von der Liebe heil'gem Ungestüm.

Da erwarmten Lethes starre Fluthen,
Alte Schmerzen fingen an zu bluten
Und die Todten lebten noch einmal;

Bleiche Lippen hallten klagend wieder,
Plutos düstre Stirne bog sich nieder
Schauernd vor der Menschheit Götter-Qual.

Heiß und heißer strömte seine Seele,
Aus des Todten-Reiches nächt'ger Höhle
Scholl zur Menschenwelt empor sein Lied -

Und die Erde barg die heil'gen Töne,
Klagend durch das Herz der Erden-Söhne
Heute noch das Lied der Liebe zieht;

Denn Gefühl ist ohne Zeit und Ende,
Dem Vergangnen reichet es die Hände
Und die Zukunft ist ihm aufgethan;

Wechselnd in der Zeiten engen Schranken
Geh'n der Menschheit wandelnde Gedanken,
Menschenherz geht ewig gleiche Bahn.

Lauschet mir, ich will Euch wieder singen
Jenes Lied, das seine dunklen Schwingen
Um der Menschheit junge Wiege schlang.

Also tönten Orpheus' süße Worte,
Als er an des Todes grauser Pforte
Um das Leben der Geliebten rang:

Als der Welten-Gott erschuf die Erde,
Goß er, daß sie ihm der Liebling werde,
Schönheit ihr auf Angesicht und Brust;

Sah auf sie herab in hoher Freude,
Wie sie lag in bräutlichem Geschmeide
Und er küßte sie in heil'ger Lust.

Und der Gottes-Hauch drang in sie nieder,
Strömte durch der Erde holde Glieder
Wie ein stiller Waldstrom, tief geheim

Strömte bis zu ihrem dunklen Herzen,
Schauernd unter ahnungsvollen Schmerzen,
Fühlte sie darinnen Gottes Keim.

Drängend wuchs in ihr Gebährens Wonne,
Doch sie barg sich scheu dem Licht der Sonne,
Ihr Geheimniß sah die milde Nacht;

Aus den dunklen Pforten ihres Schoßes
Stieg ein Kind, ein wunderbares, großes,
Sieh, es war der Mensch zur Welt gebracht.

Doch wer sagt mir, wie ich ihn beschreibe?
Wunder war er, anzuschau'n von Leibe
Anders ganz, als heut der Menschen Art.

Denn was heute uns getrennt erscheinet,
Beides war in einem Leib vereinet,
Mann und Weib in einem Leib gepaart.

Tönend schritt herauf er und hernieder,
Prüfte froh die allgewalt'gen Glieder
Und sein stolzes Herz schwoll auf in Lust;

Pflanzte sein Geschlecht aus eig'ner Fülle,
Zeuger war allein sein mächt'ger Wille
Und es war kein Schmerz in seiner Brust.

In des Weltalls unermeßnen Reichen
War mit ihm kein Wesen zu vergleichen,
Staunen faßt' ob seiner selbst den Herrn.

Und er heischte, daß er dankend singe
Von der Schönheit der geschaffnen Dinge
Des Geschöpfes Stimme hört er gern -

Doch es sprach der Mensch: "was soll ich preisen?
Nicht in Himmels-, nicht in Welten-Kreisen,
Ist ja doch ein Ding so schön wie ich!

Auf des eignen Busens Wunder lauschend
Mich an eigner Schönheit selbst berauschend,
Preise ich von allen einzig mich."

Da erzürnte Gott auf seinem Throne,
Rief zur Erde, wehe deinem Sohne,
Anders ward er, als ich ihn gewollt.

Doch der Kecke fühle meine Strafe!
Und er sprach zu seinem Knecht, dem Schlafe:
Binde ihn, dem meine Seele grollt.

Als der Schlaf den Menschen nun gebunden,
Da verhängte Gott ihm schwere Stunden,
Furchtbar hob er die allmächt'ge Hand

Und es mußte Mann und Weib sich scheiden,
Von einander riß der Herr die Beiden,
Trug sie jedes in ein ander Land.

Da sich nun der Mensch erhob vom Schlummer,
War er einsam, und der erste Kummer
Zog da in des Menschen Busen ein.

Trübe ward sein Aug' in ersten Thränen,
Seine Seele fühlte erstes Sehnen,
Des Verlangens bitterliche Pein.

Und es trieb ihn stürmend, daß er wandre,
Daß er suche das verlorne Andre,
Seine Hälfte, die ihm einst gehört;

Daß er werde, was er einst gewesen,
Schönstes aller der erschaffnen Wesen,
Und er ging von tiefem Gram beschwert.

Doch es biß der Weg in seine Füße,
Daß er bitter alten Hochmuth büße,
Hob sich Erde gegen ihren Sohn;

Rauh umschlang ihn Wald mit dorn'gen Armen
Und kein Wesen schenkte ihm Erbarmen,
Alle Gnade war von ihm geflohn.

Tag und Nächte sucht' er so vergebens
Die verlorne Hälfte seines Lebens,
Brach zur Erde dann in tiefem Thal;

Hob zum Himmel noch einmal zum dunkeln
Seine Augen, sah die Sterne funkeln,
Schweigend blickten sie auf seine Qual.

Und da so er lag in Gottes Grimme,
Da erströmte seines Busens Stimme,
Wie ein Quell sich drängt durch Felsenthor.

Der zur Zeit der Stärke nicht gesungen,
Nun von seinem Jammer ganz bezwungen
Schrie zu Gott in seinem Schmerz empor.

Weheruf begann er, hob zu klagen:
"Wie so schwer hat mich der Herr geschlagen,
Wie so ganz dahin ist meine Kraft.

Willst du nicht zurück die Theure geben,
Nimm auch dieser Hälfte, Gott, das Leben,
Eh' mich langsam bittre Qual entrafft."

Süß und süßer quollen seine Lieder,
Lauschend bog die Nacht zu ihm sich nieder,
Ihre Thränen flossen über ihn.

Da erwachten auch die ersten Träume,
Schweigend durch der Erde dunkle Räume
Hoben sie den Reigen an zu ziehn.

Und es stieg sein Lied zu Gottes Throne,
Sprach zu ihm von dem verlornen Sohne,
Und Gott sah ihn voller Kummer an,

Dachte, wie Er ihn dereinst geliebet,
Der da vor ihm lag zum Tod betrübet,
Wie so schweres Leid er ihm gethan.

Und es drängten väterliche Schmerzen
Alles Groll aus seinem milden Herzen,
Zu dem Liebling trieb es ihn zu geh'n

Sturmwind trug ihn, als er niederschwebte,
Schweigend lag die Erde und erbebte
Und es neigten sich der Erde Höh'n.

Wandelnd trat er zu des Menschen Seite,
Rührt' ihn an: "Steh auf, daß ich dich leite,
Daß du endest deinen Schmerzenslauf!

Fühlen sollst du heut, daß Gottes Strafen
Gnade denen bringen, die sie trafen,
Freude blüht aus ihren Leiden auf."

Und er wies ihn, wie er wandeln müsse.
Kraft bethaute neu des Menschen Füße,
Glühend hob er sich zu neuem Gang

Als der gold'ne Morgen kam gezogen,
Sieh, da kam's von drüben her geflogen, -
War der Mensch, der da zum Menschen sprang.

Wer nun sagt es, wie sie sich umschlangen,
Zu einander drängten, kämpften, rangen
In der engen Brust des Weltalls Gluth?

Wie die Augen in einander flossen,
Lippen dürstend sich auf Lippen schlossen,
Trinkend ersten Kusses Todeswuth?

Und daß nicht die Freuden ihn zersprengten,
Brauste aus dem Busen dem bedrängten
Wonneruf hervor, wie Donnerlaut.

Erde lauschte ihm in sel'gem Bangen,
Süße Scham umglühte ihre Wangen,
Fühlte schauernd sich noch einmal Braut.

Da begannen sie das Lied zu singen
Von den schönen gottgeschaffnen Dingen
Und von ihr, die stärker als der Tod

Von der Flammengluth, die sie getrieben,
Jenes Lied von dem allmächt'gen Lieben
Von der Liebe wonnevoller Noth.

Und es war das Wunderwort entflossen
Und in allgewalt'gen Chor ergossen,
Rief dem Menschen Dank die Creatur

Dank dem Bruder, der den Schmerz getragen,
Drinnen Liebe konnte Wurzel schlagen,
Süße Frucht trägt nur zerrissene Flur.

So aus tiefster Noth und höchster Wonne
Ward geboren die allmächt'ge Sonne,
Die am Himmelsdom der Menschheit brennt

Und wer nie gejauchzt in Götter-Freude,
Nie geschluchzt in todesdunklem Leide,
Kennt sie nicht, die sich die Liebe nennt.

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 142-149)

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Schön-Adelheid

Kaiser Otto saß in dem prangenden Saal;
"Meiner Tochter erwähle ich heut den Gemahl.
Wohlauf, meine Edlen, wer wirbt, wer freit
Um die wonnige Maid, um Schön-Adelheid?"
Auf stand vor dem Kaiser Graf Wilhelm von Nort:
"Zehntausend Vasallen gebietet mein Wort -
Schön-Adelheid sah ich, sie war noch ein Kind,
Ich habe sie schweigend bis heute geminnt;
Zehn Jahre sind's her - und das elfte verrann,
Einst war ich ein Jüngling, jetzt bin ich ein Mann,
Doch jung in der Seele noch blüht mir der Muth -
Schön-Adelheid gebt mir, ich warte sie gut."
Kaiser Otto stand auf von dem leuchtenden Thron:
"Graf Wilhelm, nie fände ich besseren Sohn.
Du Lust meines Herzens, mein liebliches Kind,
Grafen Wilhelm dem reiche die Hände geschwind."
Schön-Adelheid wandte zur Erd' das Gesicht:
"Grafen Wilhelm, mein Vater, begehre ich nicht,
Und willst dem Gemahle Du heute mich frei'n:
Ritter Heinrich, der liebt mich, und sein will ich sein."
"Ritter Heinrich, der Mann ohne Namen und Land?
Wer hat Dir so thöricht die Sinne gewandt?"
"Und hat er nicht Namen und hat er nicht Leh'n,
So hab' ich nie schöneren Mann doch geseh'n,
Und hat er nicht Gold und nicht edles Erz,
Er ist reicher als Alle, denn er hat mein Herz."  - -
Tief unter der Erde, so tief wie das Grab,
Da führten Schön-Adelheid sie hinab.
Sie thäten ihr an ein härenes Kleid -
Sie lachte und sagte: "Mein Hochzeitskleid."
Sie legten ihr Ketten an Fuß und an Hand:
"Nie schöneren Schmuck ich zur Hochzeit fand."
Sie setzten sie ein, ohne Sonne und Licht,
Wie die Sonne lachte ihr süßes Gesicht. -
Und als das erste der Jahre entschwand,
An der Kerkerthür Kaiser Otto stand:
"Wie geht es hier unten der trotzigen Maid?"
"Mein Vater, ich leide viel bitteres Leid!"
"Und wer soll Gemahl Dir und Liebster sein?"
"Ritter Heinrich, mein Vater, und er nur allein." -
Und als das zweite der Jahre entschwand,
An der Kerkerthür Kaiser Otto stand:
"Wie geht es Dir hier, ohne Sonne und Licht?
Verlangst Du zu Bergen und Thälern nicht?"
"Ich weiß nichts von Bergen, ich weiß nichts von Höh'n,
Ich kann nur noch träumen, doch träum' ich so schön.
Im Traume da kommt er, da tritt er herein,
Mein Trauter, mein Lieber, und sein will ich sein."
Kaiser Otto seufzte bang und schwer,
Doch die Kerkerthür verschloß sich nicht mehr;
Sie banden die Ketten von Fuß ihr und Hand
Und legten ihr an ein prächtig Gewand,
Und führeten sie aus Dunkel und Qual
Hinauf in den prangenden Kaisersaal.
Da stand Ritter Heinrich im leuchtenden Kleid
In seiner blüh'nden Jungherrlichkeit.
An Saales Enden ein Anderer stand:
Graf Wilhelm von Nort, in schwarzem Gewand. -
Da trat sie herein, o Jammer und Leid,
Dahin, ach dahin war Schön-Adelheid;
Ihr Leib war verwelkt, ihre Wange war fahl,
Ihr Auge erloschen in langer Qual,
Und von Ketten geknickt schwer wankte ihr Fuß -
Und sie lächelte still Herrn Heinrich zum Gruß.
Ritter Heinrich aber, wie schaut' er so blaß:
"Schön-Adelheid liebt' ich, doch ist sie das?" -
Kaiser Otto sprach: "Ritter Heinrich, wohlan,
Meine Tochter begehrt Dich vor Allen zum Mann
Und liebst Du wie sie, so stark und so rein,
So habt Ihr gewonnen und Dein soll sie sein."
Ritter Heinrich sah nieder, sprach dumpf und schwer:
"Ich liebte sie heiß, doch ich lieb' sie nicht mehr." - -
Zwei Jahre im Kerker, zwei Jahre in Qual,
Nicht wankte das Herz ihr ein einziges Mal;
Bei dem ersten Wort, das Herr Heinrich sprach,
Schön-Adelheids Herz in Schmerzen zerbrach;
Sie weinte nicht Thränen, sie seufzte schwer,
Sank nieder zur Erde und lebte nicht mehr. -
Auf stand vor dem Kaiser Graf Wilhelm von Nort
"Ritter Heinrich, ich habe an Euch noch ein Wort:
Schön-Adelheid sah ich, sie war noch ein Kind,
Ich habe sie schweigend bis heute geminnt -
Schön-Adelheid wußt' ich zwei Jahre in Leid,
Zwei Jahre drum trug ich ein schwarzes Kleid;
Und verblich es um Dich, das geliebte Gesicht,
So steht hier der Rächer, auf Bube, und ficht!" -
Hui - riß aus der Scheide Graf Wilhelm den Stahl,
Es zückte den seinen Herr Heinrich zumal.
Grafen Wilhelms Schwert, eine Schlange voll Wuth,
Es dürstete lechzend nach Heinrichs Blut;
Er drängte ihn wild und er ließ nicht nach,
Bis er mitten durchs Herz Herrn Heinrich stach -
Zu Adelheids Füßen Herr Heinrich glitt,
Fort stieß ihn Graf Wilhelm mit zürnendem Tritt.
Er kniete herab auf den blutigen Grund
Und küßte sie heiß auf den bleichen Mund.
"Und ob Deine Schönheit verging und verblich,
Schön-Adelheid, heute noch liebe ich Dich!"
Er hob ihr lockiges Haupt auf das Knie
Und er und der Kaiser weinten auf sie -
Auf stand Graf Wilhelm - sein Haar war grau -
Nie hob er den Blick mehr zu anderer Frau.

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 150-153)

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Gretchens Hochzeitsabend

Schön-Gretchen, am Tag, eh' sie Hochzeit gemacht,
Sie hat nicht gesungen, sie hat nicht gelacht,
Am Fenster da hat sie ganz stille gesessen,
"Geld hab' ich und Gut, doch die Lieb' ist vergessen."

Und als an dem Fenster Schön-Gretchen saß,
Ging Einer vorüber, war bleich und war blaß,
Der blickte, der nickte und hat nicht gesprochen,
Da sind ihr die Thränen vom Auge gebrochen.

Darauf, als am Abend der Bräutigam kam
Und als in die Arme Schön-Gretchen er nahm,
Da stockten Schön-Gretchen die Füße im Tanze,
Da brannt' ihr wie Feuer das Haupt unter'm Kranze.

Und als es war in der tief tiefen Nacht,
Schön-Gretchen ist klagend im Bette erwacht,
Es hat ihr geträumt mit Jammer und Bangen
Ihr Herzallerliebster sei sterben gegangen. -

Der Morgen kam und es klopfte am Thor:
"Schön-Gretchen, der Bräutigam steht davor."
Es rauschte im Flur und es kamen die Gäste.
"Steh' auf, süße Maid, und schmück' dich zum Feste."

Die Glocken die gehen bimbaum, bimbaum -
"Schön-Gretchen, was träumst du so langen Traum?
Der Küster ist da und der Priester gewärtig,
's ist Alles bereit, nur die Braut ist nicht fertig?"

Der Bräutigam, als ihn das Harren verdroß,
Er klinkte die Thüre, er rückte das Schloß,
Er schaute hinein - ward bleich wie das Linnen:
"Wo ist Schön-Gretchen? sie ist nicht hierinnen?" -

Sie suchten im Hause die kreuz und die quer,
In Feldern und Gärten, ringsum und umher,
Sie suchten, bis Abends die Sonne entschwand -
Kein Einz'ger von Allen Schön-Gretchen fand. -

Nur Einer, ein Einz'ger, der kannte den Fleck,
Den sie sich erwählte zum letzten Versteck,
Der aber, der wird ihn den Andern nicht zeigen,
Denn die Todten sind stumm und müssen schweigen.

Doch siehe, zur Nacht, in dem Mühlenteich
Da steigt es vom Grunde, da schimmert es bleich -
Zwei schneeweiße Lilien sind aufgegangen,
Die halten sich schweigend und sehnend umfangen.

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 171-172)

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Die Tochter des Inka

Also sprach der hohe Inka,
Da er zog zum letzten Streite
Mit Pizarro dem Erob'rer,
Also sprach er zu der Tochter
Zu der holden Assarpai:
"Schirmen alle Götter Dich.

Draußen wird nun Kampfgetöse,
Blut und Staub und grauser Tod sein,
Aber hier sei süßer Friede,
Blumenduft und Sang der Vögel
Und den Weg soll Niemand finden
Zu der Stätte, da Du wohnst."

Auf die Locken, auf die dunklen,
Drückte er den goldnen Streithelm,
Küßt' ihr die bethränten Augen -
"Süßes Kind, ich seh' Dich wieder"
Sprach sein Mund - sein Herz sprach anders:
"Nimmer," sprach es, "nimmermehr."

Also wohnte Assarpai
In dem stillen Thal von Quitto;
Jeden Morgen kam die Sonne,
Küßt' ihr wach die holden Augen,
Und der Mond kam jeden Abend,
Küßte ihr die Augen zu.

Einen grauen Papageien
Hielt sie an dem goldnen Kettlein,
Und er saß auf ihrer Schulter,
Schmiegte sich an ihre Wange,
"Assarpai, Assarpai!"
Immerwährend sprach er so. -

Da geschah es eines Tages,
Als sie schritt im grünen Walde,
Da geschah es, daß es rauschte
In den Blättern, in den Blumen,
Und es kam ein Mann geschritten,
Wie sie Keinen jemals sah.

Nicht wie Menschen ihres Volkes,
Deren Antlitz braun zu schauen,
Wie der Schnee der Cordilleren
War sein Antlitz, wie die Sonne,
Die im dunklen Wald-See spiegelt,
War sein Blick in ihrem Blick.

Und er faßte ihre Hände
Und er blickte in ihr Auge,
In der Sprache ihres Landes
Sprach er: "Fürchte nichts, Du Holde,
Bin verirrt im grünen Urwald,
Zeige einen Ausweg mir."

"Hoher Fremdling, schöner Fremdling,"
Sprach sie bebend, "bist Du Einer
Von den Göttern?" Sprach er lächelnd:
"Bin ein Mensch, Alonzo nannten
Mich die Eltern, die mich zeugten
Jenseits über'm Ocean." -

Und es kam der Mond des Abends
Und es kam nach ihm die Sonne,
Blickten in das Thal von Quitto,
Fanden nicht mehr, küßten nicht mehr
Assarpai's dunkle Augen,
Andre Lippen küßten die.

In dem Thal von Quitto blühten
Tausend Blumen, heißer blühten
Assarpai's dunkle Wangen,
Süßer kos'ten ihre Lippen.
"Liebst Du mich?" so frug sie leise,
"Immer," sprach er, "immerdar."

Von den Blumen, von den schönen,
Brach die schönste Assarpai,
Gab sie scheidend an Alonzo:
"Wie die Blume hier verwelket,
Also wirst Du mich vergessen." -
"Nimmer," sprach er, "nimmermehr."


II.
Finster grollend saß Pizarro,
Der Eroberer, im Zelte;
Von den Anden bis zum Meere
Alles Land war ihm gehorsam,
Nur ein Einz'ger widerstand ihm,
Nur den Inka zwang er nicht.

Wie der Kondor des Gebirges
Saß der Inka in den Bergen,
Wie der Kondor stieß er nieder,
Spanier waren seine Beute,
Und es dampfte, wenn er kämpfte,
Roth das Kastilianer-Blut.

Aber unter seiner Ferse
Lauerte die böse Schlange,
Und es schlich sich ein Verräther
Zu Pizarro und er sagte:
"Willst den Inka Du bezwingen,
Fange seine Tochter Du.

Seine Tochter zu erlösen,
Seine schöne Assarpai,
Wird er willig Reich und Krone,
Seine Schätze, seine Waffen,
Alles wird er willig geben
Für das vielgeliebte Kind."

Und es ward im Heer verkündet
Also in des Königs Namen:
"Wer da fängt des Inka Tochter,
Dem soll königlicher Lohn sein,
Aus Kastiliens altem Adel
Wähle er sich das Gemahl."

Als Alonzo dies vernommen,
Finster brütend schlich er einsam
Und es griff in seiner Seele
Die Verderberhand des Bösen,
Alle Herrlichkeit der Erde
That sie auf vor seinem Blick.

In dem Beichtstuhl kniet' er nieder,
Und es stammelte die Zunge,
Als er fragte: "Muß man halten,
Was der Heidin man versprochen?"
Heiser flüsternd kam die Antwort:
"Solch Versprechen bindet nicht."


III.
In dem stillen Thal von Quitto
Wandelte des Inka Tochter,
Da, von ihrer Schulter plötzlich
Schwang empor der Papagei sich:
"Assarpai, Assarpai!"
Also schrie er voller Angst.

Und es krachte in den Büschen
Und es kamen wilde Männer,
Weiße Männer, bärt'ge Männer
Kamen rings von allen Seiten
Und sie sank in ihre Kniee:
"Hilf, Alonzo, meiner Noth."

Und als sie den Namen nannte,
Da von ferne, ohne Regung,
Halb verborgen hinterm Busche,
Sah sie todtenbleich ein Antlitz -
Und sie starrte ohne Thränen,
Denn ihr Blut ward kaltes Eis.

Mit den Stricken, mit den rauhen,
Banden sie die weichen Arme,
Doch sie weinte keine Thräne,
Denn sie fühlte keinen Schmerz mehr,
Seit den einen sie empfunden,
Den Alonzo ihr gethan.


IV.
Und Pizarro, der Erob'rer,
An den Inka schrieb er also:
"Unterwirf Dich, oder sterben
In des Feuers Flammenqualen
Muß Dein Kind, Dein vielgeliebtes,
Assarpai, die ich fing."

Als der Inka das vernommen,
Einen Tag lang blieb er wortlos,
Dann entsandt' er einen Boten
An Pizarro, und er sagte:
"Als ein Mann hab' ich gestritten,
Als ein Mörder kämpfest du.

Wohl, den Vater magst du tödten,
Denn er stirbt mit seinem Kinde,
Doch den König beugst du nimmer,
Und die Tochter eines Königs,
Sterbend wird sie Euch verachten,
Räuber meines Reiches, Ihr."

Wüthend schäumte da Pizarro
Und er hieß den Scheiterhaufen
Emsig thürmen und mit Sorgfalt,
Daß die Flamme, gierig lodernd,
Bittre Qualen ihr bereite,
Ihr, die Keinen je gekränkt.

"Christin sei, und Du sollst leben,"
Sprach der Priester. - "Nimmer," sprach sie,
"Nimmer diene ich dem Gotte,
Dem so böse Menschen dienen,
Wie Alonzo, der Verräther,
An der Liebe Heiligthum."

Festgeschnürt die holden Glieder,
Stand sie an dem Marterpfahle,
Dunkel flossen ihre Locken;
Um den Leib, den makellosen,
Wob die Scham, die jungfräuliche,
Keusch das rosige Gewand.

Da, als sich im Wirbelsturme
Lodernd rings die Flammen hoben,
Rauscht' es, wie von Flügelschlägen
Mächtig über ihrem Haupte:
"Assarpai, Assarpai!"
Scholl es klagend ihr zum Ohr.

Und sie hob das Haupt noch einmal,
Und sie sah den Spielgenossen
Aus der Jugend süßen Tagen,
Und es drängte eine Thräne,
Eine einz'ge, letzte, schwere,
Zitternd durch die Wimpern sich.

"Du sei Zeuge, du, mein Treuer,
Wenn die Menschenzungen schweigen,
Von dem großen Menschen-Frevel;
Fliege hin zu meinem Vater,
Bring' ihm meinen letzten Seufzer,
Seines Kindes letzten Gruß."

Und er flog um ihren Scheitel,
Unaufhaltsam, wüthend kreisend,
Bis ihr Haupt sich niederneigte,
Bis die Flamme das Gefieder
Ihm versengte, und er schwang sich
Kreischend in die Berge fort.


V.
In der Kirche zu Toledo,
In der hohen Kathedrale,
Drängten sich des Volkes Schaaren,
Um den Hochzeitszug zu schauen,
Um zu seh'n, wie Don Alonzo
Donna Sol zum Altar führt.

Unbeweglich an der Pforte
Stand ein Greis, auf seiner Rechten
Saß ein Papagei, ein grauer -
Schnee sein Bart und seine Locken,
Und durchfurcht das braune Antlitz
Wie zerklüftetes Gestein. -

Tönend schallten alle Glocken,
"Und sie kommen, und sie kommen!
Seht die Braut, wie keusch und lieblich,
Doch zur Seite, seht den Bräut'gam,
Wie so todtenbleich sein Antlitz,
Seine Augen, wie so hohl."

Und sie schritten zum Altare;
Schon bereitet stand der Bischof,
Und sie knieten vor dem Priester
Und es funkelten die Ringe -
Da - ein Rauschen wie von Flügeln
Und ein Brausen, wie der Sturm.

Durch die hohen Kirchenbogen
Unaufhaltsam, wüthend kreisend,
Auf und nieder, auf und nieder,
Flog ein Papagei, ein grauer:
"Assarpai, Assarpai!"
Gellend tönte sein Gekreisch.

Von den Knieen sprang der Bräut'gam,
Wahnsinn starrten seine Augen,
"Assarpai, Assarpai!"
Gellend schrie er's durch die Kirche.
Und er stürzte auf den Marmor,
Daß die Stirn ihm blutig troff.

Von den Stufen trat der Bischof:
"Was befällt Euch, Don Alonzo?"
Doch vom Boden sprang Alonzo:
"Fahr' zur Hölle, Du Verdammter,
Denn Du warst es, der mir sagte,
Solch Versprechen bindet nicht."

Mit den Fäusten, mit den wilden,
Packt' er wüthend den Geweihten,
Doch es sanken ihm die Hände
Und es schüttelte der Tod ihn,
"Assarpai, Assarpai!"
Aechzend war's sein letzter Laut. -

Aber über seinem Haupte
Stand ein Greis und dröhnend rief er:
"Also soll ein Jeder sterben,
Der da sündigt, der da frevelt
Wie Alonzo, der Verräther,
An der Liebe Heiligthum."

Blutroth glühten ihm die Augen,
Wie der Rache-Engel Gottes
Stand er furchtbar aufgerichtet:
Schnee sein Bart und seine Locken,
Und durchfurcht das braune Antlitz
Wie zerklüftetes Gestein.

Und er schlang den Papageien
Um die Hand an goldner Kette;
Wie der Rache-Engel Gottes
Schritt er mitten durch die Menge -
Niemand sah, wie er gekommen,
Niemand sah, wohin er ging.

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 177-186)

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Der letzte Gang

An der Thür ihrer Hütte Schön-Rosamund,
Umfing mit den Armen Jung-Pharamund,
Es floß ihr die Thräne vom Angesicht,
"Bleibe", sprach sie, "verlaß mich nicht,
Bleibe, ach bleibe!
Dein Weg ist dunkel, Dein Weg ist weit,
Mein ahnendes Herz verkündet mir Leid;
Vom See herauf, aus dem waldigen Thal
Hat der Todten-Kauz gerufen dreimal,
Die See-Frau stieg aus dem Wasser ans Land
Und bleichet im Mond ihr nebelnd Gewand -
Bleibe, ach bleibe!"
Jung-Pharamund hielt die Geliebte im Arm,
Er blickte schweigend auf ihren Harm,
Sein Herz war erloschen, die Liebe entwich,
Er sprach es nicht laut, er dachte für sich:
"Bleibe nur, bleibe.
Ich hab' Dich geküßt, nun bin ich es müd',
Viel heißer Frau Adelheids Lippe mir glüht,
Der Weg, den ich wandle, ich fürchte ihn nicht,
In Adelheids Kammer da lodert ein Licht,
Das führt mich durch Nacht und vorüber dem See."
Schön-Rosamund ließ er in Kummer und Weh.
"Bleibe nur, bleibe."
Jung-Pharamund kam in den nächtlichen Wald,
Da horch, was war's, was so lieblich erschallt?
Ein flüsternder Hauch, wie die Liebe ihn spricht:
"Verweile, Geliebter, enteile mir nicht;
Bleibe doch, bleibe."
Und siehe und siehe, im wallenden Kleid
Aus den Büschen hervor trat Frau Adelheid.
"Wo kommst Du her zur nächtlichen Stund'?"
Sie drückte die Lippen ihm stumm auf den Mund,
"Wie kalt ist Dein Mund und wie bleich Dein Gesicht?"
Sie umschlang ihn sehnend: "Ach, frage nicht."
"Wo führst Du mich hin in Dunkel und Nacht?"
"Zur Kammer, zur Kammer, wo Liebe wacht."
Und wilder und wilder umschlang sie ihn,
Da rauscht' ihm das Wasser empor zu den Knie'n
Die See-Frau sie küßt' ihn mit lechzender Wuth,
Da schwoll an das stöhnende Herz ihm die Fluth -
Jung-Pharamund tief in den Wellen verschwand,
Im Nebel lag schwimmend der See-Frau Gewand -
"Bleibe nun, bleibe."

Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 209-210)

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Der Odyssee letzter Theil

Und als nun Odysseus zurück war gekehrt
Zu Ithakas Strand an den heimischen Herd,
Als am Faden der Zeit, die da webte und spann,
Das dritte der Jahre zu Ende rann,
Da einstmals in tiefer verschwiegener Nacht
Ist der Held an Penelopes Seite erwacht.
Er reckte das Haupt und lauschete lang -
Was war's für ein Ton, der von ferne erklang?
War's das rauschende Meer, das die Klippen umspült,
Oder war es der Wind, der die Bäume durchwühlt?
Oder war es der Möve verflatternder Schrei,
Die in Wellen sich birgt vor dem stoßenden Weih? -
Er lauschete lang und er lauschete tief -
Eine Stimme war's, die herüber rief,
Ein klagender Sang, sehnsüchtig und schwer,
Hinathmend wie Duft übers nächtliche Meer,
Eine Stimme, die Leib ihm und Seele umfing,
Daß das männliche Herz ihm in Thränen zerging.
Auf sprang er vom Lager: "Ich kenne den Ton,
Vor Zeiten, vor Zeiten vernahm ich ihn schon,
Als ich fuhr übers Meer auf dem rudernden Schiff
Vorbei an dem fluthen-umbrandeten Riff;
Als zum Maste gebunden, doch lechzenden Ohrs
Ich erlauschte die Stimmen des singenden Chors -
Heut kehrt es zurück, ich erkenne den Klang,
Das ist der Sirenen Verderbens-Gesang!"
Er beugte sich tief auf sein ruhendes Weib,
In Wellen des Schlummers sanft wogte ihr Leib,
Von athmenden Lippen ging leise die Luft,
Und er trank von den Lippen ihr schweigend den Duft,
Doch wie er sich neigte und wie er sich bog,
Da war es, als wenn sich ihr Antlitz verzog,
Als senkte das Alter sich starrend und kalt
Herab auf die einstmals geliebte Gestalt;
Die Lippe, die küssend so oft ihn entzückt,
Ward welk wie Frucht, die vom Baume gepflückt;
Der Busen, der schwellend dereinst sich gedrängt,
Er war wie der Quell, den die Sonne versengt.
Ins Haar, das braun ihre Stirne umlockt,
Kam silberner Winter hernieder geflockt. -
Und sehnender, süßer der Sang erscholl,
Ein Sehnen tief in die Seele ihm schwoll.
Und siehe und siehe in schattender Nacht,
Da war's ihm, als wäre ein Leuchten erwacht,
Wie Sternennebel, der flimmert und wallt,
So entschwebte der Nacht eines Weibes Gestalt,
Und er kannte den wonne-umschauerten Leib:
Kalypso war's, das verstoßene Weib -
Hoch über der Wellen rollendem Schaum
So schwebte sie hin wie ein dämmernder Traum.
Vom Scheitel herab bis zum schlanken Fuß
Ihr Leib war ein neigender, beugender Gruß,
Wie ein mahnender Gruß aus vergangener Zeit,
Aus alter verlorener Seligkeit.
Und süßer und süßer erscholl der Gesang,
Da war's ihm, als wenn's ihn mit Armen umschlang,
Da war's ihm, als küßte ein bebender Mund
Ihn tief in des Herzens tiefinnersten Grund.
Er hob sich vom Boden, er wandte voll Hast
Von dem Weibe sich ab, dessen Bild ihm verblaßt,
Aus der Kammer entwich er und sah nicht zurück:
"Hier drinnen ist Tod, und da draußen das Glück!"
Und zum Ufer entfloh er in Eil', in Eil',
Er löste vom Pflocke das hemmende Seil,
Das Boot erfassend mit nerviger Hand
Hinunter riß er das Boot zum Strand,
Die Ruder hing er ins Rudergeflecht,
Er selber der Schiffsherr und selber der Knecht.
Und nun mit treibender Stöße Macht
Wild brach er sich Bahn in die Nacht, in die Nacht.
Ihm flammte kein Stern, ihm lohte kein Licht -
Er fragte nach Sternen und Leuchte nicht,
Der Gesang dort draußen, süß sehnend und schwer,
Er wies ihm den Pfad durch das pfadlose Meer. -
Und da er nun also von Hof und von Haus
Sein Fahrzeug trieb in die Oede hinaus,
Da horch, da von Ithakas heimischem Strand,
Der in nächtlicher Ferne entsank und entschwand -
Als bräche die Wölbung des Himmels entzwei -
Ertönte ein langer verzweifelnder Schrei.
Aus der starrenden Hand ihm das Ruder entsank:
Sein Name war's, der zum Ohr ihm drang.
Sein Name, wie nie er bis heut' ihn vernahm,
Als schrie' ihn das Weh' als schluchzt' ihn der Gram.
Und da er noch saß mit schlotterndem Knie,
Da zum zweiten mal es herüber schrie,
Verzweifelnder noch als das erste mal,
Noch wilder in Jammer, noch tiefer in Qual.
Die Stimme, der lächelnd so oft er gelauscht,
Wenn kosend wie Lenzhauch sein Ohr sie umrauscht,
Penelopes Stimme, geliebt und vertraut,
Verwandelt in furchtbar verklagenden Laut.
Auf sträubte sein Haar, kalt rann ihm das Blut,
Wild griff er zum Ruder und schlug in die Fluth,
Er wußte nicht Pfad mehr, er wußte nicht Ziel,
Sein Boot war der Wellen treibendes Spiel,
Der Gesang dort draußen, süß sehnend und schwer,
Der Gesang war verstummt und ertönte nicht mehr.
Und zum dritten mal übers Wogen-Geroll
Sein Name von drüben zum Ohre ihm scholl,
Nicht mehr der Verzweiflung gellender Laut
Der des Treulosen sündige Seele durchgraut,
Nicht Klageruf, der zum Himmel spricht,
Nur der Ton eines Herzens, das wimmernd bricht;
Nicht Vorwurf mehr, nur schluchzendes Leid,
Nur ein letztes "Fahr wohl in Ewigkeit".
Da erlosch in der Seele der Quell ihm des Lichts,
Da war's, als umgähnt' ihn das ewige Nichts;
Er fiel auf die Planken, dumpf dröhnte das Schiff,
Mit wüthender Hand in die Locken er griff,
Ein Stöhnen kam, und ein Schluchzen danach,
Vom fluthenden Auge die Thräne ihm brach.
"Verflucht sei der Trug, der das Ohr mir belog,
Verflucht sei ich selbst, der ich Liebe betrog!"
Auf die Füße empor an das Ruder er sprang,
Im Kreise gewirbelt das Boot sich schwang;
Hoch bäumten die Wellen und rollten zu Thal,
Doch sein rudernder Arm war Eisen und Stahl,
Die brüllende See schlug über den Bord,
Doch es geht ja zur Heimath, drum fort, nur fort!
Im Purpur-Gewölk aufflammte der Tag -
Noch ein keuchender Athem, ein letzter Schlag,
Und nun und nun ein sausender Schwung,
Zum Ufer hinüber ein fliegender Sprung,
Und dort an dem Felsen, lang flatternden Haars,
Die gebrochne Gestalt, sie war es, sie war's -
Und jetzt, erweckt vom jauchzenden Schrei,
Aufschreckte das Weib, und da kam es herbei,
Zwei Arme umschlangen den sinkenden Leib
Und ein schluchzendes Stammeln "mein Weib! mein Weib!" -
Der Tag war erstanden, die Sonne sah
Herab auf das felsige Ithaka;
Da war kein Lärmen, da war kein Gesang,
Da war nicht Cymbeln- noch Flötenklang;
In der Stille, die rings auf dem Lande schlief,
War ein einziger Laut, süß-heilig und tief:
Zwei Menschenherzen, aus Trennung und Leid
Aufathmend zu schweigender Seligkeit.


Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 214-218)

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In der Sylvester-Nacht

Kehrt ein Jüngling in der Nacht nach Hause,
In der Nacht vom alten Jahr zum neuen,
Kommt vom üppig wilden Bachanale,
Wo man Punsch getrunken und Champagner,
Sinne taumelnd; seine Pulse klopfen,
Wenn er denkt der frechen Weiberschönheit,
Zwischen der er saß als wie im Treibhaus,
Wenn er denkt der rothen heißen Lippen,
Die den würz'gen Becher ihm kredenzten.
Schwül umfängt ihn noch der Duft, der schwere,
Der aus seidenen Gewändern strömte;
Seine Finger spielen in Erinnrung,
Fühlen tastend noch einmal den warmen
Alabaster nackter Frauenschultern -
Sieh - da wandelt in der nächt'gen Straße
Eingehüllt in dunklen Wintermantel
Vor ihm her ein Mädchen. -

Anfangs kaum mit halbem Blick sie streifend,
Sieht er jetzt, daß gleicher Weg sie beide,
Also scheint es, führt; mit raschen Schritten
Wendet sie um jede Straßenecke,
Die er wenden muß zu seiner Wohnung. -
Und da kommt ihm plötzlich ein Erinnern -
Heut zur Stunde sind es ja zwei Jahre,
Als zum letzten male er mit Lenchen,
Mit des alten Kantors jungem Kinde
Arm in Arm gegangen. -

Aus dem Städtchen, wo sie Beide wohnten,
Waren sie vereint hinausgeschritten
In der Nacht vom alten Jahr zum neuen,
Immer weiter, bis hinaus zum Walde,
Dessen hohe, schneebedeckte Fichten
Lange Schatten in den Mondschein warfen.
Also still war's, daß sie ihre Herzen
Schlagen hörten, daß sein leises Flüstern
Als er sprach: "Ich liebe Dich, mein Lenchen",
Widerhall erweckte von den Bäumen, -
Widerhall, der heute ihm zurück kommt
Nach zwei langen Jahren des Verlassens,
Des Vergessens. -

Ja - wie war's denn? - Als mit sanften Armen
Sie sich nestelte an seine Seite,
Als des weichen, lieben, holden Leibes
Wärme er an seinem Leibe fühlte,
Sprühte ihm das Blut, und seine Liebe
Ward zum heißen gährenden Verlangen,
Und er küßte sie mit wilden Lippen.
"Werde mein", so sprach er, "werde mein".
Und die großen nicht versteh'nden Augen
Sah'n ihn an, "ich bin ja Dein", so sprach sie;
Aber heißer an die Brust sie pressend
"Gieb Dich ganz mir", sprach er, "sei mein eigen,
Gieb mir Deinen Leib und Deine Seele,
Es verlanget mich nach Deiner Schönheit."
Da erbebte sie in seinen Armen
Und es sank ihr Köpfchen und sie sagte:
"Vor der Hochzeit?" -

Da zerstoben plötzlich alle Sterne,
Die in seinem Herzen leuchtend standen,
Seine Liebe fiel ihm vor die Füße
Wie ein Blüthenkeim vom Reif getroffen,
Schweigend wandt' er sich, und stumm und schweigend
Führt' er sie zu ihres Vaters Hause.
An der Thür noch standen sie beisammen,
Thränen füllten ihre lieben Augen,
Einmal noch die lieben Arme warf sie
Um den Hals ihm. -

Doch er küßte sie mit kalten Lippen,
Ging von dannen - hinter seinem Rücken
Hört' er schluchzend seinen Namen rufen,
Doch er wandte nicht das Haupt zurück mehr;
Von den Häusern, welche finster standen,
Ging der Widerhall der armen Stimme,
Widerhall, der heute ihm zurück kommt
Nach zwei langen Jahren des Verlassens,
Des Vergessens. -

Und nun sieht er dort das Mädchen schreiten -
Ganz die Art, wie Lenchens schlanke Füße
Sich bewegten - ganz so schwank und zierlich
Wiegte auf dem Nacken sich das Köpfchen.
Gang, Bewegung, Alles - wär's denn möglich -?
Und er hastet, daß er sie erreiche,
Hastig geht auch sie - er schreitet langsam,
Langsam geht auch sie - er steht, so steht sie -
Wenn er weiter geht, so geht sie weiter. -
Immer so das Gleiche. -
Bis er endlich an sein Haus gekommen,
Sieh, da wendet plötzlich sich das Mädchen,
Steht im Flackerscheine der Laterne. -
"Bist Du's Lenchen?" - nickt sie schweigend Antwort,
Blickt ihn an mit großen stummen Augen:
Ja, das sind ja Lenchens süße Augen;
Ihre Blicke haften in den seinen,
Doch ihm ist, als gingen ihre Blicke
Weit hinaus. -

Fragt er stammelnd: "Sprich, was führt zur Nacht Dich
In die fremde Stadt?" Sie lächelt langsam:
"Bin ich nicht Dein eigen?"
"Hast Du Obdach? Willst Du zu mir kommen?"
Nickt sie schweigend; klirrend geht die Pforte,
Gähnend öffnet sich der schwarze Hausflur:
"Fall' nicht, Lenchen, auf der dunklen Stiege". -

Lautlos, ohne Straucheln steigt empor sie,
Gleich, als wäre sie die fremden Stufen
Hundertmal im Leben schon geschritten,
Angelangt im Zimmer, zündet Licht er,
Mitten in dem Zimmer steht das Mädchen -
Sieht ihn an mit großen stummen Augen -
Immer - immer. -

Und er fragt - ihm ist, als schnürten Hände
Ihm die Kehle - "bist Du müde, Lenchen?
Willst Du sitzen?" Schüttelt sie das Köpfchen -
"Willst den schweren Mantel von Dir legen?"

Und sie löst den Mantel, thut ihn von sich,
Nimmt alsdann den Hut von ihrem Haupte,
Lang vom Haupte fließen ihre Haare,
Langsam dann mit bleichen Händen öffnet
Sie das Kleid, die nackten Schultern quillen
Und die weißen Arme aus dem Kleide -
Spricht er staunend: "Lenchen - was beginnst Du?"
Blickt sie groß ihn an und langsam:
"Bin ich nicht Dein eigen?"

Weiter nestelt sie an ihrem Kleide,
Immer weiter, und der weiße Busen
Athmet aus der Haft, die jungen Glieder
Leuchten wie der lichte Schnee im Mondschein,
Und sie breitet ihre weichen Arme
"Wolltest mich zu eigen - bin Dein eigen" -
Und sie naht sich -

Aber schaudernd weicht er rückwärts - rückwärts
Auf den Lippen sterben ihm die Worte,
Nur das Wort, das sie ihm einst gesprochen,
Kommt ihm wieder: "Lenchen - vor der Hochzeit"
Sieh, da geht ein Zucken und ein Zerren
Durch das liebe Antlitz, und die Augen
Werden schwarz wie dunkel tiefer Abgrund:
"Hochzeit", spricht sie, "ist nicht mehr von Nöthen,
Hochzeit mach' ich fürder nicht auf Erden,
Nie mehr - nie mehr -"

Und da ist's, als wehte eis'ger Odem
Von dem bleichen Weib zu ihm herüber,
Das Entsetzen schlägt die wilden Krallen
In das Haupt ihm, schreiend aus dem Zimmer,
Aus dem Hause stürzt er auf die Straße,
Durch die Straßen, durch die todten stillen,
Hin und her, und ohne Ziel und Ende -
Weiter - weiter - weiter. -

In derselben Nacht im kleinen Städtchen,
In der Nacht vom alten Jahr zum neuen,
Rauft der alte Kantor sich die Haare,
Als drei Männer, stumm gesenkten Hauptes,
Ihm sein Lenchen in das Zimmer tragen,
Das sie eben aus dem Strom gezogen,
Wo sie Heilung suchte vom Verlassen
Und Vergessen -.


Aus: Lieder und Balladen
von Ernst von Wildenbruch
Sechste vermehrte Auflage
Berlin Verlag von Freund & Jeckel 1892 (S. 219-224)

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