Geliebte, wenn ich dich entzückt betrachte . . .

Orientalische und fernöstliche Liebesdichtung
in Nachdichtungen von Hans Bethge (1876-1946)
 


Robert Delaunay (1885-1941)
La Fenêtre (Das Fenster) 1912 Musée de Grenoble




Die armenische Nachtigall
Lieder des Nahabed Kutschak
(gest. 1592)



Berauscht

Ich glaube nicht, daß eine Frucht gedeiht
Auf dieser Erde, süßer als die Liebe.
Das schönste Zuckerwerk, durchsetzt mit Mandeln,
Ist Bitternis, verglichen mit der Liebe.
Ich kenne, ganz berauscht durch deine Schönheit,
Die zaubervolle Süßigkeit der Liebe.
O neig dich meinem Herzen zu: hier schmachtet
Der demutsvollste Sklave deiner Liebe.
(S. 7)
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Qualen

Wo bist du hergekommen, Unbekannte,
Mit deiner Liebe, die mich überflutet?
Du trugest Feuer in den Ärmeln deines
Gewandes, dieses gossest du mit kühnem
Entschluß in meine Brust, du hast die Liebe,
Die in dir tobt, in rotes Gold verwandelt,
Dies schmolzest du im Tiegel meines Herzens, -
Mein Herz ward wund und wehe und zerrissen,
Welch unnennbare Qualen steh ich aus!
(S. 8)
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Auftrag an den Mond

In dieser Nacht bin ich hinausgegangen,
Ich hob das Haupt zum Himmel auf: der Mond
Entschwebte gegen Westen, zaubrisch leuchtend.
Ich sprach zu ihm: "Geliebter Mond, verweile
Ein wenig noch, bevor das Frührot naht,
Zwei Worte laß mich bitten, hör mich an:
Geh vor das Zimmer meiner Vielgeliebten
Und sprich zu ihr: Dein Freund ist da und wartet,
Ihm ist die Seele in den Mund geflattert,
Wo sie die sehnsuchtsvollsten Worte singt ..."
(S. 9)
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Die Heilkräftige

Sieh mich nicht so mit deinen Augen an,
Den mörderischen! Gestern hast du mich
So furchtbar angesehen, daß ich krank ward.
Wenn ich nun sterbe, wird mein Tod auf deinem
Gewissen lasten, darum spute dich,
Komm an mein Lager, gib mir deine Hand,
Und lege deine Wange gegen meine,
Das einzige Mittel, das mich heilen kann.
(S. 10)
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Die Leuchtende

Gott selber hat so strahlend dich erschaffen, -
Gesegnet sei die Frau, die dich gebar!
Kein Licht ist, das so herrlich glänzt wie du,
Auch nicht der Sonne Aureolenkranz.
Nur ein Gestirn möcht ich mit dir vergleichen:
Den holden Stern, der sich "der Hirte" nennt, -
Er steigt in jeder Frühe einsam auf
Und scheidet sieghaft Licht und Finsternis.
(S. 11)
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Die Schlanke

Dein Leib ist wie das Schilfrohr, das am Rande
Des Wassers aufragt, du bist schlank und hoch
Wie der Zypresse ebenmäßiger Wuchs.
Man spricht vom "Wasser der Unsterblichkeit", -
Es rinnt aus deinem Busen, o Geliebte, -
Gesegnet das beneidenswerte Kind,
Das einst von dieser Quelle trinken darf!
(S. 12)
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Heller Tag

Uns beiden lacht die Jugend, - ist das nicht
Die schönste Zeit, sich liebend zu umfangen?
Dein Leib ist wie ein Bogen; wenn ich dich
Beglückt an meine Brust zieh, biegst du dich.
Dein Busen gleicht zwei Trauben edeln Weines,
Die sich auf deiner Brust entfalteten.
Und deine Kehle ist der Morgen: immer,
Wenn ich sie mir enthülle, sie zu küssen,
So leuchtet heller Tag vor mir empor.
(S. 13)
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Aufforderung

Tiefschwarz sind deine Augen samt den Brauen
Darüber; deine Stirn ist hoch und breit,
Und deine vollen Wangen schimmern goldig.
Der Glanz auf deiner Haut, der volle Busen,
Den du verhüllst, - was wirst du damit tun,
Wenn dich der Tod einst fortschleppt in das Nichts?
Die Würmer werden alles fressen. Liebste,
Besinne dich, verschwende deine Schätze,
Anstatt sie zu verbergen bis zum Tod!
(S. 14)
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Liebesqual

Durch deine Liebe ward ich einer Wolke
Vergleichbar, die der Sturm in Fetzen riß.
Ich liebe dich mit quälenden Gefühlen,
Die völlig mich zerrütten. Meine Augen,
Die unglückseligen, weinen immerzu,
Sie weinen und verlangen dich zu schauen,
Nur dich und keine Seele sonst als dich!
(S. 15)
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Heisses Verlangen

Selbstlos war meine Liebe stets zu dir.
Tat ich dir jemals Böses? Jeden Morgen,
Wenn übern Horizont die Sonne stieg,
Hat meine Seele nur nach dir geschmachtet.
Du weißt, ich habe Durst nach dir. Ich komme,
Zu trinken von den Wassern deiner Quelle.
Geliebte, kann dein Herz denn nicht begreifen,
Daß du mir nötig bist wie Luft und Licht?

Mein Angesicht ist bleich geworden, - siehe,
Wie mich die Sehnsucht krank und müde macht.
Wenn ich mich jemals über dich beklagte, -
Nimm an, ich hätte nichts gesagt; zuweilen,
Ich weiß es, sag ich Albernes, die Liebe
Hat mir das Hirn verwirrt durch ihre Glut.
(S. 16-17)
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An die Lampe

O Lampe, wie beneid ich dich, du brennst
Vor meiner Vielgeliebten, welch ein Glück,
Und darfst ihr süßes Angesicht betrachten.
O Lampe, daß du Ohren hättest, um
Zu hören meine jammervollen Klagen, -
Du würdest sie der Liebsten überbringen,
Und die Gekränkte würde voller Schrecken
Beeilen sich, mit mir versöhnt zu sein.
(S. 18)
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Lauter Wunden

Als ich die Stadt durchwanderte, fiel mich
Der Hund meiner Geliebten an und biß mich.
Da schalt ihn die Geliebte: Blödes Tier,
Warum verfolgst du gerade diesen, der
Von meinem Feuer schon in Flammen steht
Und durch sein Herz gestoßen – welche Qual! –
Ein ellenlanges Messer mit sich schleppt!
(S. 19)
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Voll Zorn

Ich sah meine Geliebte schlanken Schrittes
Heimwandeln durch die Fluren. Wasserrosen
Pflückte sie hier und da. Mitunter blieb
Sie stehen, sinnend drückte sie die Blumen
An ihre Wangen, und dann weinte sie.

Gott strafe mit Erblindung die Verruchten,
Die mich und die Geliebte trennen wollen!
(S. 20)
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Alles überstrahlend

Geliebte, wenn ich dich entzückt betrachte,
So find ich nichts, was deinem Zauber gleicht.
Die schönsten Mädchen schimmern wie die Sterne, -
Du bist der Mond, der alle überstrahlt.
Man sagt, der reichste Tag des Jahres sei
Der Neujahrstag, er glänzt nur einmal auf:
Heut ist der Neujahrstag mir tausendfältig
Erstanden, denn mein Aug hat dich gesehn!
(S. 21)
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Flehentliche Bitte

Erbarme dich, Geliebte, deines Sklaven,
Der fern von dir und völlig einsam lebt.
Ich weine insgeheim und vor den andern
So schrecklich, daß ich fürchte, meine Augen
Darüber zu verlieren. O ich weiß,
Daß du in deinem Garten Rosen pflegst.
Ich bitte dich, schick einen Zweig davon
An deinen Sklaven. Küssen will ich sie
Und dann auf meine armen Augen legen,
Und keine Träne wird ich weinen mehr.
(S. 22)
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Unmöglichkeit

Die ganze Welt weiß, daß dir meine Liebe
Seit meiner Kindheit frühstem Traum gehört.
Die Liebe, die ich zu dir hege, gleicht
Der Milch der Mutter: sie hat sich verwandelt
In Fleisch und Blut und Knochen, all mein Innres
Ist ausgefüllt damit, solang ich lebe,
Und dich verlassen ist Unmöglichkeit.
(S. 23)
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Verwünschung

Wer mit den Leiden eines Liebenden
Kein Mitleid fühlt, der soll im tiefen Walde
Ohne die heiligen Sakramente sterben,
Die Schlangen sollen ihm den Sarg errichten,
Quakende Kröten sollen beim Begräbnis
Als Küster dienen, und der Rabe stelle
Den Priester dar an des Verruchten Grab!
(S. 24)
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Nur du

Solang mir deine kleine süße Stimme
Auf dieser Erde lacht, wie könnt ich da
Erglühn für eine andre? Sollt ich auch
Entsetzliches durch dich erleiden, immer
Werd ich dich lieben. Wenn der Tod einst naht
Und mich hinweggeführt, sollst du mich begleiten.
Wie gern will ich dem ewigen Feuer mich
Aussetzen und die schwersten Qualen leiden,
Wenn ich dadurch nur dich erlösen kann!
(S. 25)
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An König David

O König David, mächtiger Prophet:
Dir beicht ich meine Sünden, denn ich hoffe,
Durch deine Gnade wird Verzeihung mir.

Ein Mädchen lieb ich, zart wie eine Blume,
Ich liebe sie wie meine beiden Augen,
Sie ist so schön, daß, wenn sie zu dir käme,
Du sie in deine Kammer ließest ein;
Tagsüber würdest du die schönsten Psalmen
Zu ihrem Lobe singen; doch die Nächte
Verbrächtest du im reinsten Glück mit ihr.
(S. 26)
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An einen Fluss

Du fließt dahin mit Raunen, o Gewässer,
Von welcher fernen Quelle kommst du her?
Du wanderst durch die Täler, deine Stimme
Ist voll Geheimnis, flüsternd, sehnsuchtsvoll.
Ich weiß, ich weiß: du bist von Liebe trunken,
Du suchst dir einen Weg von Land zu Land,
Ruhlos und ohne Schlaf in bangen Nächten,
Dem fernen Bilde deiner Liebe nach.
(S. 27)
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Rückkehr in die Heimat

"Ich kehre heim! Ich kehre heim!" frohlockte
Mein Freund, der mit mir in Verbannung lebte.
Ich konnt es noch nicht fassen. Als er dann
Kam, Lebewohl zu sagen, stand ich ganz
Vernichtet da. Er stieg beglückt zu Pferde,
Ich sah ihn voll Verwirrung an und sprach:
"Daß auf den Straßen, welche vor dir liegen,
Rosen und Myrten unter deinen Füßen
Erblühen mögen! Daß in jenen Städten,
Darin du rastend weilen wirst, sich nie
Des Todes Stimme gegen dich erhebe!
Daß immer, wo du unter Menschen ruhst,
Dein Glas mit süßem Wein gefüllt sein mag!
Daß sich die Meere vor dir wandeln mögen
In Saft der Reben und die Fischerboote
In Becher, daß du damit schöpfen kannst ..."
(S. 28-29)
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Sinnlos vor Liebe

Ihr ungezählten Sterne, steigt hernieder
Zu mir für diese Nacht und seid mir gut!
Ihr Weisen dieser Erde, kommt und heilt
Mir meine Wunde, wenn ihr könnt! Ich bin
Sinnlos vor Liebe. Keinen Hafen find ich
Für meines Herzens aufgeregte Barke, -
Wie soll ich meiner Seele Licht und Ruhe
Rückgeben, da mein ganzes Wesen leidet
Und tief in Qualen zu versinken droht?
(S. 30)
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Die Räuberin

Du bist die seidne Schlinge, darin mich
Das Schicksal fing; woher denn kamest du?
Gleich strahlend hellen Lampen in der Nacht
Erglänzen deine Augen, deine Brauen
Sind wie die Goldfassung der Diamanten,
Und deines Mundes Herrlichkeit verwirrt mich,
Denn weißen Perlen, funkelnden Rubinen
Sind deine Zähne, deine Lippen gleich.
Der Anblick deiner Schönheit raubte mir
Den Atem und die Seele, - darf ich hoffen,
Erhabne, hoffnungslos Geliebte, daß du
Mir die geraubten Güter wiederschenkst?
(S. 31)
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Abschied

Wen hat das dunkle Schicksal je verdammt,
Die eigene Geliebte fortzuschicken,
Um sie auf ewig zu verlieren? Mich!
Ich habe durch die wilden Berge sie
Trauernd geleitet bis an jene Stelle,
Wo wir uns trennen mußten; weinend hab ich
In das Gebirge mich zurückgewendet,
Die Täler sprach ich an als Zeugen, und
Der Hingeschwundenen rief ich qualvoll nach:
"Wohin du deine Schritte lenken mögest,
Soll dich das Glück begleiten, o Geliebte!
Mir ist nur eines noch bestimmt: um dich
Zu weinen bis an meinen letzten Tag."
(S. 32-33)
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Dein Bildnis

So groß ist meine Liebe, daß ich mir
Aus blankem Silber eine Feder schnitt,
Mit der ich in die Haut des rechten Armes
Die Linien deines Angesichtes zog.

Bei Tag blick ich nun dein Bildnis an
Und taumle fast vor Trunkenheit der Liebe,
Bei Nacht ruht meine Wange auf dem Arm
Und träumt, sich an dein Angesicht zu schmiegen,
Und ganz beseligt wach ich morgens auf.
(S. 34)
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Nächtliche Zwiesprach

In dunkler Sturmnacht irrte unruhvoll
Über den Friedhof eine arme Seele
Und fluchte auf den Körper in der Erde,
Mit dem sie einst verbunden war. Da raunte
Der Körper aus der Tiefe seines Grabes
Und ließ der Seele bösen Fluch verstummen:
"Wir beide waren's, die gesündigt haben,
Wir beide tragen fürchterliche Schuld.
Ich, der aus Erde stammte, mußte wieder
Zur Erde; deine eigenen Sünden machen,
Daß du jetzt ruhlos durch das Ewige schweifst."
(S. 35)
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In strahlendem Gewande

Ich sagte dir schon oft: trag nicht die Kleidung
Des armen Volkes, denn sie steht dir nicht.
Dir ziemt ein seidenes Gewand, durchwoben
Mit Fäden echten Goldes: das leg an.
Wenn du mit deinen feinen Schritten drauf
An mir vorüberschwebst, dem Staunenden,
Wirst du mir köstlicher erscheinen als
Ein Weinberg, der voll süßer Trauben hängt.
(S. 36)
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Die Nachtigall

Im ersten roten Frühlicht dieses Tags
Hört ich den Sang der kleinen Frühlingsvögel.
O meine lieben Sänger, - eine Stimme
Ist zaubervoller als die Stimmen alle
In Baum und Hag: das ist das trauernd-süße
Geschluchz der Nachtigall; die Holde flötet
Nur Liebeslieder, - dort im Rosenbusche
Sitzt sie versteckt, mein lauschend Ohr ist trunken,
Und Tränen weint mein sehnsuchtsbanges Herz ...
(S. 37)
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Klage des Liebenden

Genossen meiner Jugend, hört es an,
Was ich erfuhr und was die Zunge mir
Gelähmt hat, so daß meine Lippen stammeln, -
Die Liebste hat die Treue mir gebrochen;
Die Tränen, die von meinem Antlitz rannen,
Verwandelten in Blut sich; überall,
Wo sie die Erde netzten, wuchsen Bäume,
Nun kommen Vögel sich daraufzusetzen
Und stimmen dumpfe Klagelieder an.
(S. 38)
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Magische Schönheit

Das Glänzen deines Auges entstammt dem Meer,
Das Dunkel deiner Augenbrauen stammt
Aus einer nächtigen Gewitterwolke,
Und zauberische Rosenblütenblätter
Verklären deiner Wangen weiches Rund.
Wo du erscheinst, ist es nicht nötig, Kerzen
In Brand zu setzen, magisch geht ein Leuchten
Von deiner Brust aus; triffst du an die Bahre
Eines Verstorbnen, so erhebt er sich
Und blickt mit Dankeslächeln zu dir auf.
(S. 39)
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Von der Freundschaft

Ich habe diese Welt durchwandert, - niemals
Hat meine Seele einen wahren Freund
Gefunden. Da besann ich mich und stärkte
Die Kräfte meines jungen Armes, und
Mein Arm erwies sich als mein bester Freund.

Heut weiß ich dies und sag es klar: Solange
Man meines Armes Kräfte fürchtet, hab ich
Auch viele Freunde, die mir willig dienen.
Wenn erst die Kräfte meines Armes schwanden,
Wird auch kein Freund mehr mir zur Seite stehn.
(S. 40)
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Kleiner Dialog

O Schönste, mein verlangen ist, mit dir
Zu sprechen, doch ich wag es nicht aus Angst,
Denn du bist reich, und ich bin arm und niedrig.

"Freund, sprich getrost, und habe keine Furcht,
So viele Reiche sind schon arm geworden,
So viele Töchter reicher Väter gaben
Voll Liebesglück sich armen Männern hin, -
Drum rede, rede, habe keine Furcht."
(S. 41)
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Der Verlassene

O Berge! Täler! Wißt es: die Geliebte
Ist mir entschwunden. Felsen! Rosenbüsche!
Hält sie in euren Winkeln sich versteckt?
Ihr Brücken mit den steinernen Geländern,
Ist sie auf euren Rücken fortgeeilt?
O Qual! O Qual! Indeß ich ahnungslos
Im Schlaf lag, von ihr träumend, hat sie sich
Erhoben und ist fort; ich irre haltlos
In dunkler Einsamkeit, - was fang ich an?
(S. 42)
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Nacht und Morgen

O Nacht, entschwinde nicht! Bleib, dehne dich
Zu einem ganzen Jahr aus, wenn du kannst,
Zu tausend Jahren werde, wenn du kannst,
Denn meine schlanke Freundin ruht bei mir.
Du aber, Morgen, flieh! Aufdringlich ist
Und grell dein Licht. Wie wärst du mir willkommen,
Da du mich von der Liebsten trennen willst?
(S. 43)
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Neidisch

So schlank und zart wie eine junge Blume,
Kommst du zur Quelle, deinen Durst zu stillen.
Von deinem Busen geht ein Mondstrahl aus
Und macht das Wasser leuchtender und klarer.
Glückselig, wer in der verflossenen Nacht
In deinen Armen lag und dich umfaßte
Und deines Mundes Süßigkeit genoß.
(S. 44)
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Das schwache Herz

Den Fels blick an, und hab mit mir Erbarmen:
Nichts Härtres ist als wie ein Fels, und dennoch
Schleift ihn das Wasser ab im Lauf der Zeiten.
Die Eiche lebt wohl hundert Jahre, dennoch
Ragt sie voll Angst, vom Sturm gefällt zu werden.
Mein Herz ist nur aus Fleisch gemacht, - wie könnt es
Der Liebe wildem Ansturm widerstehn?
(S. 45)
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Überall du

Wo kamst du her, die du den Glanz der Blumen
An Schönheit übertrahlst? Du tratest plötzlich
In meine Seele, die nun ruhlos flattert,
Du hast mein Herz durcheilt und gibst es nicht
Mehr frei, du bist emporgestiegen in
Mein Haupt und wohnst nun tief in meinen Augen,
Die nur noch Eines klar erblicken können
Im weiten Umkreis dieser Erde: Dich!
(S. 46)
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Hoffnungslose Liebe

Wer ohne Hoffnung liebt: der Unglückselige
Mag sich ein Grab mit eignen Händen schaufeln,
Er mag sich lebend betten in die Grube,
Und wo sein Herz sitzt, mag er eine Öffnung
Nach oben lassen, daß die Purpurflamme
Emporschlägt in das Freie und die Leute,
Welche vorübergehn, mitleidig flüstern:
Dort in der Tiefe brennt ein Liebender.
(S. 47)
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Die Traube auf ihrem Busen

Am Fest der Himmelfahrt kam meine Freundin,
Die mit dem blonden Haar, in meinen Garten,
Und feinen Gangs trat sie zum Weinstock hin.
Sie pflückte eine Traube, öffnete
Ihr Brusttuch, und am Busen barg sie still
Die goldne Frucht. Da sie das Tüchlein hob,
Fiel heller Glanz von ihres Busens Schönheit
Ringsum in die beseligte Natur.
Die Traube aber sprach zu Weinstock so:
"Die Sehnsucht meines Herzens ward erfüllt, -
Ein einziger Tag am Busen dieser Schönen
Ist köstlicher als tausend Tage sind,
Vertrauert in dem Dunkel deines Laubs."
(S. 48-49)
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Erkenntnis

Schlank ist dein Körper wie ein Weidenzweig,
Süß zwischen deines Busens edeln Hügeln
Erblüht ein Traum. Schon viele sind gestorben,
Da sie zu sehr dich liebten. Ich auch werde
An dir zu Grunde gehn, ich weiß es wohl,
Dagegen ist kein Mittel. Heiter sterbend
Zum Opfer bring ich meine Seele dir.
(S. 50)
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In Flammen

Das wilde Feuer meiner Liebe macht,
Daß ich dem sommerlichen Sande gleiche,
Der glühend in der goldnen Sonne schmachtet,
Lechzend nach einem Tropfen Regen. – Ach,
Durch innige Bitten hab ich dich bewogen,
Daß du die Lippen reichtest mir zum Kuß.
Nun aber steht mein armes Herz davon
So fürchterlich in Flammen, daß der Sand
Der Wüste selbst noch kühl dagegen scheint.
(S. 51)
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Die wilde Taube

Sieh, ich bin eine wilde Taube, - fange
Mich, wenn du kannst, du ungeduldiger Mann!
Ich eile flugs, mich einem andern Volke
Von Tauben beizumischen, - finde mich
Dann wieder, wenn du kannst, und wenn du gar
Ein Bauer mir aus Gold errichten wolltest,
Es lockt mich nicht, ich bleibe wild und frei.
Und steht die ganze Welt auf, dir zu helfen:
Du zwingst mich niemals in dein goldnes Haus!
(S. 52)
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Stimmen

Heut morgen, da der junge Tag anbrach,
Hört ich der Quelle liebliches Gemurmel.
Es rührte mir ans Herz, doch fühlt ich wohl:
Die Stimme eines liebevollen Mädchens,
Sei es auch ungetreu, ist reizender
Für den Geliebten, der an ihrer Seite
Gebettet liegt und seine Wange gegen
Die ihre preßt und seine Hand beseligt
Auf ihrem weißen Busen ruhen läßt.
(S. 53)
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Verjagt

Der Kuß, den mir dein Mund so freudig gab,
War süßer als die Früchte, die auf Erden
Und in den Schiffen auf dem Meere sind.
Doch war er ähnlich jener bösen Frucht,
Die ehmals Adam, unser Ahnherr, aß.
Da er gekostet hatte, ward er aus
Dem Paradies verjagt. So ward auch ich
Verjagt von deines Busens weißen Hügeln.
(S. 54)
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Klagen

Süß war und lieblich ihrer Stimme Klang,
Wie Datteln und wie Mandeln ihre Lippen,
So sanft und klein ihr Mund. Daß tausend Dornen
Eindrängen in die Augen jener Schufte,
Die schuld sind, daß sie mir entrissen ward.
Weh mir, weh mir! Sie ist entschwunden! Berge
Und Täler haben sie mit mir bejammert,
Himmel und Erde tönten davon wieder,
Der Sterne Licht erlosch in Dunkelheit.
(S. 55)
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Geburt und Tod

Am Tag, da du geboren wurdest, weintest du,
Indessen alle, die dich sahn, voll Freude waren.
Ich weiß: die Tage deines Lebens sind so rein,
Daß du dereinst, wenn deine Todesstunde naht,
Wirst lächeln dürfen, während alle, die dich kennen,
In Tränen sind aus tiefem Gram um dich.
(S. 56)
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Königin der Schönheit

Die Sonne, welche diese Welt erleuchtet,
Ist deine Sklavin. Deine weißen Brüste
Sind zart als seien sie aus Milch gemacht.
Muskat hat seinen edeln Wohlgeruch
Vom Dufte deiner feinen Haut geliehen.
Du hast in einem Innern einen Garten
Süßer Orangenfrüchte. Daher schimmert
Die Stimme deines Munds so süß und rein.
(S. 57)
_____



Phantasie

Ich möchte für dich sterben! – Eine Flechte
Von deinen Haaren schnittest du dann ab
Und stecktest sie in Brand wie eine Fackel
Und höbst sie hoch und suchtest mich damit.

Du kämest auf den Friedhof, wo ich schlafe,
Und deine Augen füllten sich mit Tränen,
Du würdest jammern, würdest meinen Hals
Mit deinen Armen heiß umschlingen wollen, -
Doch kalten Stein nur fände dort dein Kuß.
(S. 58)
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Gleichnisse

Wenn meine Liebste aus dem Haus des Vaters
Hervortritt, muß ich an ein Meerschiff denken,
Das rauschend aus dem Hafen treibt in See.
Sie wallt in grünem schimmerndem Gewande,
Mit zartem Schleier ist ihr Haupt bedeckt,
Ihr Atem gleicht der köstlichen Essenz,
Die man aus Ambra macht. Ihr süßes Antlitz
Ist ähnlich jener golddurchwirkten Seide,
Die aus dem Land der Franken zu uns kommt.
(S. 59)
_____



Rache am Hahn

Kaum daß wir liebend uns umschlungen hatten,
Da rief der Hahn und kündete den Morgen
Mit seinem unmelodischen Geschrei.
Das Messer diesem Vieh und an den Bratspieß
Und Feuer angelegt, um ihn zu rösten!
Dann wollen wir ihn nehmen und ins Tal
Hinüberwandern, ihn in Stücke teilen
Und ihn verzehren, einsam, du und ich.
Aus seinen weißen Knochen aber wollen
Wir einen kleinen Liebestempel bauen,
Und seine bunten Federn sollen bilden
Des kleinen Liebestempels Kuppeldach ...
(S. 60-61)
_____



Lobpreisung

Das Glänzen deiner großen Augen ist
Dem Meere zu vergleichen, das am Strande
Ägyptens schimmert, deine langen Haare
Sind wie die Wogen, die der Wind bewegt.
Du übertriffst an Schlankheit noch die Rebe,
An Üppigkeit den Paradiesesapfel.
Du bist noch strahlender als die großen
Armenischen roten Rosen, die die Welt
Mit ihrem märchenhaften Duft erfüllen.
(S. 62)
_____



Liebeskrank

O ich bin krank. Komm zu mir, meine Liebe,
Doch komm allein, inständig bitt ich dich,
Führ keinen Arzt an meine Lagerstatt.
Was soll mir denn ein Arzt! Denn du, nur du
Kennst alle meine Qualen. Liebste, komm,
Ich will den Schlüssel meiner Brust dir reichen, -
Du öffnest und trittst leuchtend in mein Herz,
Und alle meine Mühsal ist vorbei.
(S. 63)
_____



In Flammen

Ich sprach: "Nun will ich weit von dir hinweg
Ins Weite wandern, daß mein armes Herz
Von seiner Liebe Qualen sich erhole."
Wohin ich aber meine Schritte lenkte,
Nur wilder ward der Liebesbrand in mir.

Wer Feuer nötig hat, der komm herbei,
Daß ich ihn von dem Überflusse spende;
Doch üb er Vorsicht, daß er sich nicht selber
Entzünde an den zügellosen Flammen, -
Denn meines Herzens Brand ist fürchterlich!
(S. 64)
_____



Der Neidische

Du Tochter edler Eltern, zarte Knospe
Aus Gold, du schlankgewachsner Palmbaum du!
Dein Atem weht gleich einer Weihrauchwolke,
Dein Haar hängt voll herab, so wie die Trauben
Mit üppigem Gedräng am Weinstock hängen,
Geringelt fällt dein Haar und riecht nach Mandeln,
Dein Mund ist klein und rund wie eine Pflaume,
Spielzeug der Liebe du, - o wie beneid ich
Den Mann, der deine Schönheit pflücken darf!
(S. 65)
_____



Die Locke

Du Liebste ohnegleichen, - keiner Mutter
Ward je von Gott vergönnt, der trüben Erde
Ein Kind zu schenken, zauberhaft wie du.
Vom schwarzen Haar, das deinen Hals umringelt,
Schneid eine Locke ab und schenk sie mir.
Ich wandre in die Fremde. Jedesmal,
Wenn sich die Sehnsucht meines Herzens dort
Mit dir vereint, will ich die Locke nehmen
Und gegen meine Wange pressen, und
An deinem Hals zu atmen wähne ich.
(S. 66)
____



Bittgebet eines Mädchens

Ich fleh dich an, mein Gott: Beschütze alle,
Die in der Fremde weilen. Mein Geliebter
Wandert in fernstem Lande, wilde Sehnsucht
Nach seinen Küssen brennt in meiner Brust.
Gib, daß er bald zurückkehrt in die Heimat,
Nur er kennt meine namenlosen Schmerzen;
Darf ich erst meine Wange wieder an
Die seine pressen, will ich meine Seele
Freudig veratmen in die Ewigkeit.
(S. 67)
_____



Verwundet

Du Schönste! Liebste! Paradiesesapfel!
Du bist aus Zuckerrohr gemacht, du bist
Noch zaubervoller als die Schönheit selber,
Du hast aus deinen schwarzen Augenbrauen
Gefertigt einen Bogen, deine Augen
Sind ein geschickter Bogenschütze, der
Mein Herz verwundet hat. O Wehe! Wehe!
Wo find ich Heilung von so wilder Qual?
(S. 68)
_____



Am frühen Morgen

Am frühen Morgen stand ich auf, die Liebste
Demütig zu begrüßen. Auf der Straße
Schritt sie entgegen mir, ihr Antlitz glänzte,
Wie eine Rose glänzt im grünen Laube,
Wenn sich das erste Licht der Morgenfrühe
Im Hauch der rosa Blütenblätter bricht.
(S. 69)
_____



Wunsch

Ich möchte, daß das Weltmeer sich in Tinte
Verwandle, alles Schilfrohr an den Flüssen
Möcht ich verwandelt sehn in Schreibgerät.
Dann mögen alle Weisen, alle Mönche
In mächtigen Folianten niederschreiben
Die Liebesqualen, die mein Herz durchtoben, -
Ergründen werden sie die Qualen nie.
(S. 70)
_____



Ihre Augen

Viel schöne Frauen wandern durch die Welt,
Doch keine, die so strahlend ist wie du.
Du bist so hold, daß selbst die Königin
Ägyptens nicht an deine Schönheit reicht.
Die Brauen unter deiner weißen Stirne
Sind hoch gewölbt wie Bogen einer Kirche,
Und deine Augen sind die ewigen Lampen,
Die, in den Bogen hängend, himmlisch glühn.
(S. 71)
_____



Das Ende

Grausames Schicksal: allen Menschen ist
Der Tod gesetzt als Ziel; dann strecken wir
Uns in dem Kerker unsres Grabes aus,
In das durch keine Fenster, keine Tür
Ein Lichtstrahl dringt. Die Schlangen aber zischeln
Zu ihrer jungen Brut: "Herbei! Herbei!
Laßt seine Zunge uns zuerst verzehren,
Die von so vielen Menschen Übles sagte,
Und dann sein Fleisch, bis seine Knochen liegen
In abgenagter Blöße, schaudervoll ..."
(S. 72)
_____



Aufs engste verbunden

In Blut hat deine Liebe sich verwandelt,
Das flammend sich ergoß in meine Adern,
Und deine Seele hat sich aufgeschwungen,
Sie flog zu meiner Seele und ist ganz
In ihr ertrunken. Zücken wollt ich trotzig
Den Dolch und sagen: "Geh!" zu deinem Blute, -
Wie aber kann man denn den Dolch eintauchen
In seine Adern, und wie kann man
Zu seiner eignen Seele sagen: "Geh!"
(S. 73)
_____



Narr und Weiser

Hier ist ein Ratschlag, - folg ihm, wenn du klug bist:
Geh nie mit einem ausgemachten Dummkopf,
Und liebt er dich auch innig, an die Arbeit.
Der Dummkopf ist dem Feuer zu vergleichen,
Das jedes Ding zerstört, daran es rührt.
Der Weise ist dem Wasser zu vergleichen,
In dessen Spuren alles keimt und aufblüht.
(S. 74)
_____



Habe Mitleid!

Ich bin an dich verloren, meine Liebe
Ist ein unlöschbar Feuer, und mein Herz
Erzittert gleich dem Laub im Wind des Herbstes.
Die Tränen, die von meinen Wangen fließen,
Sind wie ein Frühlingsregen. Meine Seele
Entflieht aus meinem Leibe ... Habe Mitleid!
Laß mich die Schönheit deines Busens wieder
Wie ehmals kosten, wo ich meinen Körper
An deinen schmiegte, zaubervolle Wonne,
Ich kann nicht leben ohne deine Brust ...
(S. 75)
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Am Morgen

Wenn lächelnd du dein Haus verläßt am Morgen,
Erglänzt du herrlich wie der Sonnenaufgang.
Wenn du zurückkehrst in dein Haus, so hüllt sich
Die ganze Welt in tiefste Dunkelheit.
Sobald die Morgenröte anhebt, nahe
Ich mich der Türe deines Zimmers, flüsternd:
"Komm, daß ich deine Morgenschönheit schaue
Und mit dir plaudre, komm, daß ich umarme
Mit meinen Augen deine süßen Schultern
Und deiner Augenbrauen Lieblichkeit."
(S. 76)
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Bitte des Verlassenen

Ich hatte einen Garten mir bestellt,
In dem ich wundervolle Blumen zog;
Ich habe ihn gehegt mit aller Liebe, -
Er wurde mir entrissen. Wehe, weinend
Irr ich nun einsam durch die rauhen Berge,
Dem Rebhuhn gleich, dem man die Jungen stahl.

Ich hörte sagen, daß du eine Schlinge
Dein eigen nennst, - erhöre meine Bitte:
Leg deine Schlinge für das Rebhuhn aus,
Daß es sich darin fängt und untergeht.
(S. 77)
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Wehrlos

Wie oft hab ich ihr strahlendes Gesicht
Betrachtet in Verzückung und in Liebe!
Wie oft hab ich mein Haupt beglückt gelagert
Auf ihres Busens schwanenweicher Wölbung!
Nun hab ich ihr gesagt: "Du kannst dich nicht
Mehr wehren, holde Liebste, gib es auf;
Dein ganzes Wesen ist mir schon verfallen,
Ich habe einen Trunk dich schlürfen lassen,
Der ganz dir die Vernunft nahm, so wie mir."
(S. 78)
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Seliger Tag

Heut bin ich glücklich, wie ich niemals war.
Meine Geliebte kam, mich zu besuchen, -
O tausendmal gepriesen sei der Tag!
Nun will ich schöne Teppiche aus Sammet
Vor deine Füße breiten, alle deine
Gespielinnen lad ich zu Gast. Das Meer
Will ich in Wein verwandeln und die Boote
In Becher, - und ein Freudenrausch soll sein!
(S. 79)
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Gebet

Ich rufe Dich, o Gott! Begnade mich,
Das Stammeln meiner Seele anzuhören:
Bewahr die Menschen vor dem wilden Strudel
Der Liebe. Voll Entsetzen ist die Liebe!
Ein Dieb, ein Räuber, ja ein wüster Mörder
Mit Händen und mit Füßen. Hinterhältig
Springt sie uns an, voll Gier nach unsrer Seele,
Sie packt uns bei der Gurgel, reißt uns nieder,
Und ohne uns den sanften Todesengel
Lindernd vors Aug zu führen, schleppt sie uns
Trostlos ins Land der Finsternis hinweg ...
(S. 80)
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Trost

Ich schlief in dieser Nacht, mein Ohr jedoch
Blieb offen und vermittelte dem Herzen,
Was es vernahm. Der süße kleine Vogel
Der Liebe fing zu singen an, mein Herz
Lauschte beseligt und erzitterte:
Denn, horch, die holde Stimme meiner Liebsten
Klang aus der Kehle dieses kleinen Sängers, -
Wer hatte diesen Vogel denn gelehrt,
Daß meines Herzens Jammer Linderung heischte,
Da er so himmlisch nun mich tröstete?
(S. 81)
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Der Verlassene

Ich weine Tag und Nacht. Ich weine so
Entsetzlich, daß aus meinen Augen Blut
Hinabfließt. Ob sie meinen Jammer hört?
Wenn jemand mir von der Geliebten, die mir
Den Abschied gab, ein Wort der Nachricht bringt,
So wird er mir die Seele wiederschenken,
Die meinen armen Körper schon verließ.
(S. 82)
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Die Grausame

In dieser Nacht bin ich hinausgegangen,
Um auf der Liebe Spuren Glück zu suchen;
Da richtete der Tod sich vor mir auf,
Mich zu entführen. "Tod! Furchtbarer Tod!"
Rief ich entsetzt, "Ich bin noch jung, geh weiter!
O gib es auf, mich jetzt schon fortzurufen,
Komm mit, ich werde dir ein Mädchen zeigen,
Die es verdient, daß deine Knochenfaust
Sie anpackt und ins Jenseits schleudert, denn
Sie hält in ihrer Hand das Lebenswasser
Und spendet es mir nicht, die Grausame!"
(S. 83)
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Schicksal

Keine traurigeres Bild ist in der Welt,
Als wenn ein Mensch, der reich war, ganz verarmt.
Er wandert in die Fremde, und dort lebt
Er nun, der Mutter, den Geschwistern fern,
Und sieht er Menschen, die sich lieben, so
Verschleiert er sein Antlitz und enteilt
Mit Tränen. – Wenn ein grüner Baum verdorrt,
Mit welchen Worten spräche man ihm Trost?
(S. 84)
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Wünsche des Verliebten

Dein Busen ist der Garten Eden. Ach,
Wie gern schritt ich hinein, zum Äpfel pflücken!
Und Wein, der deiner Wangen Farbe trägt,
Möcht ich genießen und mich schwer betrinken;
Dann möcht ich meinen Kopf zum Schlummer betten
An deine feinen Brüste. Und da Gott
Zu sterben mir bestimmt hat, möcht ich selig
Auf diesem schwellenden Pfühl hinüberschlafen.
(S. 85)
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Die Schönste

O du Geliebte mit dem Munde wie
Granat- und Mandelblüten! Meine Blume!
Du gleichst der hundertblätterigen Rose,
Nie schenkte eine Mutter dieser Welt
Ein Menschenkind, das dir an Schönheit gleicht.
Es ähneln deine Lippen der Limone:
Sie schaffen Durst und Hunger. Deine Stimme
Ist wie die Stimme einer Nachtigall,
Die ganz berauscht das Lob des Frühlings singt.
(S. 86)
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Ratschlag

Gib jenen deinen guten Rat, die ihn
Zu würdigen wissen, - an den Toren soll
Man seiner Weisheit Lehren nicht verschwenden.
Wenn du dem Klugen einen Rat gibst, wird
Er dich als Freund betrachten, doch der Narr,
Wenn du ihm rätst, sieht nur den Feind in dir.
(S. 87)
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Monde

Unsre Erde zu beleuchten
Rühmst du dich, o gelber Mond.
Sieh: in meinen Armen halt ich
Einen andern Mond; der Erde
Ist er angestammt. Er schmeichelt
Seine Wange an die meine.

Wenn du mir nicht glaubst, so werd ich
Meines Mondes schöne Robe
Vor dir auseinanderspreiten, -
Aber nein! Ich muß befürchten,
Daß du rasend wirst vor Liebe,
Und dann würdest du der Erde
Weniger Glanz bei Nacht verleihn!
(S. 88-89)
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Holdes Bild

Ich sah meine Geliebte: üppig saß sie
Am Rand des Baches, wie der Vollmond schön,
Süß schimmernd gleich der Sonne, reich geschmückt
Wie in der Frühlingsnacht die Sterne sich
Mit Strahlen schmücken; ihre Füße hielt sie
Getaucht in das durchkühlte Wasser, lächelnd
Wusch sie sich ihre schönen, schmalen Hände,
Die rosig wie Granatbaumblüten glänzten,
Und neben ihr stand eine schöne Schale,
Ganz überhäuft mit Zuckerwerk und Früchten,
Davon sie naschte mit Korallenlippen:
So saß sie da, ein märchenhaftes Bild.
(S. 90-91)
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Die Erbarmungslose

Du schläfst auf der Terrasse, o Geliebte,
Dein Busen schenkt den Sternen helleres Licht.
Laß mich in deinen schönen Armen schlummern,
Oder gestatte, daß ich heimwärts geh.

"Ich will nicht, daß du schläfst in meinen Armen,
Ich will nicht, daß du jetzt schon heimwärts gehst.
Ich will, daß du herumirrst, ungewiß,
Bis dich der Morgen blaß und elend findet."
(S. 92)
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Veränderung

Die Straße überquerend, sah ich einen
Schädel am Boden liegen; mit dem Fuße
Stieß ich dagegen; schief sah er mich an
Und lächelte und sagte: Junger Mensch,
Mit deinem frechen Sinn nimm dich in acht:
Noch gestern sah ich aus wie du; betrachte
Mich, wie ich jetzt ausseh, und denke nach.
(S. 93)
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Du und ich

O sehr geliebte Seele! Du bist mir
Das Licht der Welt; ich aber bin das Auge, -
Ein Auge ohne Licht kann nicht bestehn.

Ich bin ein Fisch, o sehr geliebte Seele, -
Du aber bist das Wasser. Seinem Wasser
Entrissen, stirbt der armer Fisch dahin.

Nimmt man ihn freilich aus dem alten Wasser
Und wirft ihn in ein neues Wässerlein, -
Der Fisch lebt weiter, als sei nicht geschehn.

Nicht so mit mir. Wenn man von deiner Seite
Mich dauernd fortreißt, weiß ich weiter nichts
Zu tun als dieses Leben zu beenden.
(S. 94-95)
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Die Liebe

Da einst die Liebe auf die Erde kam,
Ließ sie sich hin auf meinem Herzen. Bald
Schwang sie sich fort und flog von Land zu Land, -
Und dann kam sie zurück. Sie nistete
In meinem Hirn sich ein und bettelte
Um Tränen aus dem Borne meiner Augen, -
Doch meine Augen strömten Blut dahin.
(S. 96)
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Lockung

Solange du mir treu warst, glichest du
Dem taubenetzten Rasen. Dann, sobald
Du mich verlassen hattest, fielen Reif
Und Schnee auf dich herab. Wenn du noch einmal
Zu mir zurückkehrst und mir Treue hältst,
So werd ich mich zu einer Sonne wandeln
Und von dem Himmel meine stärksten Strahlen
Dir niedersenden, bis der grimme Schnee
Für alle Zeiten von dir gewichen ist.
(S. 97)
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Von Liebe überwältigt

Mein Herz gleicht einem weinerlichen Kind,
Ich suche es durch Süßigkeiten zu
Besänftigen, - doch es weint den ganzen Tag
Und hat nur ein Verlangen: dich zu sehen, -
Was soll ich tun, damit es ruhig wird?
Ich zeige meinen Augen alles, was es
An Herrlichkeiten auf der Erde gibt.
Was soll ich tun, da meine Augen nichts
Als dich zu sehen wünschen? – Süße, holde,
Geliebte Seele, wenn mein Leben du
Von mir verlangst, - ich geb es gern dahin.
Nur hab ich Angst, du möchtest meine Augen
Von mir verlangen; aber wie dann sollte
Ich weiterleben, ohne dich zu sehen?
(S. 98-99)
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Lied des Verbannten

Denk ich dem Schicksal der Verbannung nach,
In dem ich schmachte, füllen meine Augen
Mit Tränen sich; ich irre ruhelos
Von Land zu Land, wie Flüsse ruhlos eilen.
Nur Gott weiß, welche Wege meine Füße
Berühren werden, Gott nur kennt die Orte,
An denen ich verweilen soll. Warum
Läßt er mich nicht in tiefster Erde modern,
Wo holder Schlaf des Friedens um mich wär?
Am Tage bin ich wie ein Pfeil: wohin
Das Schicksal mich entsendet, dahin eil ich.
Bei Nacht gleich ich dem Bogen, dessen Sehne
Entspannt herabsinkt: kraftlos lieg ich da ...
(S. 100-101)
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Die Wunder der Geliebten

Ich liebe dein entzückendes Gesicht,
Daneben sich der Mond verstecken muß
Wie eine Sklavin vor dem Glanz der Herrin.

Ich habe Sehnsucht deine feinen Lippen
Zu küssen, neben deren süßem Zauber
Die Süßigkeit des Zuckers bitter scheint.

Des Meeres Wogen sind nicht so gewölbt
Wie deine schwarzen Brauen, die gar herrlich
Gebogen über deinen Augen stehn.

Und deinen roten Mund vergleiche ich
Mit einer kleinen, edeln Flasche, die
Gefüllt ist mit dem feinsten Rosenöl.
(S. 102-103)
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Träumerei

Ich möchte eine kleine Schwalbe sein,
Dann flög ich in dein Zimmer, das wär schön.
Mein Nest würd ich auf der Terrasse bauen
Vor deinem Hause. Wenn die Nacht sich naht,
Würd ich mich zu dir auf das Lager setzen,
Und wenn der Morgen kommt, so kehrt ich wieder
Beseligt in mein stilles Nest zurück.

Ich möchte sein ein Hemd aus Musselin,
Tagsüber deinen Körper zu umschmiegen,
Oder ein seidnes Tuch, das deinen Hals
Schmeichelnd umarmen darf. Ich möchte Wasser
Oder Granatwein sein in deinem Glase.
Du bringst das Glas an deine durstigen Lippen,
Und deine Lippen küssend stürbe ich.
(S. 104-105)
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Wunsch

Sag, wann, geliebtes Mädchen, werd ich endlich
So glücklich sein, die beiden kleinen zarten
Melonen deines Busens zu besitzen?
Dein Busen gleicht dem Meer, das alle Fieber
Besänftigt; eine kleine wilde Ente
Wünscht ich zu sein, um selig einzutauchen
In deines Busens Meer und dort zu baden
Und um darauf, wenn ich der Flut entstieg,
Im Schatten deiner Augenbrauen zu schlafen.
(S. 106)
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Beichte

Niemals, solang ich meiner teuren Mutter
Das Leben danke, hab ich einem Priester
Gebeichtet; immer, wenn ich einen sah,
Wich ich ihm aus und wandte mich beiseit.
Stets aber, wenn mein Aug ein schönes Mädchen
Erspähte, trat ich ihr mit offenen Armen
Entgegen, und ihr weißer Leib ward mir
Zur Kirche, und gebeichtet habe ich
Mit Andacht ihrer liebewarmen Brust.
(S. 107)
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Der Narr

Die Schöne wollte sich entfernen. "Halt!"
Rief ich ihr flehend zu, "du Holde mit
Der rosigen Haut, - geh nicht, verweile noch!"
Da wandte sie sich und entgegnete:
"Wohl weiß ich, daß ich schön bin, - weißt du auch,
Daß du ein Narr bist? Gott gab mir ein Antlitz,
Das wie die Sonne strahlt, - dir gab er Augen,
Auf daß du leidest, wenn du mich betrachtest.
Mir gab er Schönheit, - dir gab er das Feuer,
Daß sich dein Herz an meinem Glanz verzehrt."
(S. 108)
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Der Mond

Geliebter Mond, der du am Himmel wanderst,
Wohin führt dich der Weg durch tiefe Nacht?
Du siehst durch viele Fenster und erblickst
Liebliche Mädchen, die im Schlummer liegen,
Und ihre weißen Hemden sind geöffnet,
Und auf die schönen Brüste fällt dein Glanz
Und wendet sich zurück zum Himmel und
Verdunkelt dort die Klarheit der Gestirne.
(S. 109)
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Vergleiche

Mit einem goldnen Ring vergleich ich dich,
Daran der schönste Diamant erschimmert.
Du bist am Ufer eines klaren Baches
Der Rasen, überperlt vom Morgentau.
In eines Apfelbaumes üppigen Zweigen
Bist du die edle Frucht, - ich bin ein kleines,
Bescheidnes Blatt in deiner holden Nähe
Und fürchte, daß der Herbst kommt, wo man dich
Herabpflückt, während ich, das kleine Blatt,
Verwelke und zerflattre in das Nichts.
(S. 110)
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Totenerweckerin

Man hat nicht recht, o Freunde, wenn man sagt,
Zahme Fasanenweibchen gäb es nicht.
Erst gestern sah ich eins. Glückselig jener,
Der es besitzen darf! Es hatte Brauen
Vom schönsten Schwung, wie Zucker war sein Mund.
Naht sich ein solches Wesen einem Toten
Und breitet seine Arme um ihn aus, -
So regt er sich, und an den schönsten Schultern
Erwacht er wieder in die Lust des Seins.
(S. 111)
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Erlösung

Ich litt, da ich die Tage fern von dir
Verbringen mußte. Mit entbrannter Seele
Irrt ich umher. Da plötzlich, als ich kaum
Noch Hoffnung hatte, bin ich dir begegnet,
Und wie dem Durstgequälten wurde mir,
Der plötzlich einen frischen Quell entdeckt
Und schnell das Kinn hineintaucht und sich labt,
Bis seines Herzens Fieber ruhig wird.
(S. 112)
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Der Verwandelte

Seitdem du, liebliche Granatbaumblüte,
In unser Dorf kamst, bin ich ganz verwandelt,
Du hast mein Herz mit wilder Glut erfüllt.
Nun richte ich die dringlichsten Gebete
Zu Gott, du mögest nicht mehr von uns gehen,
Eng will ich meine Wang an deine schmiegen,
Daß du den Weg vergißt, woher du kamst.
(S. 113)
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Vorsatz

Du Schöne mit dem feinen runden Busen, -
Wann wird mir deiner Liebe Gunst zuteil?
Weh, deine Liebe wohnt im tiefen Meere,
Die Wogen halten treu darüber Wacht.
Ich werde mich in eine flinke Ente
Verwandeln, in des Meeres Tiefen tauchen
Und sie durcheilen, bis ich deiner Liebe,
Der heißersehnten, Herr geworden bin.
(S. 114)
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Lob der Schönheit

Dein Antlitz gleicht dem Monde, deine Haare
Der heiligen Nacht, wie Paradiesesäpfel
Sind deine Schläfen, aber deinen Augen
Entstrahlt ein Glänzen wie vom blauen Meer.
Gleich einem Himmelsbogen wölben sich
Die Brauen deiner Augen, deine Wimpern
Sind Pfeilen gleich, bereit sich in die Herzen
Verliebter zu versenken. Deine Lippen
Glühn wie Rubine, und dein Mund birgt Perlen,
Wie sie der Orient niemals schöner sah.
(S. 115)
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Der Briefschreiber

Ich schrieb dir einen Brief, Geliebte, - nimm
Und lies ihn, und die sehnsuchtsschweren Küsse
Empfinde, die ich in die Zeilen wob.
Warum, warum hat man dich mir entrissen,
Da doch mein ganzes Fühlen dir gehört?
Ein Andrer wurde der Gebieter über
Das Glänzen deiner Arme, deiner Schultern,
Die holder sind als je die Welt sie sah.
Ich schrieb dir einen Brief, Geliebte, - nimm
Und lies ihn, und die sehnsuchtsvollen Küsse
Empfinde, die ich in die Zeilen wob,
Und fühle dieses Dürsten meines Herzens
Nach deinem Lachen, deinem roten Mund!
(S. 116-117)
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Der Verlassene

Du meine erste, meine einzige Liebe!
Du meine Sonne, meine Welt! O du,
Die ich von meiner Kindheit an geliebt, -
Warum verrietst du mich? In Schwarz gekleidet,
Irr ich durch das Gebirge Tag und Nacht,
Dumpf wünschend, daß auch dich das Schicksal treffe,
Daß du so unglückselig wirst wie ich.
(S. 118)
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Unter ihrem Mantel

Wie weiß war deine Kehle und wie weit
Dein Mantel, Liebste ... Wie ein Dieb hab ich
Darunter mich geschlichen; welche Wonne,
Als ich dann deine jungen Arme fühlte,
Die mich umschlossen. Selig rief ich aus:
"Gott, da ich sterben muß, - laß jetzt mich sterben,
An dieser schönsten Stelle auf der Erde,
Des Lebens höchstes Glück hab ich erreicht."
(S. 119)
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Geleitwort (von Hans Bethge):
Hier wird zum erstenmal in Deutschland eine Sammlung klassischer Gedichte dargeboten, die einer der strahlendsten Liebesdichter des Orients sang: Nahabed Kutschak, vom Titel dieses Buches die armenische Nachtigall genannt. Es ist seltsam, daß Kutschak den Deutschen, die sich die Weltliteratur wie kein anderes Volk zu erschließen gewußt haben, bisher so gut wie unbekannt geblieben ist. Denn dieser Sänger ist eine der bezaubernsten dichterischen Gestalten des Morgenlandes, und alle Leidenschaft und alle Demut zugleich sind in den rauschenden Akkorden seiner Liebesharfe eingefangen.

In Armenien stehen seit alters her Volkssänger in Flor, "Aschuchs" genannt, welcher die Lieder der großen Dichter durchs Land tragen und ihre eigenen Schöpfungen, häufig Improvisationen, zum besten geben. Bei den Hochzeiten der Reichen und Armen, bei den öffentlichen Festen, bei den großen Wallfahrten sind sie zugegen. Ihr Schutzpatron ist Johannes der Täufer, und fast alle Aschuchs wallfahrten wenigstens einmal in ihrem Leben zu dem berühmten Kloster in Mukh, in dem der Heilige, von dem sie edlen Schwung und weithinreichende Wirkung ihrer Gesänge erflehen, begraben liegt.
Manche Aschuchs sind blind geboren: diese blinden Sänger beschränken sich zumeist auf den Vortrag religiöser Lieder und werden vom Volk als eine Art Heilige verehrt. Alle Aschuchs spielen die Laute, "Saas" genannt, ein einfach konstruiertes Saitenspiel, viele meistern es mit Künstlerschaft. Manche unter den Volkssängern wissen nicht zu lesen noch zu schreiben, sie lassen sich von älteren Meistern in den Regeln ihrer Kunst unterweisen, und alle sind heimatlos, sie schweifen durch das Land wie einst die Troubadoure in Frankreich, nur daß sie nicht auf Schlössern zu wohnen pflegen, die in Armenien längst zerfallen sind, sondern meistens in den Hütten der Armen. Jeder Aschuchs kultiviert, seinem Talent und Temperament entsprechend, eine besondere Note; die epische Dichtung tritt ganz zurück; im Schwange sind die religiöse, didaktische, Legenden- und Liebespoesie.
Diese Volkssänger sind immer arm. Nichts weiter als die Laute über der Schulter, wandern sie von Ort zu Ort, und besonders willkommen sind sie auf dem Lande im Winter, wenn sich die Bauern von der Arbeit auf den Feldern zur Ruhe in ihre warmen Behausungen zurückgezogen haben. Dann lauschen diese einfachen, von überall herbeikommenden Leute mit Bewunderung und Hingabe den Liedern und Hymnen, die ihnen zumeist willkommener sind als die Gesänge in der Kirche und die Legendenerzählungen der Priester.

Auch Armeniens berühmtester Dichter, Nahabed Kutschak, war ein Aschuch. Wir wissen sonst nichts über ihn, nicht einmal das Jahrhundert, in dem er lebte, ist genau bekannt, vermutlich war es das sechzehnte.
Kutschaks Werk besteht aus einigen hundert kleinen Gedichten, von denen die meisten Vierzeiler sind. Er hat diese prägnante Form, die man als das Sonett des Orients bezeichnen mag, von den Persern übernommen, die sie übrigens bei den Arabern vorgefunden haben. Die Perser haben den Vierzeiler zur populärsten lyrischen Form des vorderen Orients ausgebildet, allen voran Omar Khayam. Kutschak übernahm diese Form und erfüllte sie auf eine souveräne und oft hinreißende Art mit allen Gefühlen der glücklich und unglücklich Liebenden. Es gibt wohl kultiviertere, spirituellere Liebesgedichte in Vorderasien - man denke nur an Hafis -, leidenschaftlichere, glühendere, beschwingtere gibt es nicht. Sie sind bis in ihre feinsten Verfaserungen orientalisch, vielfach überschwänglich in Bildern und Gleichnissen und nicht selten von einer flackernden Raserei der Empfindung. Es ist als brande eine einzige große Liebeswelle durch sie hin. Seligkeit und Verdammnis, Eifersucht, Hingerissenheit, Sehnsucht und Erfüllung, Glaube und Zweifel, kurz alle Lust und alle Qual der Liebenden wogen bunt in diesem immer stürmisch bewegten Meer des Gefühls durcheinander. Allen Gedichten gemeinsam ist der wundervoll lebendige Atem des Rhythmus, das so natürliche, durch keine Hemmnisse des Intellekts aufgehaltene melodische Strömen der Worte. Die Perser sind artifizieller, literarischer, gebannt in den Rahmen einer alten, großen Konvention, - bei Kutschak sind es die reinsten, in den Äther flutenden Töne des Herzens, die uns bestricken gleich einer in schöner Wildnis sprudelnden Quelle oder den Rufen der wilden Taube. Seine Lieder sind volksliedhaft, und viele sind in der Tat zu Volksliedern geworden. Sie sind wie kleine, wild und üppig blühende Rosen, die purpurn an den Rainen wachsen, vom Tau überfunkelt, wo die Mädchen des Volkes sie pflücken, um ihre Brust oder die Fülle ihres Haares damit zu zieren.
Von diesen gleichsam naturhaft schön gewachsenen Gebinden, aus denen die Stimme und nicht selten auch der Schrei des Herzens so tief und rein ertönt, habe ich hundert, die mir die schönsten scheinen, in deutsche Verse zu fassen versucht. Die Vorlagen, in französischer Prosa, verdanke ich Herrn Arschag Tschobanian, dem armenischen Dichter, der mehrere wertvolle Bücher über die Literatur seiner Heimat in französischer Sprache hat erscheinen lassen und in Paris den Diwan Kutschaks auf armenisch herausgab. Herr Tschobanian hatte die Freundlichkeit, mir auch handschriftliches Material zur Verfügung zu stellen, wofür ich ihm zu besonderem Dank verbunden bin.
Eine Reihe der Lieder Kutschaks erscheint hier zum erstenmal in einer Sprache Europas.
Hans Bethge
(S. 122-130)
 


Aus: Hans Bethge Die armenische Nachtigall
Lieder des Nahabed Kutschak
Berlin Gyldendalscher Verlag 1924




 

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