Geliebte, wenn ich dich entzückt betrachte . . .

Orientalische und fernöstliche Liebesdichtung
in Nachdichtungen von Hans Bethge (1876-1946)
 


Robert Delaunay (1885-1941)
Fenêtre sur la ville (Fenster zur Stadt) 1914
Städtische Galerie im Lenbachhaus München
 




Die chinesische Flöte
Chinesische Liebesdichtung



VEREINSAMT
Aus dem Schi-King (12. bis 17. Jh. v. Chr.)

Er ist von den Erlesenen der stärkste,
Er ist der tapferste von allen Kriegern,
Der Vielgeliebte, dem mein Herz gehört!

Wie stolz trägt er die Lanze, hoch zu Pferde
In seines Königs Vorhut! Aber wehe!
Er mußte fern gen Osten in den Krieg.

Ich lasse meine Haare niederhängen,
Es macht mir keine Freude, sie zu pflegen,
Ich gebe sie dem Spiel des Windes preis.

Ich habe viele köstliche Essenzen
Und Edelsteine und gestickte Bänder, -
Doch mich zu schmücken, trag ich keine Lust.

Denn Er ist fern! Ha! Wie die goldne Sonne
Mir weh tut, samt den purpurfarbnen Wolken,
Die so voll Glanz am hellen Himmel stehn!

Ich möchte lieber, daß ein rauher Regen
Herniederrauscht, indessen meine Seele
Sich ganz versenkt in ihren dumpfen Schmerz.

Ich weiß es wohl, wo man die Blume findet,
Die wundertätige, die Vergessen spendet. -
Sie wächst nach Norden hin bei unserm Haus.

Von meinen Händen wird sie nicht gebrochen,
Denn ich will nimmer-, nimmermehr vergessen,
Tobt auch Verzweiflung wild durch mein Gemüt.

Ich liebe die Verzweiflung, die mich tötet,
Denn sie verbindet mich dem strahlend schönen,
Dem Vielgeliebten, dem mein Herz gehört!
(S. 5-6)
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RACHE
Aus dem Schi-King (12. bis 17. Jh. v. Chr.)

"Weh!" lallte sie. "Hörst du den Hahn, der ruft?"

"Nein," sprach er, "nein, die Nacht ist schwarz und tief,
Das war des Hahnes Stimme nicht, Geliebte ... "

"Ich fleh dich an, steh auf, zieh die Gardinen
Beiseit und frag den Himmel, süßer Freund!"

Er sprang empor: "Weh uns! Der Morgenstern
Steigt schon am Horizonte bleich herauf ... !"

"Die Morgenröte -," flüsterte sie bang,
"Nun mußt du fort! Wie soll ich das ertragen?
Ha! Eh du gehst, nimm Rache an dem Unhold,
Der uns so grausam auseinanderreißt!

Nimm deinen Bogen, schieße diesen Pfeil
Dem Hahn ins Herz! "
(S. 7)
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DES MÄDCHENS KLAGE
Aus dem Schi-King (12. bis 17. Jh. v. Chr.)

Freund, ich beschwöre dich, komm nicht durch unser Dorf,
Besteige nicht den Weidenbaum, der unter meinen
Händen gedeiht! Ich darf dir ja mein Herz nicht schenken,
Ich muß mich beugen meiner Eltern Machtgebot.
O du! Es drängt mich, deine Liebe zu erfahren,
Aber den vorwurfsvollen Worten meiner Eltern
Muß ich mich beugen, Freund, in Ehrfurcht und in Scheu.

Freund, ich beschwöre dich, besteige nicht die Mauer
Unseres Hofes! Brich die jungen Blätter nicht
Des Maulbeerbaums, den meine Hände einst gepflanzt!
Ich darf dir ja mein Herz nicht schenken! Dem Verlangen
Der ältern Brüder muß ich folgen. Demutvoll
Muß ich gehorchen ihrem unglückseligen Rat.

Freund, ich beschwöre dich, durchbrich das Gitter nicht
Und reiße meinen lieben Sandelbaum nicht nieder!
Ich darf dir ja mein Herz nicht schenken! Wehe mir!
Der Menschen Lästerzungen sind gemein und niedrig, -
Wie gern wollt ich von dir geliebt sein, süßer Freund,
Doch fürchte ich der Menschen Zungen wie den Tod!

Freund, ich beschwöre dich, vergiß mich armes Weib!
(S. 8)
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HERBST
Kaiser Wu-Ty (regierte 186 bis 140 v. Chr.)

Der Herbstwind tobt, die weißen Wolken jagen
Mit Schwärmen wilder Gänse um die Wette,
Vergilbte Blätter taumeln durch die Luft.

Die Lotosblumen welken ab, die Rosen
Stehn ohne Duft. Mich martert die Erinnerung
An Eine, die ich nicht vergessen kann.

Ich muß sie wiedersehn! Ich mache eilig
Das Boot los, um in ihm das andre Ufer
Des Flusses zu erreichen, wo sie wohnt.

Der Strom geht stark, das Wasser rauscht wie Seide
Und quillt empor und kräuselt sich im Winde, -
Trotz aller Mühe komm ich nicht vom Fleck.

Mir Mut zu machen, heb ich an zu singen,
Doch wehe! meine Schwäche bleibt dieselbe,
Und traurig und in Qualen stirbt mein Lied.

O Liebesglut! Du drängst zu ihr hinüber,
Die mich erfüllt, - ich aber kann nicht folgen,
Ich bin im Herbste, meine Kraft ist aus.

Der Herbst des Lebens weht durch meine Tage, -
Ich sehe in die Strömung und erblicke
Ein Greisenbild erzitternd unter mir.
(S. 10)
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DIE GATTIN
Mei-Scheng (gest. 140 v. Chr.)

Am Ufer dehnt sich heller grüner Rasen,
Und junge Weiden nicken in die Flut.
Das Fenster öffnet sich. In strahlendem
Gewand erscheint die allerschönste Frau
Und blickt tiefatmend in das klare Wasser.
Wie ihre Wangen glühn! Wie ihre Arme
Weiß aus der Seide des Gewandes schimmern!
Ja, sie ist herrlich! Einstmals jubelte
Das Volk ihr zu, da sie als Sängerin
Die Herzen sich der ganzen Welt gewann.
Nun ist sie eines reichen Mannes Gattin
Und trauert, daß sie nicht mehr singen darf.

Hat man ein Kleinod, soll mans gut verwahren.
Herr Gatte, Euer Kleinod hat zwei Füße:
Gebt acht, daß Euch das Kleinod nicht entwischt!
(S. 11)
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DIE HERRLICHE
Gedicht eines Fahrenden (3. Jh.)

Du bist wie eine Zauberin! Die Schritte,
Die deine schlanken Lenden tun, verwirren;
Der Maulbeerbaum umkost dich, dem du nahst.

Pflückst du dir Blumen, fliegen sie beseligt
In deine Hände. Fällt dein Ärmel rückwärts,
So seh ich einen Arm, der himmlisch ist.

Zwei goldne Reifen gehn um deine Knöchel,
In deinem Gürtel prangen blaue Steine,
Ein kleiner goldner Vogel schmückt dein Haar.

Um deinen Hals, der glatter ist als Jade,
Flirrt eine Kette großer, echter Perlen,
Die eine Spange von Korallen schließt.

Wenn sich der Wind in deinen Kleidern fängt,
So bauschen deine Kleider sich wie Wolken,
Darin die Götter durch den Himmel ziehn.

Siehst du mich an, so glüh ich wie die Hölle;
Streift mich ein Hauch von deinen roten Lippen,
So atme ich den Duft der Blume Lan.

Begegnet dir ein Reiter vor den Toren,
So hemmt er seines Rosses wilde Hufe,
Ihm ist, als ob ein holdes Traumbild naht.

Sieht dich ein Hungriger am Straßenrande,
So blickt er auf und läßt die Mahlzeit ruhen
Und staunt dich an und weiß nicht, daß ihn hungert ...
(S. 12-13)

Lan: Orchideenart

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DER GATTE RÜSTET SICH ZUM KAMPF
Unbekannter Dichter

Auf, du mein Weib, steck deine lange Nadel
In deiner Arbeit purpurrote Seide
Und schleppe meine Waffen mir herbei!

Du selber kreuze über meinen Hüften
Die beiden langen Schwerter, daß die Griffe
Aufragen über meine Schultern, groß und schwer.

Da ich mit Stolz an meiner Lanze lehne,
Die lachend, mit der Spitze von Metall,
Den Feinden fürchterliche Wunden schlägt,

Seh ich bewegten Sinns dich vor mir knien!
Jetzt häng an meinen Gurt den schlanken Bogen,
Bald sollen tausend Pfeile ihm entschwirren

Und sollen in der Luft die schönste Bahn
Beschreiben, um sich zischend einzubohren
In der Besiegten blutzerfetztes Fleisch.

Jetzt aber zittre! - Zittre und entflieh!
Dies ist der fürchterliche Blick, mit dem ich
Im Kampfe meinem Feind begegnen werde!
(S. 14)
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DIE EINSAME
Wang-Seng-Yu (6. Jh.)

An dunkelblauem Himmel steht der Mond.
Ich habe meine Lampe ausgelöscht, -
Schwer von Gedanken ist mein einsam Herz.

Ich weine, weine; meine armen Tränen
Rinnen so heiß und bitter von den Wangen,
Weil du so fern bist meiner großen Sehnsucht,
Weil du es nie begreifen wirst,
Wie weh mir ist, wenn ich nicht bei dir bin.
(S. 15)
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EIN JUNGER DICHTER DENKT AN DIE GELIEBTE
Sao-Han (8. Jh.)

Der Mond steigt aufwärts, ein verliebter Träumer,
Um auszuruhen in dem Blau der Nacht.

Ein feiner Windhauch küßt den blanken Spiegel
Des Teiches, der melodisch sich bewegt.

O holder Klang, wenn sich zwei Dinge einen,
Die, um sich zu vereinen, sind geschaffen.

Ach, was, sich zu vereinen, ist geschaffen,
Vereint sich selten auf der dunklen Erde!
(S. 16)
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IN ERWARTUNG DES FREUNDES
Mong-Kao-Jen (8. Jh.)

Die Sonne scheidet hinter dem Gebirg,
In alle Täler steigt der Abend nieder
Mit seinen Schatten, die voll Kühlung sind.

O sieh, wie eine Silberbarke schwebt
Der Mond herauf hinter den dunkeln Fichten,
Ich spüre eines feinen Windes Wehn.

Der Bach singt voller Wohllaut durch das Dunkel
Von Ruh und Schlaf ... Die arbeitsamen Menschen
Gehn heimwärts, voller Sehnsucht nach dem Schlaf.

Die Vögel hocken müde in den Zweigen,
Die Welt schläft ein ... Ich stehe hier und harre
Des Freundes, der zu kommen mir versprach.

Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite
Die Schönheit dieses Abends zu genießen, -
Wo bleibst du nur? Du läßt mich lang allein!

Ich wandle auf und nieder mit der Laute
Auf Wegen, die von weichem Grase schwellen,
O kämst du, kämst du, ungetreuer Freund!
(S. 18)
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DIE JUNGEN MÄDCHEN VON EINST
Wang-Tschang-Ling (8. Jh.)

Von einst die jungen Mädchen ruhen sich
In blühendem Gebüsch und plaudern leise.

"Man sagt," so flüstern sie, "wir seien alt,
Und unsre Haare seien weiß geworden,
Und unsere Gesichter seien nicht
Mehr süß und strahlend wie der junge Mond.
Was wissen wir davon? Die also sprechen,
Tun es aus Schmähsucht! Kann man selber sich
Denn sehen? Freundinnen, nicht unter uns –
Nein, in dem Spiegel herrscht der böse Winter,
Der weißen Schnee auf unsre Haare schüttet
Und unsre Mienen alt erscheinen läßt.

Nur in dem Spiegel herrscht der böse Winter ... "
(S. 20)
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DER PAVILLON AUS PORZELLAN
Li-Tai-Po (702-763)

Mitten in dem kleinen Teiche
Steht ein Pavillon aus grünem
Und aus weißem Porzellan.

Wie der Rücken eines Tigers
Wölbt die Brücke sich aus Jade
Zu dem Pavillon hinüber.

In dem Häuschen sitzen Freunde,
Schön gekleidet, trinken, plaudern, -
Manche schreiben Verse nieder.

Ihre seidnen Ärmel gleiten
Rückwärts, ihre seidnen Mützen
Hocken lustig tief im Nacken.

Auf des kleinen Teiches stiller
Oberfläche zeigt sich alles
Wunderlich im Spiegelbilde:

Wie ein Halbmond scheint der Brücke
Umgekehrter Bogen. Freunde,
Schön gekleidet, trinken, plaudern,

Alle auf dem Kopfe stehend,
In dem Pavillon aus grünem
Und aus weißem Porzellan.
(S. 23)
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AM UFER
Li-Tai-Po (702-763)

Junge Mädchen pflücken Lotosblumen
An dem Uferrande. Zwischen Büschen,
Zwischen Blättern sitzen sie und sammeln
Blüten, Blüten in den Schoß und rufen
Sich einander Neckereien zu.

Goldne Sonne webt um die Gestalten,
Spiegelt sie im blanken Wasser wider,
Ihre Kleider, ihre süßen Augen,
Und der Wind hebt kosend das Gewebe
Ihrer Ärmel auf und führt den Zauber
Ihrer Wohlgerüche durch die Luft.

Sieh, was tummeln sich für schöne Knaben
An dem Uferrand auf mutigen Rossen?
Zwischen dem Geäst der Trauerweiden
Traben sie einher. Das Roß des einen
Wiehert auf und scheut und saust dahin
Und zerstampft die hingesunkenen Blüten.

Und die schönste von den Jungfraun sendet
Lange Blicke ihm der Sorge nach.
Ihre stolze Haltung ist nur Lüge:
In dem Funkeln ihrer großen Augen
Wehklagt die Erregung ihres Herzens.
(S. 25)
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DIE ROTE ROSE
Li-Tai-Po (702-763)

Am Fenster saß ich trauernd, stumm geneigt
Über ein seidenes Kissen, das ich stickte.
Da stach ich mich, - und rotes Blut rann auf
Die weiße, weiße Rose, die ich stickte,
Und eine rote Rose ward daraus.

Wie dacht ich da an dich, der ferne ist
Im Kriege! Und ich dachte, wie auch du
Dein Blut vergießt, - und heiße Tränen stürzten
Mir aus den Augen, und ich weinte lange.

Hei, jetzt vernahm ich Hufschlag eines Pferdes!
Ich sprang empor! Er ists! Da fühlt ich, weh,
Daß es mein Herz war, das so heftig schlug.

Und wieder saß ich, stickte trauernd weiter
Und stickte Tränen in das seidene Kissen,
Die schimmerten wie wundervolle Perlen
Rings um die rote, rote Rose her.
(S. 28)
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DIE TREPPE IM MONDLICHT
Li-Tai-Po (702-763)

Gefügt aus Jade, steigt die Treppe auf,
Mit Tau benetzt, darin der Vollmond schimmert, -
Auf allen Stufen liegt der holde Glanz.

Die Kaiserin in schleppendem Gewande
Schreitet die Stufen aufwärts, und der Tau
Näßt funkelnd des Gewandes edeln Saum.

Sie schreitet bis zum Pavillon, in dem
Das Mondlicht webt. Geblendet bleibt sie auf
Der Schwelle stehen. Ihre Hand zieht sacht

Den Perlenvorhang nieder, - und es sinken
Die lieblichen Kristalle, rieselnd wie
Ein Wasserfall, durch den die Sonne scheint...

Da lauscht die Kaiserin dem Rieseln nach
Und blickt voll Schwermut lange in den Mond,
Den herbstlichen, der durch die Perlen flimmert.

Und blickt voll Schwermut lange in den Mond...
(S. 29)
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LIEBESTRUNKEN
Li-Tai-Po (702-763)

Im Garten des Palastes streift der Wind
Mit weichem Anhauch über Lotosblumen.
Auf der Terrasse, wohlig hingestreckt
In bunte Seidenkissen, ruht der König.
Vor ihm tanzt Si-Schy, funkelnd wie die Sterne,
Schön wie die Schönheit selber, schwebt und schwebt
Und lächelt, lächelt, wunderbar zu schauen,
Bis daß ein süß-begehrliches Ermatten
In ihre Glieder sinkt; die Hüften wiegen
Sich nun nicht mehr; die kleinen Füße ruhn, -
Und schmachtend lehnt sie an den Jaderand,
Den schimmernden, des königlichen Lagers..

Die holde Si-Schy, schmachtend lehnt sie da ...
(S. 30)
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DIE LOTOSBLUMEN
Li-Tai-Po (702-763)

Im Mondlicht glitzern tausend kleine Wellen,
Das helle Grün des Wassers ist wie Silber,
Man meint, es seien ungezählte Fische,
Die auf dem Strom hinab zum Meere ziehn.

Ich gleite einsam in dem leichten Nachen,
Nur hin und wieder reg ich meine Ruder,
Die Nacht und ihre Einsamkeit erfüllen
Mein Herz, mein junges Herz mit Traurigkeit.

Ich seh im Mondlicht tausend Lotosblumen
Mit Riesenblüten, die wie Perlen gleißen,
Ich kose sie mit meinen Bambusrudern,
Sie rauschen auf, als sprächen sie vom Glück.

Sie neigen sich und winken, liebestrunken,
Sie flüstern Trost in meine arme Seele;
Ich blicke ganz beseligt auf sie nieder,
Und meine Schwermut, die mich so bedrückte,
Sinkt wie ein dunkler Schatten von mir ab.
(S. 31)
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LIED AUF DEM FLUSSE
Li-Tai-Po (702-763)

Aus Ebenholz ist meine Barke,
Und meine Flöte ist aus Jade,
Und ihre Löcher sind beschlagen
Mit Ringen aus dem reinsten Gold.

Und Wein! So, wie der Saft der Pflanzen
Mein Seidenkleid von Flecken säubert,
So löscht der Wein die dunklen Flecken
Aus meinem Herzen ganz hinweg.

Ein goldner Krug voll goldnen Weines,
Ein schlankes Fahrzeug auf dem Flusse
Und Frauengunst -: mir ist, ich wäre
Gesellt dem Kreis der Himmlischen!
(S. 32)
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DER FISCHER IM FRÜHLING
Li-Tai-Po (702-763)

Der Schnee ward aufgesogen von der Erde,
Schon sind die Pflaumenbäume weiß von Blüten,
Die Weiden stehn in goldigem Gewand.

Wie flüssiges Silber dehnen sich die Teiche,
Die Schmetterlinge mit den duftigen Flügeln
Ruhn auf den Blumen aus und trinken Tau.

Der Fischer auf dem Kahn im stillen Wasser
Wirft fröhlich sein gestricktes Netz hinaus,
Das jäh zerbricht des Wassers Silberspiegel.

Er denkt an sie, an deren Seite er
Geruht, wie eine Schwalbe in dem Neste
Zur Seite des geliebten Weibchens schläft.

Er denkt an sie und hofft auf seine Netze,
Um Nahrung heimzubringen der Geliebten,
So wie der Vogel seinem Weibchen tut.
(S. 35)
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DAS VERBRANNTE HAUS
Thu-Fu (714-774)

Das sehr geliebte Haus, in dem ich einst
Geboren wurde, ist ein Raub der Flammen
Geworden. Grauer Schutt liegt, wo es stand.

Da stieg ich müd in einen goldnen Kahn
Und hoffte meinen Kummer zu besiegen,
Wenn ich hinausfuhr in die bunte Welt.

Auf meiner schön geschnitzten Flöte hab
Ein Lied ich zu dem Mond hinaufgesungen,
Ein Lied voll Sehnsucht durch die laue Nacht.

O weh, der Mond war traurig, da er so
Mein Lied vernahm. Mit einer großen Wolke
Hat er sein greises Angesicht verhüllt.

Da ging ich zu den Bergen hin. Auch sie
Besaßen keinen Trost für meine Wunden,
Es war umsonst, daß ich zu ihnen sprach.

Da fühlte ich, daß alle meine Lust
Und meiner Kindheit Wunder in der Asche
Begraben lagen, wo mein Haus einst stand.

Ich wünschte mir den Tod. Schon stand ich bleich
Am Meer und beugte weit mich übers Ufer, -
Da fuhr ein weißer Kahn an mir vorbei ...

Erst glaubte ich, es sei der Mond, der sich
Im Wasser spiegelt. Aber nein, es war
Ein weißes Schiff - gelenkt von einer Frau.

O du! O du! Daß dich mein Auge sah
In dieser bängsten Stunde meines Schmerzes!
Jetzt weiß ich wohl, wo mir Genesung winkt.

Jetzt habe ich ein Ziel: dich zu erobern,
Du meine Retterin! In deinem Herzen
Will ich mein Haus von neuem auferbaun!
(S. 40-41)
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DER KAISER
Thu-Fu (714-774)

Auf seinem Thron von neuem Golde sitzt
Der Sohn des Himmels, funkelnd von Geschmeide,
Die Mandarinen hocken um ihn her.

Er glänzt wie eine Sonne unter Sternen,
Die Mandarinen reden ernste Dinge
Mit ernstem Mund und ernst erhobner Hand.

Des Kaisers Sinn ist durch das offne Fenster
Enteilt: dort ruht die Kaiserin, die holde,
In ihrem Pavillon aus Porzellan.

Gleich einer Blüte, wundervoll entfaltet
In zartem Laubwerk: also ruht sie wartend
Unter den jungen Damen der Begleitung.

Sie findet, daß ihr Liebster allzulange
Im Rate weilt. Voll Ungeduld und Sehnen
Bewegt sie ihren Fächer hin und her.

Da trifft ein Hauch von süßen Wohlgerüchen
Mit weichem Flügelschlag des Kaisers Antlitz,
Und voller Unruh fühlt er nur noch dies:

"Mein schönes Weib schickt mir mit ihrem Fächer
Die Düfte ihrer Lippen, die ich liebe.. ."
Und er erhebt sich, schimmernd von Geschmeid,

Und richtet seine Schritte der Behausung
Der Gattin zu ... Die Mandarinen starren
Einander an, verwundert, fassungslos.
(S. 42-43)
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AUF DEM FLUSSE
Thu-Fu (714-774)

Mein Schiff treibt durch das Wasser leicht dahin, -
Ich seh sein Spiegelbild auf klarer Flut.
Am Himmel gehn die Wolken, stumme Wandrer,
Und auch den Himmel seh ich in der Flut.
Wenn eine Wolke an dem blauen Monde
Vorübergleitet, fein wie ein Gedanke,
So seh ich, wie sie unter mir verschwebt,
Ein Märchenbild ...

Mir ist, mein Schiff zieht selig durch den Himmel,
Ich fühle mich den Wolken nah verwandt, -
Und plötzlich weiß ich: Wie der Himmel sich
In diesem Wasser spiegelt, also blüht
Das Bild meiner Geliebten mir im Herzen.
(S. 44)
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DIE FREUNDIN DES FELDHERRN
Thu-Fu (714-774)

Trauernd hat der große Feldherr
Seine Freundin heut verlassen,
Durch das breite Stadttor ritt er
In die Felder zur Armee.

Da er dort in seinem Zelte
Schlief und sehnsuchtsvollen Herzens
Von der Wundervollen träumte,
Drang ein Rascheln an sein Ohr.

Wie ein Rascheln welker Blätter
Klang es, und der große Feldherr
Schreckte jäh empor und stützte
Müd das Haupt in seine Hand.

War es nicht das feine Rascheln,
Das die seidenen Gewänder
Seiner Freundin an sich hatten? -
Und da stand sie, - und er sprach:

"Meine Seele war im Dunkeln,
Aber jetzt ist sie voll Lachen,
Oh! mir ist, daß vom Gebirge
Aller Schnee gewichen sei!"

Also sprach der große Feldherr,
Und es schimmerte sein Auge,
Und er breitete die Arme
Nach der Vielgeliebten aus.

Lächelnd sagte da die Freundin:
"O Geliebter! Weinend saß ich
An dem Fenster meiner Kammer,
Weinend sehnt ich mich nach dir!

Sieh, da nahte sich ein Schwälblein,
Das mein bittres Weinen rührte,
Und es lieh mir seine Flügel,
Und ich nahm sie und flog auf!

Und ich flog mit Windeseile,
Ja, ich bin so schnell geflogen,
Daß die Eile deines Rosses
Im Vergleich zu meinem Fluge

Wie das Schleichen einer Schnecke,
Du mein Freund, erschienen wäre!"
Lächelnd sagte sie's und schmiegte
Sich erschöpft an seine Brust.
(S. 48-49)
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DIE FREMDE
Pe-Khiü-Y (771-846)

In einer Herbstnacht ankerten wir an der Insel
Der Papageien. Silbern leuchtete der Mond
Über dem Fluß, der rauschend durch das Dunkel zog.
Da hörten wir in einem nahen Schiff
Die Stimme eines Menschen, traurig wie der Tod.
Sie schwebte hin und weinte, weinte, weinte,
Wie wir es nie gehört, erlosch und schwieg.

Wir suchten nach dem Sänger, und wir fanden ihn.
Es war ein Weib. Aufschimmerte wie Schnee
Die Jugend ihrer Wangen. An den Mast gelehnt,
Hinreißend lieblich stand die Bleiche da,
Und Tränen rannen ihr im Mondlicht von
Den Wangen nieder, blinkend wie die Perlen,
Und unablässig, immer Tränen, Tränen.

Wir fragten sie, woher sie kam; warum
Ihr Lied so traurig sei; warum sie weine.
Wir fragten nochmals, und sie weinte wieder
Und neigte das Gesicht auf ihre Brust
Und sah uns nicht und sprach kein Wort zu uns, -
Und Tränen rannen ihr im Mondlicht von
Den Wangen nieder, blinkend wie die Perlen...
(S. 51)
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DIE VERSTOSSENE FREUNDIN DES KAISERS
Unbekannte Dichterin

Wie aufgelöst ist meine Seele,
Ich hab geweint, daß meine Kissen
Durchnäßt sind. Ohne Schlaf und Träume
Wälz ich mich nachts auf meinem Bett.

Schon ist die Mitternacht vorüber,
Doch dringen immer noch Gesänge
Und Lautenspiel aus dem Palaste
Des Kaisers an mein wachsam Ohr.

Mein Hals ist zart wie Apfelblüten,
Und schlank wie sonst sind meine Glieder -
Sag, Herr, warum hat deine Liebe
Sich grausam von mir abgewandt?

Ich liege schlaflos bis zum Morgen
Und starre in das Kohlenbecken
Und finde keine, keine Antwort
Auf meiner Fragen wilde Qual!
(S. 54)
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LIEBESGESCHENKE
Unbekannter Dichter

Ich pflückte eine kleine Pfirsichblüte
Und brachte sie der schönen jungen Frau,
Die Lippen hat - o rosiger, beim Himmel,
Und zarter als die feinsten Pfirsichblüten.

Und eine schwarze Schwalbe fing ich ein
Und brachte sie der schönen jungen Frau,
Die Augenbrauen hat, so schlank und dunkel
Wie einer Schwalbe schlankes Flügelpaar.

Am andern Tage war die Pfirsichblüte
Verwelkt, die Schwalbe aber war entflohen
In jene fernen blauen Berge, wo
Der Genius der Pfirsichblüten wohnt.

Jedoch der Mund der schönen jungen Frau
Blieb süß und rosig, wie er vorher glänzte,
Und ihrer Augenbrauen Flügelpaar
Flog nicht davon und ziert sie immerzu.
(S. 55)
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DIE EINSAME IM HERBST
Tschang-Tsi (um 800)

Herbstnebel wallen bläulich überm Strom,
Vom Reif bezogen stehen alle Gräser,
Man meint, ein Künstler habe Staub von Jade
Über die feinen Halme ausgestreut.

Der süße Duft der Blumen ist verflogen,
Ein kalter Wind beugt ihre Stengel nieder;
Bald werden die verwelkten goldnen Blätter
Der Lotosblüten auf dem Wasser ziehn.

Mein Herz ist müde. Meine kleine Lampe
Erlosch mit Knistern, an den Schlaf gemahnend.
Ich komme zu dir, traute Ruhestätte, -
Ja, gib mir Schlaf, ich hab Erquickung not!

Ich weine viel in meinen Einsamkeiten,
Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange;
Sonne der Liebe, willst du nie mehr scheinen,
Um meine bittern Tränen aufzutrocknen?
(S. 56)
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DIE TREUE GEMAHLIN
Tschang-Tsi (um 800)

Ihr wißt, daß ich vermählt bin, Herr. Trotzdem
Habt Ihr gewagt, zwei wundervolle Perlen
Zu heimlichem Geschenk mir anzubieten.

Herr, Ihr verwirrt mich. Sinnlos schlägt mein Herz.
Laßt mich gestehen, daß ich Eure Perlen
Beglückt an meine seidne Robe hielt ...

Die schimmernden Behausungen der Meinen
Stehn stolz und trotzig, unbefleckter Ehre,
Neben den Gärten, wo der Kaiser wohnt.

Mein edler Gatte trägt die goldne Lanze
Der Großen Krieger. Herr, ich zweifle nicht,
Daß Eure Liebe rein ist wie der Mond.

Ich zweifle nicht, daß Eure Seele blutet
Vor großer Sehnsucht, die Ihr nach mir fühlt, -
Herr, geht! Laßt mich allein! Verwirrt mich nicht!

Ich bleibe treu dem Gatten, dem mein Schwur
Gehört, mit ihm zu leben und zu sterben.
Hier bring ich Eure Perlen Euch zurück.

So nehmt sie hin. Seht meine Tränen fließen
Auf Eure lieben Perlen. Wehe! Wehe!
Hätt Euch mein Auge nie gesehn! - Lebt wohl!
(S. 57)
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WORTE DES ABSCHIEDS
Li-Oey (Lebensdaten unbekannt)

Der Feldherr war gerüstet für den Krieg.
Beim Abschied, da er schon zu Pferde saß,
Reicht' ihm die Gattin ein gesticktes Tuch.

"Nimm dieses Tuch, Geliebter!" sagte sie,
"Ich habe es gestickt mit eigner Hand, -
Und denk an mich und bleibe nicht zu lang!

Veränderlich ist alles! Heute scheint
Der blaue Vollmond; aber jede Nacht
Nimmt ihm ein Stück von seinem Glanz hinweg.

Nicht immer werd ich schimmern so wie heut!
Die Schönheit meines Leibes wird vergehn, -
Drum bleibe nicht zu lang, Geliebter, du!"
(S. 61)
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MONDNACHT AUF DEM MEER
Li-Oey (Lebensdaten unbekannt)

Der volle Mond steigt aus dem Meer herauf, 
Das Wasser liegt so still wie eine Wiese
Aus Silber da. O wundervolle Nacht!

In einem Boote liegen junge Freunde
Beisammen, trinken Wein aus dünnen Schalen
Und blicken zu den zarten Wolken auf,

Die über dem Gebirg, vom Mond beglänzt,
Hinwandeln wie ein Reigen. Einige
Der Knaben flüstern: dieses sei die Schar

Der schönen weißen Gattinnen des Kaisers;
Doch einer, wohl ein Dichter, spricht: O Freunde,
Es sind die Schwäne aus der andern Welt ...
(S. 62)
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DIE WILDEN SCHWÄNE
Die Dichterin Ly-Y-Han (12. Jh.)
[Li Tsching-dschau (1083-etwa 1151)]

Noch ist der Glanz der Frühe nicht erschienen,
Ich höre, wie der Wind am Fenster rüttelt,
Und meine Träume schwinden ganz dahin.

Ich steige aufwärts in das Aussichtszimmer,
Einst rührt ich hier mit meiner schönen Nadel
Aus Jade sinnend in der Glut der Kohlen.

Jetzt ist die Glut dahin. Es ist vergebens,
Daß meine Nadel durch die Asche tastet,
Ich seh in das Gebirge, schmerzumflort.

Ein grauer Regen düstert in der Landschaft.
Der Nebel weht. Der Fluß wälzt schwere Wogen, -
Doch meinen Jammer wälzt er nicht hinweg.

Auf meines Umhangs dunkelm Tuche schimmert
Der Regen meiner bitterlichen Tränen;
Die wilden Schwäne schreien unter mir.

Ich schüttle meine armen Tränen nieder
Auf die erwachten Vögel, - fliegt, o Vögel!
Bringt meine Tränen ihm, der mich verzehrt!
(S. 66)
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VERZWEIFLUNG
Die Dichterin Ly-Y-Han (12. Jh.)
[Li Tsching-dschau (1083-etwa 1151)]

O Jammer, Tränen, Flehen und Gebete
Und immer Jammer, immer Tränen, Flehen, -
Ich Unglückselige - was wird aus mir!

Kaum spüre ich des Sommers laue Nächte,
Da zieht der Winter wieder über Land,
Und rauh und häßlich wird der Wind der Frühe.

Jetzt kommen schon die wilden Schwäne wieder;
Mein Herz ist voller Qual. Wie oft, wie oft
Sah ich euch gehn und kommen, wilde Vögel!

Verschwenderisch erblühn die Chrysanthemen, -
Doch diese Blume hier, versehnt, verkümmert,
Hat niemand denn sie abzupflücken Lust?

Ich sitze ewig nur an meinem Fenster, -
Ist denn der Tag noch immer nicht zu Ende?
Ein feiner Regen näßt die Blüten rings.

Auf leisen Sohlen steigt die Dämmrung nieder,
Der Abend kommt, die Nacht umfängt die Erde, -
In mir jedoch bleibt alles, wie es war.

O Jammer, Tränen, Flehen und Gebete, -
Wer zieht den Dorn aus meinem wunden Herzen?
Verzweiflung wühlt in mir und tötet mich.. !
(S. 67)
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DAS BLATT DER FRÜHLINGSWEIDE
Tschan-Tiu-Lin (16. Jh.)

Nicht deshalb lieb ich jene junge Frau,
Die träumerisch an ihrem Fenster lehnt,
Weil sie den ragenden Palast besitzt
Am Gelben Flusse, - nein, ich liebe sie,
Weil sie dies kleine Blatt der Frühlingsweide
Ins Wasser gleiten ließ ...

Nicht deshalb liebe ich den Ostwind, weil
Er mir den holden Duft der Birnbaumblüten
Herüberträgt von blumig weißen Höhen, -
Nein, weil er mir das Blatt der Frühlingsweide
An meinen Kahn trieb, - darum lieb ich ihn!

Nicht, deshalb lieb ich dieses kleine Blatt
Der Frühlingsweide, weil es mir die Wonnen
Des Lenzes bringt, - nein, weil die junge Frau
Mit einer feinen Nadel meinen Namen
Hineingeritzt hat, - darum lieb ich es!
(S. 69)
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DIE VERLORENEN PERLEN
Tschan-Tiu-Lin (16. Jh.)

Des Mandarinen schöne Gattin ritt
Durch die Allee, vorüber an dem Teiche,
Wo Mondlicht auf dem Laub der Weiden lag.

Einige Jadeperlen lösten sich
Von ihrem Hals. Ein Fremder, der vorüberging,
Nahm sie und lief entzückt damit nach Haus.

Ich merkt es kaum, daß ihr der Halsschmuck riß,
Ich sah nur immer in ihr bleiches Antlitz,
Das wie das Mondlicht auf den Weiden war.

Ich sah nur immer in ihr bleiches Antlitz,
Und qualvoll war das Pochen meines Herzens,
Und weinend, weinend, weinend ging ich heim.
(S. 70)
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DIE UNWILLIGE FREUNDIN
Yan-Tsen-Tsai (1716-1797)

Lang saß ich über einem schönen Buch bei Nacht,
So daß ich ganz die Zeit des Schlafengehns vergaß,
Während das Kohlenbecken still zu Ende glühte
Und die Parfüms von meinem Lager schon enteilten.
Nach meiner Freundin Wunsche aber war das nicht!
Mit Mühe nur verbarg die Schöne ihren Zorn, -
Dann endlich zog sie tapfer mir die Lampe fort
Und fragte: Liebster, weißt du nicht, daß längst die Zeit
Zum Schlafengehn herbeigekommen ist ... ?
(S. 71)
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DAS BLATT AUF DEM WASSER
Wan-Tsi (Lebensdaten unbekannt)

Ein Blatt, vom Weidenstrauche losgerissen,
Flatterte nieder in den kleinen Teich,
Da schwimmt es nun, geschaukelt von den Wogen.

Die Zeit hat fortgelöscht aus meinem Herzen
Die quälende Erinnrung. Hingestreckt
Am Teiche, blick ich träumend in die Flut.

Seitdem ich dich vergaß, die einst ich liebte,
Lieg ich verträumt und voller Traurigkeit
Den ganzen Tag am Ufer dieses Teiches.

Mein Auge folgt dem kleinen Weidenblatte:
Es schaukelt hin und kehrt gemächlich wieder
Zu jenem Strauch, von dem es niederfiel.

Gedankenvoll seh ich das Spiel des Blattes, -
O Qual! O Qual! Die schmerzliche Erinnerung
Wird nie vergehn in meinem dunkeln Herzen.
(S. 72)
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DIE UNDANKBARE
Wan-Tsi (Lebensdaten unbekannt)

Ich habe dir zu meiner Flöte
Aus Ebenholz die tiefsten Lieder
Gesungen, die mein Schmerz gebar, -
Du hast mein Flehen nicht erhört.

Ich habe Verse dir gedichtet,
Darin ich deine Schönheit pries
Im Ton der Sehnsucht, - aber du
Bliebst kalt, da du die Verse lasest.

Du warfst mit lässiger Gebärde
Mein Lied ins Wasser, - dort verging es.
Nun kauft ich einen wundervollen
Saphir, dem Abendhimmel gleich.

Und den Saphir ließ ich dir bringen
Als Zeichen meiner heißen Liebe, -
Ich Unglückseliger! Du wiesest
Die Zähne mir als schnöden Dank.
(S. 73)
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DIE FRAU VOR DEM SPIEGEL
Tschan-Jo-Su (19. Jh.)

Nun ruht sie mit gelöstem, schwerem Haar
Vor ihrem Spiegel und starrt lange in
Den Vollmond. Durch den Vorhang fließt das Licht
Und glitzert durch die stille Kammer hin
Wie ungezählte kleine Jadeperlen.
Was tut das Kind? Sie kämmt die üppigen Wellen
Des Haares nicht; sie zieht den Vorhang auf:
Und blütenweiß liegt rings die Landschaft da,
Begossen von dem Silberlicht des Mondes,
So wie der weiße Leib des schönen Kindes
Verborgen in der stillen Kammer blüht ...
(S. 75)
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VOM FRÜHLING UNBERÜHRT
Tschan-Jo-Su (19. Jh.)

Die Pfirsichblüten flattern durch die Lenzluft
Wie rosafarbne Schmetterlinge; lachend
Spiegelt die schlanke Weide sich im Bach.

Wann endet meine Qual? Der laue Ostwind,
Der mir den Duft der blühenden Pflaumenbäume
Herüberträgt, findet mich schlaff und müd.

Die Verse gleiten schwer von meinen Lippen.
Komm, süße Nacht! Ersticke meinen Jammer
In deinen Armen, vielgeliebter Schlaf!
(S. 78)
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DAS TRAURIGE HERZ
Unbekannter Dichter

Der Herbstwind reißt die Blätter von den Bäumen,
Sie wirbeln durch die kalte Luft zur Erde;
Ich sehe ihnen ohne Mitleid zu
Mit starren Augen.

Mein Herz war einsam, da sie kamen. Einsam
Seh ich sie wandern. Trauer füllt mein Herz,
So wie die Täler sich mit Schatten füllen
Beim Nahn des Abends.

Die winterlichen Stürme werden bald
Das Wasser wandeln zu Kristall. Jedoch
Sobald der Lenz kommt, springen alle Bäche
In neuer Wonne!

Sobald der Lenz kommt, will ich auf die Gipfel
Der Berge steigen! Sonne, liebe Sonne,
Erbarme dich, laß meines Herzens Trauer
Dann endlich schmelzen.
(S. 79)
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DER WUNSCH DES LIEBHABERS
Hung-So-Fan (1812-1861)

Süßes Mondlicht auf den Pflaumenbäumen
In der lauen Nacht, schenk meinem Mädchen
Holde Liebesträume in den Schlaf;
Mach, daß sie von mir träumt, daß von heißer
Sehnsucht sie nach mir ergriffen wird,
Daß sie mich von ferne sieht und lauten
Herzens auf mich zueilt, mich zu küssen!
Doch sie wird mich nicht erreichen können,
Immer ferner werd ich ihr entschwinden,
Und so wird sie weinen, und noch wildre,
Heißre Sehnsucht wird ihr Herz durchziehn.

Morgen in der Frühe aber wird sie
Schnell wie eine Hindin zu mir eilen,
Daß sie mich leibhaftig in die Arme
Nehmen kann. Ich werd es an dem Feuer
Ihrer Küsse wohl erkennen können,
Ob du ihr die Träume, die ich wünsche,
Wirklich in den Schlaf geschüttet hast, -
Süßes Mondlicht auf den Pflaumenbäumen!
(S. 80)
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ABENDSONNE
Sang-Sli-Po (1821-1870)

Wo das Reisfeld abgeerntet wurde,
Sitzt mein Liebster auf dem Ackerrain.
Weiße Blumen blühen um ihn her,
Aber überm Dorfe steht die rote,
Purpurrote Glut der Abendsonne.
Neben meinem Liebsten sitz ich selber,
Lehne meinen Arm auf seine Schulter,
Und wir blicken aufwärts in den Himmel,
Wo der Drachen meines Liebsten steht.

Und indes die purpurrote Sonne
Hinter unserm Dorfe niedersteigt,
Singen wir, zwei jugendlich Verliebte,
Kleine Lieder, die von Glück erzählen,
Singen mit emporgewandten Augen,
Singen unsre Liebe in den Abend,
Wo der Drachen meines Liebsten steht.
(S. 81)
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DER GOLDFASAN
Sang-Sli-Po (1821-1870)

Mit Surren flog der Goldfasan
Dicht vor mir aus dem Reisfeld auf, -
Ich fuhr erschreckt zusammen.

Es war zur Zeit der Mittagsglut,
Im Schatten des Aglajabaums
Streckt ich mich müde nieder.

Ich schloß die Augen, und ich schlief
Und träumte von dem Paradies
Und hatte keine Sorgen.

Oho! Da flog ein Goldfasan
Dicht vor mir aus dem Reisfeld auf, -
Und fort war alles Träumen.

Es gibt ein Vieh, das hasse ich,
Der Vogel nennt sich Goldfasan,
Ist hämisch von Charakter.

Jetzt lauf ich wütend in die Stadt,
Will Bogen mir und Pfeil erstehn
Und Goldfasanen schießen!
(S. 82)
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DER UNWÜRDIGE
La-Ksu-Feng (geb. 1852)

Schön ist die Linie deiner Augenbrauen,
Wie Porzellan sind deine Handgelenke,
Und deine Wangen sind wie Pfirsiche.

Du wandelst wie ein Reh mit scheuen Füßen;
Und bringst du deinen Ahnen Totenopfer,
So scheinst du groß wie eine Priesterin.

Du bist die schönste Frau am Gelben Flusse
Und rein wie Neuschnee. Keine böse Zunge
Wagt deines Herzens Reinheit anzutasten.

Ich bin nicht würdig, deines Herzens Neigung
Je zu besitzen. Ich bin schlecht und niedrig,
Doch du bist einer Göttin strahlend Kind.

Gewähre mir, daß ich von ferne stehe,
Ich will ein Lied auf meiner Laute suchen,
Das meine Lust und Qual dir künden soll.
(S. 86)
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AM TEEFELD
Schei-Min (1858-1901)

Ich seh am Horizont die Silhouette
Des Eukalyptusbaumes. Vor mir in
Dem Teefeld ist das Lärmen junger Vögel.

Ich halt ein Teeblatt zwischen meinen Lippen
Und denk an dich, die mir das Herz beschwert.
Wo bist du nun? Da ich zuletzt dich sah,
Trugest du Reis auf deinen schmalen Schultern
Der Hütte deiner Eltern zu; es war
Ein allzu heißer Tag, wie dieser ist,
Und deine Wangen waren weiß wie Jade,
Und unter einem Eukalyptusbaum
Ruhtest du aus. Ich schritt verzagt vorüber,
Mein Herz schlug laut, da ich so hold dich sah.

Wo bist du nun? Du weißt nicht, daß ich lebe.
Du sahst mich nie. In deinem goldnen Herzen
Ruht eines andern vielgeliebtes Bild,
An das du denkst mit Sehnsucht und mit Tränen.

Ich seh am Horizont die Silhouette
Des Eukalyptusbaumes.

Sie macht mich traurig, daß ich sterben möchte.
(S. 87)
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LIEBESLIED
Schei-Min (1858-1901)

So hold sind deine Hände, daß
Die Blume Lan aus deinen Händen
Erblühen sollte. Also würde
Die Blume Lan am schönsten sein.

So zart sind deine Füße wie
Der feine Schmelz der Schmetterlinge;
Sie hinterlassen keine Spuren,
Sie sind wie dünne Wolken.

So hold ist deine Stimme wie
Das Lied der Ammer an dem Bache,
Wenn sich die Weiden neu begrünen;
Du flüsterst, wie die Blätter tun.

Schön sind die Aprikosenbäume
Im Schmucke ihrer lichten Blüten,
Doch du blühst herrlicher, Geliebte,
Im schwarzen Schmucke deines Haars.

Du bist die Blume aller Blumen,
Und sehe ich dich nur von ferne,
So hör ich keine Ammer singen,
Ich sehe keine Schmetterlinge,
Ich neide keine Götter!
(S. 88)
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DIE TRENNUNG
Ma-Huang-Tschung (geb. 1861)

Der Tag bricht an. So muß ich denn hinweg,
Geliebte Freundin, die mein alles ist.
Laß mich noch einmal deine kleine Lampe
Aus Jade heben, daß ich deine Augen
Und deines Haares Schönheit ganz erkenne,
Noch einmal, Süße, reiche mir den Mund, -
Dann will ich gehn. Ich höre schon das Gong
Des Wächters, der zur ersten Arbeit ruft,
Und durch den Vorhang dringt das Licht der Frühe.

Leb wohl, Geliebte! Gerne will ich an
Die Arbeit wandern. Alle Arbeit führt
Dem Abend zu; der Abend aber leitet
In deine Arme, die den ganzen Tag
Mir winken sollen als der schönste Lohn,
Der jemals einem Liebenden geworden.

Leb wohl! Leb wohl! Nun schwing ich mich hinaus.
Sieh, wie der Tau auf allen Beeten funkelt!
Die Amsel singt ihr erstes Lied im Baum.

Leb wohl! Bis an den Abend lebe wohl!
(S. 89)
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IM FRÜHLING
Ma-Huang-Tschung (geb. 1861)

Der Bach, an dem ich liege, murmelt leis;
Wie Goldstaub flirrt die Sonne auf dem Schilf
Der Wasserlilien, das im Lufthauch sich
Mit Flüstern neigt, als atme es im Traum.

Ich seh dem langen Zug der Kraniche
Am Himmel zu. Ihr lärmendes Geschrei
Dringt wie Trompetenstöße durch die Luft,
Die schon nach Frühling duftet. Mir ist bang.
Schon wieder Frühling? Was hab ich gewonnen
In dem vergangnen Jahr? Was ward aus mir?
Arbeit und Sorge und ein wenig Liebe, -
Immer das gleiche. Wenn in vielen Jahren
Ich wiederum den Zug der Kraniche
Verfolgen werde, was wird dann aus mir
Geworden sein? Was hab ich dann gewonnen?

Arbeit und Sorge und ein wenig Liebe,
Immer das gleiche, bis das dunkle Grab
Uns einhüllt und die Blumen aus uns sprießen.
(S. 90)
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DER VERSCHMÄHTE
Ma-Huang-Tschung (geb. 1861)

Von Birnbaumblüten einen Kranz
Legt ich der Herrlichen vors Fenster
In einer Mondnacht im April.

Ich sang ein Lied von großer Sehnsucht
Zur selben Nacht auf meiner Laute
Vor ihrem Haus mit süßem Klang.

Am andern Tage trug die Schöne
An ihrem Busen rote Nelken,
Die wuchsen auf des Nachbars Beet.

Ich habe mich in meine Wohnung
Verkrochen, und ich weinte lange,
Warum hat sie mich so betrübt?

Ich fluche allen Nelkenblüten,
Ich liege schlaflos in den Nächten,
Zerschellt hab ich mein Saitenspiel.
(S. 91)
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BEKRÄNZTER KAHN
Tung-Liu-Fan (geb. 1863)

Auf blauen Wogen ein bekränzter Kahn.

An Bord erschallt Gesang. Die schönsten Mädchen,
Mit weißen Gliedern und mit dunkeln Haaren,
Liegen auf seidenen Kissen in dem Kahn
Und stehn am Mast und halten sich umschlungen
Und singen wunderbar, von Tod und Liebe.
Und selig treibt das Schiff den Fluß hinab
Durch Sonnenlicht und blaue Vollmondnächte,
Treibt immer weiter, und die Mädchen singen
Von Tod und Liebe; und die Lotosblumen
Vernehmen den Gesang und staunen auf,
Und in den Bäumen lauschen bunte Vögel,
Und ihre Blicke füllen sich mit Trauer,
Und Trauer ist im Winde, der die Mädchen
Berührt und ihres Haares Duft durchstreift,
Und Trauer funkelt in dem Licht der Sterne.

Die Mädchen singen, ihre Augen leuchten,
Als sähen sie den Himmel offen; Lächeln
Schwebt um die Lippen, und sie treiben weiter,
Und singend werden sie hinuntergleiten
Ins grüne Meer. Dort werden sie versinken,
Mit weißen Gliedern und mit dunkeln Haaren,
Und noch im Tode wird von ihren Lippen
Gesang ertönen, angefüllt mit Liebe...

Und keine Klage wird dem Mund entfliehn.
(S. 92-93)
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DER DEMÜTIGE
Tschen-Hai (1865-1903)

Du mit den feingeschminkten Wangen
Und den getuschten Augenbrauen,
Denk ich an dich, so ist die Ruhe
Aus meines Herzens Kammern fort.

In meinem Zimmer steht ein Kästchen
Aus schwarzem Lack, - wie viele Küsse
Hat in sein seelenloses Dunkel
Mein heißer Mund hineingehaucht!

Denn dieses Kästchen haben deine
Hände berührt. An einem Lenztag
Hab ichs in deines Vaters Laden
Gekauft; du reichtest es mir dar.

Wohl weiß ich, ich bin häßlich. Würde
Ich meine Liebe dir gestehen,
Du würdest meiner Kühnheit lachen, -
Oh, hätte ich dich nie gesehn!

Ein Lufthauch möcht ich sein. So dürft ich
Um deine Schönheit schweben, ohne
Daß du mich kennst. Wie weich und schmeichelnd
Und wie voll Demut wollt ich sein!
(S. 94)
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TRAURIGE FRÜHLINGSNACHT
Li-Song-Flu (geb. 1870)

Geschrei der silbernen Fasanen
Klang melancholisch durch die Nacht,
Ich spielte dir auf meiner Flöte
Ein Lied, das auch nicht fröhlich war.

In dumpfer Trauer lag die Erde,
Wir wußten keinen Grund zu nennen,
Daß unsre Augen überflossen, -
Das Leben war wie Blei in uns.

Uns war so bange wie den Blumen,
Du ließest deine Hände hängen,
Du sahst mich an und sprachest müde:
"Sei still, es wird vorübergehn."
(S. 95)
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GELEITWORT (von Hans Bethge):
Auf dieser chinesischen Flöte vernimmt man die frohen und schwermütigen Weisen der großen Dichter des Reiches der Mitte. Hier wurde ein kleines, aber zutreffendes Bild von der chinesischen Lyrik entrollt, in einer Kette von Gedichten, welche die Zeit vom zwölften Jahrhundert vor Christi Geburt bis zu den heutigen Tage umschließt.
Als ich das erste Mal lyrische Gedichte nach dem Chinesischen zu Gesicht bekam, war ich ganz bezaubert. Was für eine holde lyrische Kunst trat mir da entgegen! Ich fühlte eine bang verschwebende Zartheit lyrischen Klanges, ich blickte in eine von Bildern ganz erfüllte Kunst der Worte, die hinableuchtete in die Schwermut und die Rätsel des Seins, ich fühlte ein feines lyrisches Erzittern, eine quellende Symbolik, etwas Zartes, Duftiges, Mondscheinhaftes, eine blumenhafte Grazie der Empfindung.
Die chinesische Lyrik ist ganz in die geistige Bildung des Volkes aufgegangen, das sie hervorgebracht hat. Die Kenntnis der nationalen Dichtungen der Vergangenheit war im chinesischen Volk allgemein. Die Lieder des großen Li-Tai-Po werden noch heute, mehr als tausend Jahre nach ihrem Entstehen, von allen Klassen der Bevölkerung gekannt und gesungen, man hört sie aus dem Munde der Zecher und der Verliebten, man hört sie am Abenden über die Felder klingen und in einsamen Stuben zur Laute. Die Kenntnis seiner großen Dichter war diesem unkriegerischen, lyrisch so subtil empfindenden Volke ein Bedürfnis. Alle großen chinesischen Dichter dieser Zeit waren Lyriker. Die anderen dichterischen Gattungen, Erzählung und Drama, erschienen dem Chinesen als künstlerische Formen zweiten Ranges.

Die historisch beglaubigten ersten Dokumente der chinesischen Dichtung liegen etwa dreitausend Jahre zurück. Diese Verskunst ist also, zugleich mit der indischen und hebräischen, die älteste, die wir kennen. Sie konnte sich im Volk so lebendig erhalten, da sich die Sprache des Landes im Laufe der Jahrtausende so gut wie nicht verändert hat. Auch wenn man die Kreise des Gefühls und der Anschauung der alten chinesischen Dichter mit denen der späteren vergleicht, wird man einen großen Unterschied kaum erkennen. Dieses Volk, durch die Jahrtausende hindurch allen fremden Einflüssen durchaus unzugänglich, hat sich wie in seiner nationalen Art, so in seiner dichterischen Kultur sehr rein und ursprünglich erhalten. Selbst die lyrische Form war im Laufe der Entwicklung nur geringen Schwankungen unterworfen.
Die chinesische Verskunst ist höchst schwierig. Aus den besonderen malerischen Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift und den lautlichen der Sprache ergibt sich eine von malerischen und musikalischen Gesetzen in gleicher Weise bestimmte Rhythmik, die mit der Rhythmik der europäischen Dichtung kaum noch etwas anderes gemeinsam hat als die äußerliche Beigabe des Reimes. Ein sehr weitgehender, fein ausgebildeter und oft antithetischer Parallelismus, der sich nicht nur auf die Worte, Gedanken und sprachlichen Bilder, sondern bis in Einzelheiten der Sprachgestaltung hinein, ja bis in die Intimitäten der kunstvoll gefügten und in der Form so ausdrucksvollen Schriftzeichen erstreckt, ist mit dem Begriff chinesischer Dichtung eng verknüpft. Die Dichtung wendet sich an Ohr und Auge in gleicher Weise. Sie will nach uralten, festen musikalischen Gesetzen gesungen und will auch gelesen sein. Wenn man außerdem bedenkt, daß diese Poesie von einer Gedrängtheit des Ausdrucks ist, die nur jenes asiatische Idiom und kein anderes herleiht und die in einer europäischen Sprache nicht wiedergegeben werden kann, so wird man erkennen, ein wie wahnwitziges Unterfangen es eigentlich ist, die chinesische Lyrik dem europäischen Ohr - denn das Auge kommt bei uns hier nicht in Betracht - zu übermitteln, und wieviel Glanz und Schönheit auf diesem Wege notwendigerweise verloren gehen muß. Wenn es an und für sich im Grunde schon unmöglich scheint, den Duft lyrischer Versgebilde in fremde Sprachen zu übertragen, so können Übersetzungen aus dem Chinesischen notgedrungen nur einen dumpfen Abglanz geben von der Schönheit ihres ursprünglichen Wesens. Wie köstlich freilich ist dieser Abglanz noch! Nach ihm mag man ermessen, welchen lyrischen Zauber die Originale umschließen.

Die klassische Zeit der chinesischen Dichtung, die nach der damals herrschenden Dynastie genannte Thang-Periode, umfaßt das siebente bis neunte Jahrhundert nach Christi Geburt. Ihr Höhepunkt liegt im achten Jahrhundert. Anfang dieses Jahrhunderts nämlich, Anno 702, wurde Li-Tai-Po geboren, die strahlendste Blüte der chinesischen Verskunst überhaupt. Li-Tai-Po war eine Natur, die auf Freiheit und Unruhe gestellt war, er war ein Abenteurer und Trinker. Er lebte eine Zeitlang am Hofe des Kaisers Ming-Hoang-Ti, der ihn mit hoher Liebe und Verehrung auszeichnete. Dann zog es ihn wieder in die Ferne; er vagabundierte durch das Land, trank und trug seine Lieder zur Laute vor, und die Launen seines Übermuts wechselten mit den Stimmungen tiefster Melancholie, die seines Wesens Urgrund war. Er starb im Alter von 61 Jahren, und zwar soll er betrunken in ein Wasser geglitten sein. Aber das Volk, das ihm einen Tempel errichtete und ihn als eine Art Halbgott verehrte, hat eine Mythe um seinen Tod gebildet: Als Li-Tai-Po auf einem Schiff beim Weine saß, soll plötzlich eine überirdische Musik erschollen sein; eine Schar Delphine soll sich aus dem Meer erhoben haben, und zugleich sollen zwei himmlische Geister vor Li-Tai-Po erschienen sein und ihn eingeladen haben, mitzukommen in die ewigen Gefilde. Auf dem Rücken eines der Delphine, heißt es, sei Li-Tai-Po davongeschwommen, geführt von den beiden himmlischen Geistern, und die überirdische Musik habe ihn begleitet, bis er fern am Horizont in dem goldenen Äther verschwand.

Li-Tai-Po kommt niemand gleich, auch Thu-Fu nicht, der bedeutendste seiner Zeitgenossen. Er war zwölf Jahre jünger als Li-Tai-Po und mit diesem befreundet. Auch er führte ein unruhiges Leben, nicht aus Neigung, sondern gezwungen durch die Verhältnisse seiner Zeit. Auch er stand zu dem Hofe in nahen Beziehungen, wurde dann verbannt und schrieb aus der ungeliebten Fremde, gleich Li-Tai-Po, Gedichte voll Sehnsucht nach der Heimat, in der zu sterben ihm nicht vergönnt war. Er erreichte ein Alter von 59 Jahren.

Li-Tai-Po ist die genialere Natur von den beiden. Er dichtete die verschwebende, verwehende, unaussprechliche Schönheit der Welt, den ewigen Schmerz und die ewige Trauer und das Rätselhafte alles Seienden. In seiner Brust wurzelte die ganze dumpfe Melancholie der Welt, und auch in Augenblicken höchster Lust kann er sich von den Schatten der Erde nicht lösen. "Vergänglichkeit" heißt das immer mahnende Siegel seines Fühlens. Er trinkt, um seine Schwermut zu betäuben, aber in Wirklichkeit treibt er nur in neue Schwermut hinein. Er trinkt und greift voll Sehnsucht nach den Sternen. Seine Kunst ist irdisch und überirdisch zugleich. Mächtige Symbole gehen in ihm um. Bei ihm spürt man ein mystisches Wehen aus Wolkenfernen, der Schmerz des Kosmos webt in ihm. In ihm hämmert das unbegriffene Schicksal der Welt.

Thu-Fu ist nicht so brausend, er ist eher sentimental, und sein Herz ist mehr bewegt von den zeitlichen Geschicken der Erde als von den Rätseln des Seins. Er hat ein sehr fein entwickeltes Naturgefühl, gleich Li-Tai-Po. Ein inniger Verkehr mit den Reizen der Natur ist für die chinesische Dichtung überhaupt charakteristisch. Der chinesische Lyriker ist ganz verwachsen mit der Landschaft, und ihr gewinnt er viele seiner geliebten Symbole ab. Die Liebe zur Natur erscheint ebenso stark entwickelt wie die Liebe zur Heimat und wie die Furcht vor der Fremde.

In dem letzten Jahrtausend hat die Dichtung der Chinesen vieles Schöne hervorgebracht, aber eine Blüte wie im achten Jahrhundert hat sie nicht wieder erreicht. Eine Höhe ist in der Zeit des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts zu verzeichnen, allerdings berührte sie vor allem die Prosaerzählung, wenn auch die Lyrik nicht ohne Widerschein blieb.
In neuerer Zeit nahm die Dichtung der bezopften Nation mehr und mehr einen gelehrten Charakter an. Das edle lyrische Feuer in diesem großen Volke kann nicht erlöschen, wenn es auch zeitweise stiller brennt. Man möchte hoffen, daß die Zeit nicht ferne sei, in der es wieder ähnlich auflodert wie damals, als Li-Tai-Po unruhig durch die Lande zog. Aber diese Hoffnung wird nicht erfüllt werden. China wird, das ist sein unabwendbares Schicksal, immer mehr den Einflüssen Europas unterliegen und wird hierbei das Beste und Schönste seiner Eigenart notwendigerweise preisgeben. Es wird ihm ähnlich ergehen, wie es Japan ergangen ist, das sich die Errungenschaften der europäischen Wissenschaft und Technik zu eigen gemacht hat, aber auf Kosten seiner künstlerischen Kultur, die sich heute in so schlimmem Niedergang befindet. Auch China wird ein modernes Reich werden. Es wird sich die Vorteile der europäischen Zivilisation aneignen, aber den holden Blütenstaub seiner alten und großen Kultur, auch der dichterischen, wird es hierbei verlieren. Mir scheint, das ist kein guter Tausch.

Es sei bemerkt, daß die Nachdichtungen dieses Buches auf die Prosatexte der folgenden Werke zurückgehen: Hans Heilmann, Chinesische Lyrik, Verlag von R. Piper & Co., München, o. J.; Judith Gautier, Le livre de Jade, bei Felix Juven, Paris, o. J.; Marquis d' Hervey-Saint-Denys, Poesies de l'epoque des Thang, Paris 1862. Für die Dichter des neunzehnten Jahrhunderts habe ich englische Prosaquellen benutzt.
Hans Bethge
 

Aus: Hans Bethge Die chinesische Flöte
Insel Verlag 1918


 

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