William Shakespeare
(1564-1616)


Sonett 38

Wie könnt' es meiner Mus' an Stoff je fehlen
So lang Du athmest und in meine Lieder
Dein holdes Leben hauchst, sie zu beseelen;
Wer sänge würdig Deinen Inhalt wieder?

O danke Du Dir selbst, wenn lesenswerth
In Deinen Augen etwas scheint an mir!
Wer würde nicht beredt durch Deinen Werth?
Borgt doch die Dichtung selbst ihr Licht von Dir!

Darum die zehnte Muse sollst Du sein,
Um zehnmal würdiger als die neun, die alten,
Und wer Dich anruft, soll Dir Lieder weihn,
Die ewigen Werths voll Deinen Ruhm enthalten.

Gefällt der krit'schen Welt die schlichte Weise,
Sei mein die Müh' – Dir sei's zum Ruhm und Preise!



Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1866)

 

 

 



weitere Übersetzungen:

Sonett 38
 
Wie könnte meiner Muse es mißlingen,
solang' du atmest und dein süßes Leben
in meine Lieder strömst, damit sie klingen,
die doch nicht fähig, deinen Klang zu geben!
 
Dir selber danke, wenn du's gern gelesen
und würdig etwas dir von mir erschien;
wer spräche nicht, der vorher stumm gewesen,
wem wär' dein Stoff nicht zum Gedicht gediehn?
 
Die zehnte Muse bist du, zehnmal mehr
an Wert als neun, bekannt der Dichtermenge;
und wessen Herz dich anruft, dem bescher'
von deinem Ruhm erfüllte Hochgesänge!
 
Gefällt mein schlichtes Lied der strengen Zeit,
sei mein die Müh, sei dir der Preis geweiht!



Übersetzt von Karl Kraus (1933)

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Sonett 38
 
Wie könnt' es meiner Mus' an Stoff gebrechen
Solang du atmest, der du mein Gedicht
Durchströmst mit deines Wesens holden Bächen,
Das jeden niedern Kiel hoch überfliegt?
 
O danke du dir selbst, wenn lesenswert
In deinen Augen etwas scheint an mir.
Wer wär' so stumm, den du nicht Schrift gelehrt?
Leiht nicht Erfindung selbst ihr Licht von dir?
 
Sei du die zehnte Muse, zehnmal reicher
Als jene alten neun, zu denen Reimer flehn;
Und wer dich anruft, ew'ge Lieder zeug' er,
Die aller Zeit Verwüstung überstehn!
 
Behagt mein leichter Sang der feinen Zeit,
Sei mein die Müh, dein die Zufriedenheit.



Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)

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Sonett 38
 
Kann meine Muse Stoffs zu wenig haben,
Solang du lebst? Du strömst in mein Gedicht
Dein eignes Thema, lieblich und erhaben;
Dafür genügen Alltagsverse nicht.
 
O, dir allein muß aller Dank verbleiben,
Wenn Lesenswertes du entdeckst in mir;
Wer ist zu stumm, dir ein Gedicht zu schreiben,
Wenn unsre Dichtkunst Licht empfängt von dir!
 
Die zehnte Muse sei, zehnmal so sehr
Wie jene neun, zu denen Reimer flehen,
Und wer dich anruft, Rhythmen schaffe der
Unsterblich, die in fernster Frist bestehen!
 
Gefällt mein Reimtand unsrer strengen Zeit,
Mein sei die Müh, das Lob sei dir geweiht.



Übersetzt von Otto Gildemeister (1871)

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Sonett 38
 
Wie kann ich Stoff zum Singen je entbehren,
So lange du noch athmest, dem Gesang,
Den eignen süßen Inhalt zu gewähren,
Zu herrlich weit für niedern Liedes Klang?
 
O gieb dir selbst den Dank, wenn irgend wann
Du Lesenswerthes fandst, was ich gedichtet,
Wer ist so stumm, der dich nicht singen kann,
Der selber der Erfindung Pfad gelichtet?
 
Sei du die zehnte Mus', zehnmal mehr werth
Als jene neun, gerühmt von Dichterlingen;
Es mag der Sänger, welcher dich verehrt,
Für alte Zeiten ew'ge Verse singen.
 
Wenn dieser strengen Zeit mein Lied gefällt,
Mein sei die Müh', doch dein das Lob der Welt!



Übersetzt von Emil Wagner (1840)

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Sonett 38
 
Wie könnt' es meiner Mus' an Stoff gebrechen,
So lang Du athmest und in mein Gedicht
Den schönen Inhalt trägst, den auszusprechen
Dem schlichten Blatt die rechte Kraft gebricht.
 
Dir selber danke, wenn Dir werth zu lesen
Erscheinet, was ich schreibe, Dir allein.
Wo wäre, sag' doch, ein so schweigsam Wesen,
Das schwiege, giebst Du ihm Gedanken ein?
 
Du zehnte Muse, zehnmal höh'r an Ehren
Als der Poeten Trost, die alten neun!
Wer zu Dir ruft, den wolle Du erhören,
Gieb Lieder ihm, die Tod und Grab nicht scheun.
 
Wenn mein Gesang den Kennern heut gefällt,
Sei mein die Müh', doch Dein das Lob der Welt.



Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)

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Sonett 38
 
Kann's meiner Muse wohl an Stoff gebrechen,
So lang' Du lebst, der strömt in mein Gedicht
Den eignen süßen Stoff, den auszusprechen
Sind würdig die gemeinen Blätter nicht?
 
Oh! dank's Dir selbst, wenn Dir von dem Geringen,
Das ich Dir biete, Alles nicht mißfällt:
Dem Blödsten muß das Schreiben ja gelingen,
wenn von Dir selbst sein Geist das Licht erhält.
 
Sei du die zehnte Muse, überragend
Zehnfach der Dichter altersschwache neun,
Und lasse ihn, der schafft, nur Dich befragend,
Unsterblicher Gedichte Schöpfer sein!
 
Wenn dieser strengen Zeit ich kann gefallen,
Sei mein die Müh', doch Dein das Lob vor Allen.



Übersetzt von Fritz Krauss (1882)

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Sonett 38
 
Wie könnte meiner Muse Stoff entgehn
So lang du lebst und hauchst in meinen Sang
Dein eignes süßes Selbst, zu hold und schön
Für jeder Alltagsweise matten Klang?
 
O dank's dir selbst, gelang nur etwas mir,
Das lesenswürdig deinem Auge schien —
Wer könnt', ob noch so stumpf, nicht singen dir,
Von dem die Dichtkunst selbst ihr Licht entliehn?
 
Die zehnte Muse sei, werth zehnmal mehr
Als jene alten neun, der Reimer Hort,
Und wer dich anruft dichte dir zur Ehr',
Was über fernste Zeit noch lebe fort.
 
Gefällt mein schlichter Sang der eklen Zeit,
Sei mein die Mühe, dir sein Ruhm geweiht.



Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)

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Sonett 38

Kann meiner Mus' Erfindung je entstehn,
So lang' Du lebst? Der in den Vers mir geußt
Dein süßes Selbst; so herrlich, hold und schön
Daß Du's gemeiner Feder nicht verleihst.

O! Dank Dir selbst, wenn etwas nur in mir
Des Lesens würdig Deinem Blick begegnet!
Wer, sey er noch so stumpf, schreibt nicht von Dir
Wofern Dein hohes Licht die Arbeit segnet?

Sey zehnte Muse, zehnfach edler dann
Als jene neun von Dichtern angefleht.
Sey nah dem Freunde, daß er schreiben kann,
Ein Werk, das mit der Erde nur vergeht.

Reicht meiner Mus' die strenge Zeit den Kranz
Ist mein die Müh', und Dein ist Ruhm und Glanz.



Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)

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Sonett 38
 
Fällt meiner muse die erfindung schwer
Solang du hauchst?  Du strömst in mein gedicht
Den eignen süssen inhalt · allzuhehr
Als dass er aus gemeinem blatte spricht.
 
O dank dir selbst wenn etwas du in mir
Der durchsicht würdig dir vors auge stellst:
Wo bliebe einer stumpf · schreibt er von dir ·
Da selbst du mit erfindung ihn erhellst.
 
Du zehnte muse · zehnmal mehr an wert
Als die von reimern angeflehten neun!
Die zu dir rufen denen sei'n beschert
Gesänge die sich ewigen daseins freun!
 
Gefällt mein schlichtes lied der spähenden zeit ·
Sei mir die müh und dir der ruhm bereit!



Übersetzt von Stefan George (1909)

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Sonett 38
 
Wie könnt ich Mangel je an Stoffen haben,
So lang du athmest und in meine Worte
Den süßen Inhalt gießest, zu erhaben
Zum Vortrag in jedwedem Buch und Orte.
 
Dir selbst nur dank es, wenn sich deinen Augen
Nur irgend etwas beut, das werth zu lesen;
Wer sollte nicht dich zu besingen taugen,
wenn du zur Leucht' ihm gabst dein eignes Wesen?
 
Die zehnte Muse sei, und überrage
Zehnmal die neun, die sonst die Reimer preisen;
Und wer dich anruft, gib ihm, daß die Tage
Zur Ewigkeit sich mehren seinen Weisen.
 
Gefällt mein Sang dem heutgen Krittlerthum,
Sei mein die Müh und dein allein der Ruhm.



Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)

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Liste der hier vertretenen Übersetzer:

  1. Bodenstedt Friedrich  (1819-1892)
    William Shakespeare's Sonette in Deutscher Nachbildung von Friedrich Bodenstedt,
    Berlin (Verlag der Königlichen Geheimen Ober - Hofbuchdruckerei R. Decker) 1866
     
  2. Gelbcke Ferdinand Adolph (1812-1892)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt von F. A. Gelbcke,
    Hildburghausen Leipzig (Verlag des Bibliographischen Instituts) oJ (1867)
     
  3. George Stefan (1868-1933)
    Sonnette, Umdichtung von Stefan George, Berlin (Georg Bondi) 1909
     
  4. Gildemeister Otto (1823-1902)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt und erläutert von Otto Gildemeister,
    mit Einleitung und Anmerkungen, Leipzig (F. A. Brockhaus) 1871
     
  5. Kraus Karl (1874-1936)
    Nachdichtung von Karl Kraus, Wien Leipzig (Verlag der Fackel) 1933
     
  6. Krauss Fritz (1842-1881)
    Shakespeare's Southampton - Sonette, deutsch von Fritz Krauss, Leipzig 1872
     
  7. Neidhardt Alexander (1819-1908)
    Shakespeare's kleinere Dichtungen, deutsch von Alexander Neidhardt, Berlin (um 1870)
     
  8. Regis Johann Gottlob (1791-1854)
    Shakspeare - Almanach, Hg. von Gottlob Regis, Sonnette, Berlin 1836
     
  9. Tieck Dorothea (1799-1841)
    Shakespeares Sonette in der Übersetzung Dorothea Tiecks
    kritisch herausgegeben von Christa Jansohn, Tübingen (Francke Verlag) 1992

     
  10. Tschwischwitz Benno (1828-1890)
    Shakspere's Sonette, deutsch von Benno Tschischwitz, Halle (Barthel) 1870
     
  11. Wagner Emil (1810-1889)
    William Shakspeare's sämmtliche Gedichte,
    Im Versmaße des Originals übersetzt von Emil Wagner, Königsberg 1840

     

Liste der Übersetzer von Shakespeares Sonetten:
http://pages.unibas.ch/shine/translatorsgerman2.htm

 

 

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