William Shakespeare
(1564-1616)


Sonett 56

Erneu', o süße Liebe, Deine Kraft,
Sie heißt sonst schwächer als des Hungers Macht,
Der heute, wenn er kaum gestillt, erschlafft,
Doch morgen schon mit schärfstem Reiz erwacht.

Ihm gleiche, Liebe! Ob auch Dein Gesicht
Sich heut gesättigt bis zum Ueberfluß:
Blick' morgen wieder frisch und tödte nicht
Der Liebe Geist durch steten Ueberdruß.

Die trübe Zwischenzeit sei wie das Meer
Dem Brautpaar ist: getrennt gehn Beide täglich
Zum Ufer sehnsuchtsvoll, bis Wiederkehr
Die Liebenden vereint, beglückt unsäglich.

Oder dem trüben Winter gleich' sie, dem
Der Sommer folgt uns dreifach angenehm.



Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1866)
 


 

 



weitere Übersetzungen:

Sonett 56
 
O süße Liebe, deine Macht verstärke,
daß nicht die schale Welt sie wollte messen
am Hunger, der schon morgen greift zum Werke,
nachdem er heute erst sich satt gegessen.
 
So tu desgleichen: daß dein gierig Auge
sich heut am Hochgenuß der Schönheit freue,
doch mach, daß morgen wieder sie ihm tauge,
gewähre niemals, daß dein Geist bereue.
 
Wie Meeresflut ist triste Zwischenzeit:
zwei Küsten und zwei Liebende getrennt;
die täglich Wartenden verbindet Leid,
worin die Glut des Wiederfindens brennt.
 
Dazwischen ist auch Winter, der nur währt,
Daß man den Sommer sehnlicher begehrt.



Übersetzt von Karl Kraus (1933)

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Sonett 56
 
Erneu, o süße Liebe, deine Kraft;
Zeig dich nicht stumpfer als der Hunger ist,
Der zwar durch Speisen für den Tag erschlafft,
Doch neugeschärft erwacht nach kurzer Frist,
 
So mach es, Liebe! wenn dein gier'ger Blick
Sich heute füllt, bis er sich schließt vor Sattheit,
Schau morgen wieder auf, und nicht erstick
Den Geist der Liebe mit beständ'ger Mattheit.
 
Dies trübe Interim sei wie ein Meer,
Das Küsten trennt, wo neuverlobte Zwei
Alltäglich stehn, daß, wann sie Wiederkehr
Der Liebe sehn, der Anblick seliger sei;
 
Oder wie Winter, dessen Sorgennacht
Des Sommers Gruß dreimal willkommner macht.



Übersetzt von Otto Gildemeister (1871)

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Sonett 56

Schöpf', Liebe, neue Macht, sonst schien' es leicht,
Dein Dorn sey stumpfer als des Hungers Kraft.
Der, wenn ihm heut erst Nahrung ward gereicht,
Schon morgen neue Qual uns wieder schafft.

So sey Du, Lieb', und kannst dies heut erwerben,
Daß sich Dein Aug' zur Uebersätt'gung nährt;
Sieh morgen doch auf's Neu', und laß nicht sterben,
Der Liebe Geist, der Stumpfheit zugekehrt.

Gleich ist der Zwischenraum dem Meer zu achten,
Der Länder scheidet, wo mit trübem Blick,
Die Liebenden dem Ufer nahn, betrachten
Der Trennung Schmerz, des Wiedersehens Glück.

Trennung ist Winter, dessen stürmisch Dräuen
Macht, daß wir doppelt uns des Sommers freuen.



Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)

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Sonnet 56
 
Erneu', o Liebe, deine Macht! Man schilt
Dich stumpfer sonst, als Hungers Leidenschaft,
Die heute zwar mit Speise wird gestillt,
Doch morgen wiederkehrt mit aller Kraft.
 
So mußt du, Liebe sein! und hätt' auch dies Gericht
Des Sehns zum Sinken dir dein hungrig Auge heut
Erfüllt, sich morgen wieder! töte nicht
Der Liebe Geist in steter Schläfrigkeit.
 
Die trübe Zwischenzeit sei wie ein Meer,
Das Ufer sondert, wo zwei Neuverbundne
Sich täglich sehn, der Liebe Wiederkehr
Zu feiern, zwiefach froh um die gefundne.
 
Ja, nenne Winter sie, des bange Nacht
Des Sommers Gruß dreimal ersehnter macht.



Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)

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Sonett 56
 
Erneue · süsse liebe · deine kraft
Dass diese glut nicht stumpfer heissen darf
Als hunger der durch speise heut erschlafft ·
Am nächsten tag mit frischer stärke scharf.
 
So · liebe · tu!  Machst du auch heute voll
Dein hungrig auge bis es schwimmt vor sattheit:
Schau morgen wieder hin · nicht sterben soll
Der geist der liebe durch beständige mattheit.
 
Die trübe zwischenzeit sei wie das meer
Das küsten trennt wo neuverbundnes paar
Täglich am strand sich trifft:  die wiederkehr
Der liebe stellt den anblick schöner dar.
 
Auch denke dir den winter grambeschwert
Der smmers gruss mehr wünschbar macht · mehr wert.



Übersetzt von Stefan George (1909)

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Sonett 56
 
Erneue, süße Liebe, deine Macht —
Lass nicht gesagt sein, dass du schwächer sei'st
Als Hunger, der schon morgen neu erwacht,
Obgleich er heut erst noch sich satt gespeist.
 
So sei auch du: hat sich dein hungernd Aug'
Gesättigt heut auch bis es müd zu sehn,
Schau' morgen wieder hin, den Feuerhauch
Der Liebe lass nicht dumpf und matt verwehn.
 
Die düstre Zwischenzeit sei gleich dem Meer,
Wo Neuverlobte wandeln, die es trennt,
An seinen Ufern nach der Wiederkehr
Der Liebe schmachtend, die ihr Element, —
 
Sei gleich dem Winter, der voll Sorgen ist
Und drum willkommner macht des Sommers Frist.



Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)

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Sonett 56
 
Erstark', o Liebe! möge man nicht sagen,
Daß stumpfer dein Begehr als Eßlust sei,
Die schmausend heut' sich sättigt mit Behagen,
Gekräftigt morgen zum Genuss' auf's Neu'.
 
So Liebe du, wenn heute auch du füllst
Dein hungernd Aug', bis übersatt es winket,
Du morgen wiedersiehst, nicht tödtend stillst
Der Liebe Geist, daß träg' und matt er sinket.
 
Die Zwischenzeit mög' ähnlich sein dem Meer,
Das Ufer trennt, wo Zwei, die neu verbunden,
Hineilen oft, der Liebe Wiederkehr
Zujauchzend, wenn aufs Neu' sie sich gefunden.
 
Dem Winter gleicht sie, von dem Sehnsucht eilt
Zum holden Frühling, der entfernt noch weilt.


 
Übersetzt von Emil Wagner (1840)

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Sonett 56
 
Erneure Deine Kraft, o süße Liebe,
Daß man nicht sage, Dein Begehren wär'
Doch stumpfer, als des Hungers mächt'ge Triebe,
Die, heut gestillt, schon morgen, wie vorher,
 
Sich mächtig zeigen. So, obgleich Du heute
Dein hungrig Aug' gesättigt mit Genuß,
Schau morgen wieder, überlaß als Beute
Den Geist der Liebe nicht dem Ueberdruß.
 
Die trübe Zwischenzeit vergleich' dem Meere,
Das weit die Ufer trennt; von Strand zu Strand
Kommt täglich seliger das Paar, als wäre
Die Trennung erst der Liebe stärkstes Band.
 
Ja, oder nenn' sie Winter, dessen Plage
Dreimal willkommner macht des Sommers Tage.



Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)

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Sonett 56
 
Nimm, süße Liebe, frische Kraft! Man sage
Nicht, daß Du stumpfer als die Eßlust sei'st.
Die, heute nur gestillt, am nächsten Tage
Zu alter Stärke sich geschärft erweist.
 
So, Liebe, sei! Gabst heut den Hungerblicken
Du Sätt'gung, bis Dein volles Aug' fällt zu,
Sieh morgen wieder und laß' nicht ersticken
Der Liebe Geist in steter dumpfer Ruh!
 
Die traur'ge Pause laß' dem Meere gleichen,
Das Ufer trennt, zu denen jeden Tag
Zwei Neuverlobte hoffend niedersteigen,
Daß Wiedersehn der Lieb' sie trösten mag;
 
Nenn' sie auch Winter, der, voll Gram und Thränen.
läßt Sommers Einkehr dreifach uns ersehnen.


 
Übersetzt von Fritz Krauss (1882)

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Sonett 56
 
Erneure deine Macht, o süße Lieb;
Du giltst für schwächer sonst als Essenslust,
Die jetzt durch Nahrung sänftigte den Trieb,
Doch bald der alten Kraft sich wird bewußt.
 
So sei auch du! wenn heut, vom Schauen satt,
Dein Aug sich schloß nach gierigem Genuß,
Schau morgen auf; laß nicht zum Tode matt
Die Liebe sein durch stetgen Überdruß.
 
Die leidge Zwischenzeit sei gleich der See
Mit fernen Ufern, wo ein liebend Paar
Tagtäglich schauend stillt der Sehnsucht Weh,
Der Liebe Rückkehr schauend immerdar.
 
Auch nenne Winter sie, dess Sorgen schwer
Dreifach erhöhn des Sommers Wiederkehr.



Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)

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Liste der hier vertretenen Übersetzer:

  1. Bodenstedt Friedrich  (1819-1892)
    William Shakespeare's Sonette in Deutscher Nachbildung von Friedrich Bodenstedt,
    Berlin (Verlag der Königlichen Geheimen Ober - Hofbuchdruckerei R. Decker) 1866
     
  2. Gelbcke Ferdinand Adolph (1812-1892)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt von F. A. Gelbcke,
    Hildburghausen Leipzig (Verlag des Bibliographischen Instituts) oJ (1867)
     
  3. George Stefan (1868-1933)
    Sonnette, Umdichtung von Stefan George, Berlin (Georg Bondi) 1909
     
  4. Gildemeister Otto (1823-1902)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt und erläutert von Otto Gildemeister,
    mit Einleitung und Anmerkungen, Leipzig (F. A. Brockhaus) 1871
     
  5. Kraus Karl (1874-1936)
    Nachdichtung von Karl Kraus, Wien Leipzig (Verlag der Fackel) 1933
     
  6. Krauss Fritz (1842-1881)
    Shakespeare's Southampton - Sonette, deutsch von Fritz Krauss, Leipzig 1872
     
  7. Neidhardt Alexander (1819-1908)
    Shakespeare's kleinere Dichtungen, deutsch von Alexander Neidhardt, Berlin (um 1870)
     
  8. Regis Johann Gottlob (1791-1854)
    Shakspeare - Almanach, Hg. von Gottlob Regis, Sonnette, Berlin 1836
     
  9. Tieck Dorothea (1799-1841)
    Shakespeares Sonette in der Übersetzung Dorothea Tiecks
    kritisch herausgegeben von Christa Jansohn, Tübingen (Francke Verlag) 1992

     
  10. Tschwischwitz Benno (1828-1890)
    Shakspere's Sonette, deutsch von Benno Tschischwitz, Halle (Barthel) 1870
     
  11. Wagner Emil (1810-1889)
    William Shakspeare's sämmtliche Gedichte,
    Im Versmaße des Originals übersetzt von Emil Wagner, Königsberg 1840

     

Liste der Übersetzer von Shakespeares Sonetten:
http://pages.unibas.ch/shine/translatorsgerman2.htm

 

 

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