William Shakespeare
(1564-1616)


Sonett 65

Wenn Erz, Stein, Erde, selbst des Weltmeers Flut
Nicht widersteht der Zeit Zerstörungswerke,
Wie hielte Schönheit Stand vor solcher Wuth,
Sie, die nur Blumen sich vergleicht an Stärke!

Wie könnte sich des Sommers duft'ger Flor
Vor der Vernichtungswuth der Tage halten,
Vor deren Angriff selbst das Eisenthor
Zerspringt und sich die stärksten Felsen spalten.

Furchtbare Vorstellung! Wie soll das Glück,
Der Zeit Juwel, sich retten vor der Zeit?
Wer hält den Fuß der Eilenden zurück,
Hemmt ihren Raub, wahrt was dem Tod geweiht?

O Niemand! Wird das Wunder nicht gewährt,
Daß schwarze Dinte meinen Freund verklärt.



Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1866)

 

 

 



weitere Übersetzungen:

Sonett 65

Wenn Erz und Stein, wenn Erd und Meeresschwall
versehrt, verheert wird, von der Zeit verzehrt,
wie rettet sich die Schönheit vor Verfall?
nicht stärker als die Blume nur bewehrt?

Wie soll sich Sommers holder Atem halten,
von der Gewalt des Sturmgewölks bedrängt,
die doch vermag den starren Fels zu spalten
und noch das stärkste Eisentor zersprengt?

O Graungedanke! Wer denn kann der Zeit
ihr herrlichstes Juwel beizeiten wehren?
Wer stellt sich ihrer gieren Eil zum Streit,
wenn sie bereit ist, Schönheit zu zerstören?

Nein, keiner kann's, wenn nicht mein Wort es trifft:
ihr Wert erstrahlt aus einer schwarzen Schrift.



Übersetzt von Karl Kraus (1933)

___________
 

Sonett 65
 
Wenn Erz und Stein und Erd und weite See
Mit ihrer Macht erliegen solchem Lose,
Wie trotzte dieser Wut die Schönheit je,
Die ja nicht stärker ist als eine Rose?
 
Wie soll des Sommers würz'ger Hauch bestehn
Vor dem zerschmetternden Geschütz der Tage,
Wenn unnehmbare Felsen selbst vergehn
Und Eisentore vor dem Stundenschlage?
 
Furchtbare Wahrheit! Ach, wer schirmt das süße
Kleinod der Zeiten vor dem Raub der Zeit?
Welch starker Arm hemmt ihre schnellen Füße
Und wehrt ihr, daß sie nicht das Schön' entweiht?
 
Ach nichts! wofern dies Wunder nicht geschieht,
Daß man im Tintenschwarz dich leuchten sieht.



Übersetzt von Otto Gildemeister (1871)

___________
 

Sonett 65

Da Erz und Stein, und Erd' und endlos Meer,
Nicht Kraft und Stärke vor Vernichtung schützt:
Wo nimmt die Schönheit Wort und Waffen her,
Die nur der Blumen stumme Macht besitzt.

Wie kann des Sommers würz'ger Hauch wohl dauern
Wenn Winters stürm'ger Andrang ihn bekriegt?
So fest gegründet sind nicht Felsenmauern,
Keine Eisenthor, das nicht die Zeit besiegt.

O schrecklich! vor dem Raub der Zeit entfliehn,
Soll nicht, das schönste Kleinod selbst der Zeit,
Wer kann den flücht'gen Fuß zurück ihr ziehn?
Wer ist's der ihrer Macht die Spitze beut?

O Keiner! wenn ein Wunder nicht geschieht
Des Freundes Reiz in schwarzer Tinte blüht.



Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)

___________
 

Sonett 65
 
Da erz und stein · land und endlose flut
Bewältigt wird von trübem erdentume -
Kommt schönheit je zu wort vor solcher wut
Mit einer macht nicht stärker als der blume?
 
O wie soll sommers honigduft noch wehn
In stürmischer tage unheilvollem prall,
Wenn unbewegte felsen nicht bestehn
Und eherne tore in der zeit verfall?
 
O furchtbarer gedanke!  Wo hat schutz
Der zeiten best juwel vorm zeitenstaub?
Welch starke hand beut schnellen flüssen trutz?
Verhindert einer je der schönheit raub?
 
O nie! wird nicht dies wunder offenbar:
Aus schwarzer schrift strahlt meine liebe klar.



Übersetzt von Stefan George (1909)

___________
 

Sonett 65
 
Wenn Erz, Stein, Erde, weite Meeresflut
Der trüben Sterblichkeit Gewalten weicht:
Wie mäße Schönheit sich mit solcher Wut,
Sie, deren Kraft der Blume Kräften gleicht?
 
O, wie soll Sommers honigsüßer Flor
Verwüsterischer Jahre Sturm bestehn,
Wenn weder Urgebirg noch Eisentor
So mächtig sind, dem Wandel zu entgehn?
 
Furchtbare Vorstellung! Wo soll vom Sarge
Der Zeit ihr best Juwel gesichert sein?
Wer hält am schnellen Fluß zurück die arge?
Wer steuert ihren Schönheitsräuberein?
 
O, niemand: wird dies Wunder nicht gewährt,
Daß dunkle Tinte hell den Freund verklärt.



Übersetzt von Johann Gottlob Regis (1836)

___________
 

Sonett 65
 
Wie soll, da Erz, Stein, Erd' und Meere weichen
Dem traur'gen Tod, der über allen thront,
Mit dieser Wuth die Schönheit sich vergleichen,
In der nur Stärke einer Blume wohnt?
 
Und wird des Sommers honigsüße Milde
Nicht von der Tage Ansturm auch besiegt,
Da selbst das unnehmbare Felsgebilde,
Das härt'ste Thor von Stahl, ihm unterliegt?
 
Oh, schrecklicher Gedanke! Wohin retten
Den schönsten Schatz der Zeit vor ihrem Schrein?
Welch' starke Hand kann ihre Füße ketten,
Ihr wehren, Schönheit räub'risch zu entweihn?
 
Das Wunder nur, daß diese schwarzen Zeichen
Im Glanze Dich der Nachwelt überreichen!



Übersetzt von Fritz Krauss (1882)

___________
 

Sonett 65
 
Und kämpfen Erz und Stein, und Vest' und Meer
Ohnmächtig gegen grimme Sterblichkeit,
Muß blumenzarte Schönheit nicht noch ehr
Sich beugen vor dem wilden Haß der Zeit?
 
O! wie soll denn der laue Sommerwind
Dem Wetter trotzen, das mit Stürmen ficht,
Wenn starre Felsen stark genug nicht sind,
Und erzne Thore selbst die Zeit zerbricht?
 
O schrecklicher Gedanke! Wer entzieht
das Kleinod aller Zeit dem Sarg der Zeit?
Wer hemmt mit starker Faust den Fuß, der flieht,
Wer schützt die Schönheit vor Vergänglichkeit?
 
O! Niemand, wenn dies Wunder unterbleibt,
Daß Dich verklärt, was schwarze Dinte schreibt.



Übersetzt von Ferdinand Adolph Gelbcke (1867)

___________
 

Sonett 65
 
Wenn Erz, Stein, Erde, unbegrenzte Fluth
Nicht trotzen kann der trüben Sterblichkeit,
Kann Schönheit bergen sich vor solcher Wuth,
Die keine Blum' an Kräften überbeut?
 
Was soll des Sommers süßen Hauch beschützen,
Wenn heranbraus't die rauhe Sturmesnacht,
Da schwächer selbst des Felsens mächt'ge Stützen
Und eh'rne Pforten als der Zeiten Macht?
 
O Angstgedanke! – Wie, ach! soll entgeh'n
Der Zeit Juwel der Zeiten Moderschrein?
Wer zwingt den flücht'gen Fuß der Zeit zum Steh'n?
Wer hält im Schönheitsraub ihr mächtig ein?
 
Ach, nichts! wenn nicht das Wunder einst geschieht,
Daß nie mein Lieb' in schwarzer Schrift verglüht. -



Übersetzt von Emil Wagner (1840)

___________
 

Sonett 65
 
Da Erz und Stein wie Erd' und Meer zu bald
Doch des Verfalles Macht erliegen muss:
Wie trotzte Schönheit ihrer Wuth Gewalt,
Da sie nicht stärker als ein Blüthenkuss?
 
Wie hielte Stand des Sommers süßes Wehn
Vor Wintersturms zerstörend wildem Tos,
Dem selbst kein Fels vermag zu widerstehn,
Kein Eisenthor, wie stark es auch und groß?
 
O schrecklicher Gedanke mir! wie soll
Der Zeit Juwel, du selbst, der Zeit entfliehn?
Wer wehret ihr der Schönheit Raub und Zoll,
Hemmt ihren raschen Fuß und fesselt ihn?
 
O Niemand, thut's dies Wunder nicht vielleicht,
Dass schwarze Tinte licht verklärt dich zeigt!


 
Übersetzt von Alexander Neidhardt (1870)

___________
 

Sonett 65
 
Nicht Erz und Stein, nicht Land und Meer bestehn
Mit ihrer Macht vor leidiger Vernichtung;
Wie soll die Schönheit ihrer Wuth entgehn,
Die nur der Blume gleich steht an Verrichtung;
 
Soll Sommers Hauch, so honigsüß und lind,
Stand halten vor dem Sturm der Wintertage,
Wenn selbst nicht stark die harten Felsen sind,
Kein Eisenthor, das nicht die Zeit zernage?
 
Mir graust, wenn ich bedenke: wo auf Erden
Birgt vor der Zeit der Zeit Juwel sein Haupt?
Wer soll des raschen Laufes Meister werden?
Wer hindern, daß die Schönheit er beraubt?
 
Nichts als das Wunder, daß einst strahlenvoll
Mein Freund in Schriftenschwärze glänzen soll.


 
Übersetzt von Benno Tschischwitz (1870)

___________
 

 

 

 

Liste der hier vertretenen Übersetzer:

  1. Bodenstedt Friedrich  (1819-1892)
    William Shakespeare's Sonette in Deutscher Nachbildung von Friedrich Bodenstedt,
    Berlin (Verlag der Königlichen Geheimen Ober - Hofbuchdruckerei R. Decker) 1866
     
  2. Gelbcke Ferdinand Adolph (1812-1892)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt von F. A. Gelbcke,
    Hildburghausen Leipzig (Verlag des Bibliographischen Instituts) oJ (1867)
     
  3. George Stefan (1868-1933)
    Sonnette, Umdichtung von Stefan George, Berlin (Georg Bondi) 1909
     
  4. Gildemeister Otto (1823-1902)
    Shakespeare's Sonette, übersetzt und erläutert von Otto Gildemeister,
    mit Einleitung und Anmerkungen, Leipzig (F. A. Brockhaus) 1871
     
  5. Kraus Karl (1874-1936)
    Nachdichtung von Karl Kraus, Wien Leipzig (Verlag der Fackel) 1933
     
  6. Krauss Fritz (1842-1881)
    Shakespeare's Southampton - Sonette, deutsch von Fritz Krauss, Leipzig 1872
     
  7. Neidhardt Alexander (1819-1908)
    Shakespeare's kleinere Dichtungen, deutsch von Alexander Neidhardt, Berlin (um 1870)
     
  8. Regis Johann Gottlob (1791-1854)
    Shakspeare - Almanach, Hg. von Gottlob Regis, Sonnette, Berlin 1836
     
  9. Tieck Dorothea (1799-1841)
    Shakespeares Sonette in der Übersetzung Dorothea Tiecks
    kritisch herausgegeben von Christa Jansohn, Tübingen (Francke Verlag) 1992

     
  10. Tschwischwitz Benno (1828-1890)
    Shakspere's Sonette, deutsch von Benno Tschischwitz, Halle (Barthel) 1870
     
  11. Wagner Emil (1810-1889)
    William Shakspeare's sämmtliche Gedichte,
    Im Versmaße des Originals übersetzt von Emil Wagner, Königsberg 1840

     

Liste der Übersetzer von Shakespeares Sonetten:
http://pages.unibas.ch/shine/translatorsgerman2.htm

 

 

zurück