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      Franz Marc (1880-1916) 
      Liebespaar  | 
      
         
      
       
      Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen 
       
      Schönheit- ein Wort das sich nicht umschreiben läßt: es muß empfunden 
      werden, doch wollt ich es wagen durch ein ander deutsches Wort viel Licht 
      auf diesen einfachen Begriff zu werfen: Übereinstimmung.  
      Die Schönheit ist entweder objektiv, die höchste Übereinstimmung der 
      Theile untereinander zu ihrem eigenen Ganzen, oder subjektiv, 
      Übereinstimmung dieser Theile zu dem Ganzen des sie erkennenden Subjekts. 
      Jenes möcht ich ideale, dieses die homogene Schönheit nennen. 
       
      Sie sehen aus dieser Erklärung, daß die ideale Schönheit zugleich 
      nothwendig und unveränderlich seyn müße, weil sie ihren Grund in sich 
      selber hat: die homogene aber sich nach dem sie erkennenden Subjekt 
      richte. Sie sehen ferner, daß wir von der homogenen zur idealen Schönheit 
      übergehen können, wann wir unser Ich so weit erheben, daß das schöne und 
      nothwendige Ganze ausser uns, auf unser Ganzes die gehörigen Eindrücke 
      macht, das heißt vollkommen damit übereinstimmt. 
       
      Die höchste ideale Schönheit ist Gott - und das erkennen wir aus der Welt, 
      die er geschaffen, worin jeder Theil mit dem andern und zum Ganzen aufs 
      harmonischste stimmt, wir schliessen also von der Wirkung auf die Ursache. 
      Ich sage, wir erkennen; wir schliessen, - um anzuzeigen, was geschehen 
      sollte - nicht was geschieht. 
       
      Die homogene Schönheit aber ist in der idealen enthalten wie ein Theil im 
      Ganzen: denn jeder Theil dieses um uns her aufs vollkommenste geordneten 
      Ganzen hat für ein oder anderes Subjekt eine individuelle, mit ihm 
      besonders zusammenstimmende, das heißt homogene Schönheit. 
       
      Alle Schönheit erregt ein Ergetzen, ein Wohlgefallen, welches in Wunsch, 
      und wenn dieser Wunsch fortgesetzt wird, in Neigung und Bestreben 
      übergeht. Verschieden müssen aber diese Bestrebungen sein, nach dem diese 
      beiden Arten von Schönheit verschieden sind. Hier, meine Herren! spannen 
      Sie ihre Aufmerksamkeit: Ich will Sie auf die Wegscheide von Glück und 
      Elend führen. - Die homogene Schönheit reizt zur Vereinigung, die 
      ideale zur Nachahmung. 
       
      Wir haben eine Konkupiscenz, das Streben nach Vereinigung, die Begier: sie 
      ist Gottes Gabe und nöthig zu unsrer Glückseligkeit, denn wie können wir 
      glücklich sein, ohne zu geniessen und wie können wir geniessen ohne 
      begehrt zu haben. (...) 
      Alles was in der Welt ist, hat einzeln genommen mit uns einen Grad 
      homogener Schönheit, macht also Anspruch auf einen Grad unsers Genusses. 
      Kein Ding, das unsern Sinnen oder Geistes Kräften gegenwärtig werden kann, 
      ist vergeblich für uns erschaffen, keines, auch das häßlichste nicht 
      (...). 
      Am homogensten aber unter allen erschaffenen Dingen mit uns, ist der
      Mensch, daher interessiert er uns am meisten, am vollkommensten 
      homogen unter den Menschen sind sich die beiden Geschlechter, Mann und 
      Weib, hier thut die homogene Schönheit also ihre völlige Wirkung, sie 
      reizt, zieht, zwingt zur Vereinigung. Mögen die Geschlechter also 
      zu einander streben, sich vereinigen, eins sein, es ist ihre Bestimmung - 
      aber nicht einander beruhen. 
      (...) 
       
      Supplement zur vorhergehenden Abhandlung 
       
      (...) 
      Wenn Gott aus dem Menschen bloß ein denkendes und empfindendes Wesen hätte 
      machen wollen, so würde ers bei den Schatten, die er um ihn her pflanzte, 
      bei dem blauen Himmel, mit dem er ihn bedeckte und der schönen Dekoration 
      des Paradieses haben bewenden lassen. Aber er wollte ihn auch handelnd, 
      nicht bloß leidend. Der Mensch sollte freilich einen Blick der Gottheit ins 
      schöne Weltall thun, und alles übereinstimmend empfinden: aber er sollte 
      auch frei, ein kleiner Schöpfer, der Gottheit nachhandeln. Die 
      Triebfeder unserer Handlungen ist die Konkupiscenz, ohne Begier 
      nach etwas bleiben wir ruhig, und da Handeln die größte aller menschlichen 
      Realitäten ist, wie sträflich wär es den Keim unserer Thätigkeit aller 
      unserer Vortrefflichkeit zu ersticken. 
       
      Gott wollte also unsere Konkupiscenz in Bewegung setzen, das konnte nur 
      durch ein Verbot geschehen. 
       
      Es ist unwiedersprechlich, daß in der ganzen Natur alle Kräfte nur 
      entgegen wirken. Alle Aktion ist Reaktion, wir erfahren dies täglich, 
      wo kein Stoß da keine Bewegung, wo kein primus movens und agens, da bleibt 
      alles ruhend und leidend - auf diesem Weg allein konnten die vernünftigen 
      Geschöpfe zur Idee einer Gottheit kommen. Die Materie ist nur beweglich 
      nach dem Maaß der Kraft, die  sie hat zu wiederstehen. Die Geister 
      haben nur nach dem Maaß ihrer grössern Kraft zu wiederstehen, eine größere 
      Beweglichkeit. Und Gott um unserer Konkupiscenz den höchsten Schwung zu 
      geben, uns zur Handlung zu determiniren, mußte verbieten. (...) 
       
      Zweites Supplement 
       
      (...) Also - das Gesetz studiert - und das Evangelium ausgeübt 
      - das giebt glückselige Menschen - nach dem Verhältniß 
      glückseliger, nachdem sich ihre Handlungen über das Gesetz, über die Regel 
      des Rechts erheben. 
       
      Unverschämte Sachen 
       
      (...) Die Allgemeinheit und die Stärke dieses Triebs selbsten, die zwey 
      Klippen, an die unsere Vernunft immer stößt, wenn sie die göttliche 
      Vorsehung über die Austheilung desselben rechtfertigen will, sollten uns 
      aufmerksam machen. 
      Es scheint, als ob dieser Trieb ein Institut sey, das die ganze Natur 
      umfängt, um alles was lebet, glücklich zu machen. Bis auf den geringsten 
      Wurm hat jedes seine Freude, jedes seinen Grad von Genuß und 
      Glückseligkeit. In Wahrheit ein Institut, das eines allgütigen Schöpfers 
      würdig ist. Seine Sonne von beseeligender und beglückender Güte bis in die 
      allerdunkelsten Hölen der geringsten Raupenseele dringen zu lassen, welch 
      ein Schöpfer! welch ein Vater! 
       
      Ferner scheint dieses Institut noch eine höhere und edlere Absicht zu 
      haben, (vielleicht noch hundert, denn bey Gott ist alles Absicht und wer 
      hat in des Herrn Rath gesehen?) nämlich diejenige, die Geschöpfe, die 
      vermöge der in ihnen lebenden Kraft geneigt waren, sich von einander zu 
      entfernen, hie und da herum zu irren, alle Momente den Ort zu verändern, 
      vermöge der sich in ihnen äussernden Beweglichkeit, die der Grundtrieb 
      aller lebenden Geschöpfe ist und ihre Hauptglückseligkeit ausmacht, 
      diese Geschöpfe einander zu nähern, sie mit einem gemeinschaftlichen Bande 
      wieder zu verbinden, das stark genug sein mußte um jenen Trieb 
      bisweilen zu überwinden und das unruhig herumschweifende Thier auf gewisse 
      Zeitlang auf einen Ruhepunkt zu fixieren. (...) 
       
      Um kurz von der Sache zu kommen, der Geschlechtertrieb ist die Mutter 
      aller unserer Empfindungen. Zerstreut und verschwendet diesen Schatz, 
      und ihr werdet kalte und leere Geschöpfe, Kinder ohne Dankbarkeit und 
      Pietät, Ehegatten ohne Zärtlichkeit und eheliche Treue, Väter ohne Freude 
      an eurem multiplizirten Selbst werden, kalt, kalt, kalt - o ich weiß keine 
      schrecklichere Benennung eines trostlosen und verzweiflungsvollen 
      Zustandes. Alsdenn kommen die kalten unfreundlichen Leidenschaften wie 
      sieben böse Geister und nehmen den Platz eurer Liebe ein, die anstatt in 
      der Schale des Geschlechtertriebes zu den herrlichsten Früchten zu 
      gedeihen, schon frühzeitig im Keim erstarb. Dann kommt Hochmuth und 
      Ehrgeiz und spornen euch ohne Ruhe Felsen an, dann kommt Kleinmuth und 
      Furcht mit allen den kriechenden Passionen hinter sich, Neid, Geiz, Tücke 
      und Schadenfreude, und pressen euch unaufhörlich bis in euer Grab hinab, 
      wo Würmer an eurer Seele fressen. 
       
      Es wäre also die Zähmung unsers Geschlechtertriebes nicht unfüglich, wo 
      nicht ihrer innern Wichtigkeit, doch der Zeitfolge nach, der erste 
      Grundsatz in unserer Moral zu nennen, da wir gemeiniglich von dem Laster 
      der Ausgelassenheit und Zügellosigkeit zu allen übrigen stufenweise, wie 
      wohl unvermerkt fortzugehen pflegen. (...) 
      Aber es ist nicht anders, und jetzt haben wir einiges Licht, warum Gott 
      durch Mose die Ehegesetze mit so scharfen Strafen begleitet, etabliert 
      hat, einiges Licht, warum er die Hurerey, oder die unerlaubte und 
      unordentliche Befriedigung dieses Triebs noch für das künftige Leben zu 
      strafen bedroht; da sie doch in diesem schon ihre Strafe mit sich führt. 
      Wir werden kalt und Empfindungsleer gegen alles, also auch gegen den 
      Urheber dieses Alles, gegen Gott, und verfehlen also ganz und gar unserer 
      Bestimmung, welche Liebe und Glückseligkeit war. (...) 
      Nichts bleibt uns jetzt übrig, als bei allen diesen Motiven, so herrlich 
      sie sind, und so kräftig sie wirken könnten, wenn wir immer die Augen 
      unserer Vernunft offen behielten und die Leidenschaft nicht blind wäre, 
      uns nach Mittel umzusehen, der Heftigkeit des bloß thierischen Triebes 
      Zügel anzulegen und Einhalt zu thun. Denn wir sehen wohl, daß er nur 
      geleitet, nicht getödtet werden muß, so wenig wir Fug haben, andere 
      thierische Instinkte die zu heilsamen Zwecken in uns gelegt waren, 
      auszurotten. Und dieses Mittel muß von der Art sein, daß es bei allen 
      Fällen und zu allen Zeiten gleich kräftig und probat ist, keine 
      Palliativkur, die im nächsten Augenblick den Schaden nur zweideutiger und 
      den Schmerz heftiger macht, den sie im ersten Augenblick zu stillen 
      schien. Präkautionen, Gebeth, gute Grundsätze und Maximen fleißig und oft 
      sich wiederholt und eingeprägt, (wie wohl auch die mehr aus unsern eigenen 
      Erfahrungen abgezogen als aus Büchern erlernt werden müssen) eine strenge 
      Lebensordnung, Fasten so gar und Enthaltung von erlaubten Vergnügungen, 
      Vermeidung böser Gelegenheit, Flucht - - - alle die Recepte unserer 
      heutigen Moralisten sind gar gut, aber man erlaube mir es zu sagen, sie 
      sind keine Universalmedicin, die für alle Subjekte brauchbar ist, und 
      gemeiniglich äussern diese schönen Rathschläge ihre ganze Kraft erst, oder 
      von uns erst dann in ihrer Heilsamkeit eingesehen, wenn der Schaden schon 
      geschehen, wenn die Stunde der Versuchung schon vorübergegangen ist und 
      wir untergelegen haben. O wie schön können wir alsdann nicht über die 
      Schändlichkeiten dieses Lasters deklamieren, um gleichsam dem 
      Herzenskündiger dadurch unsere eigene Begehung desselben abzubüssen und 
      ihn über unsere schönen Worte unsrer Handlungen vergessen zu machen. 
      - Es kommt hier also auf eine Medicin an, die ihre Kraft vor der Krankheit 
      äussert, welche sie verhüten soll - und die ist - um einmal kurz zu 
      schliessen, um mit einem Wurf das Ziel zu treffen, nach welchem wir so 
      lange gezielt haben - weil doch unsere Seele von der Natur ist, daß sie 
      nicht gern ein Vergnügen aufgiebt, wenn nicht auf der Stelle ein anders 
      wieder da ist, es zu ersetzen - Die empfindsame Liebe. 
      Seht ihr einen Gegenstand, der euern Geschlechtertrieb rege macht, 
      versucht ob ihr ihn lieben könnt, etwas liebenswürdiges wird er immer 
      haben, und ein weit reicheres Maaß von Vergnügen werdet ihr ernten, als 
      euch der letzte Genuß geben könnte. Die rechten Verhältnisse und Grade in 
      der Liebe zu finden, dazu habt ihr die Vernunft, Gottesgabe und 
      vollkommenstes Gesetz. 
      Sela! 
       
      
      Aus: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen 
      Frankfurt und Leipzig 1780 
      [Der Autor ist hierbei nicht genannt] 
      
       
       
     
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