Gottesliebe

Worte der Liebe aus der christlichen Welt
 

Christus - 7. Jh., Koptisches Museum, Alt-Kairo



Anselm von Canterbury
(1033-1109)



Vierzehnte Betrachtung

(früher Enchiridion, oder Handbuch zur Liebe Gottes zu entflammen)




1.

Jetzt sei mir gegenwärtig, mein Gott, den ich suche,
den ich liebe, den ich mit Herz und Mund bekenne,
und so kräftig ich kann, lobe und anbete.
Mein Geist, voll Andacht zu Dir, von Deiner Liebe entzündet,
nach Dir seufzend, Dir verlangend,
Dich allein zu sehen begehrend,
kennt nichts Süßes, als von Dir zu reden,
von Dir zu hören, von Dir zu schreiben, von Dir zu verhandeln,
Deinen Ruhm häufig im Herzen zu erwägen,
damit doch Dein süßes Andenken
unter diesen Stürmen mir einige Ruhe gewähre.
Dich rufe ich also an, Geliebtester,
zu Dir schreie ich mit großem Geschrei
aus meinem ganzen Herzen.
Und wenn ich Dich anrufe,
rufe ich Dich in der That in mir selbst an;
weil ich ganz und gar nicht wäre, wenn Du nicht in mir wärest;
und wenn ich nicht in Dir wäre,
wärest Du nicht in mir.
In mir bist Du, in meinem Bewußtsein bist Du:
daher habe ich Dich erkannt,
und in ihm finde ich Dich, wenn ich Deiner gedenke
und in Dir mich an Dir ergötze,
von Dem Alles, durch Den Alles und in Dem Alles.

Du, o Herr, erfüllest Himmel und Erde,
trägst Alles ohne Last,
umfängst Alles ohne Einschränkung.
Immer thätig, immer ruhig.
Sammelnd, und nicht bedürftig;
suchend obgleich Dir Nichts fehlt.
Liebend und doch nicht leidenschaftlich;
eifersüchtig, und doch bist Du sicher.
Es reuet Dich, und Du hast nicht Schmerz.
Du zürnst, und bist ruhig.
Du wechselst die Werke,
aber Deinen Rathschluß wechselst Du nicht.
Du nimmst wieder auf, was Du findest
und niemals verloren hast.
Niemals hilfsbedürftig freuest Du Dich des Gewinnes.
Niemals geizig forderst Du Zinsen.
Du gibst im Überfluß, dem Du Nichts verschuldest;
oder immer wird Dir in Überfluß gegeben;
daß Du zum Schuldner wirst.
Und wer hat etwas, das nicht Dein sei?
Du bezahlst die Schulden aus, ohne jemand zu verschulden.
Du erlässest die Schulden, ohne etwas zu verlieren.
Der Du allenthalben bist, und allenthalben ganz.
Der Du empfunden werden kannst,
und nicht gesehen werden kannst.
Der Du nirgend fehlst und dennoch
von den Gedanken der Bösen fern bist.
Der Du selbst da nicht fehlst,
wo Du fern bist, weil, wo Du nicht anwesend bist
durch Deine Gnade, Du es bist durch Deinen Zorn.
Der Du allenthalben gegenwärtig bist,
und kaum gefunden werden kannst.
Dem wir stehenden Fußes nachfolgen,
und doch nicht zu erreichen vermögen.
Der Du Alles hältst, Alles erfüllst, Alles umfaßt,
Alles überragst, Alles trägst.
Der Du die Herzen der Gläubigen lehrst
ohne das Geräusch der Worte.
Der Du im Raume Dich nicht ausdehnst,
in der Zeit Dich nicht änderst,
und nicht Zu- und Abnahme kennst.
Der Du das unzugängliche Licht bewohnst,
Den kein Mensch je gesehen hat, noch sehen kann.
In Dir selbst ruhig bleibend,
umkreisest Du allenthalben das Weltall.
Denn nicht kannst Du zerrissen oder getheilt werden,
weil Du wahrhaft eins bist;
noch gehst Du in Theile auseinander,
sondern ganz hältst Du Alles,
erfüllst Du Alles, erleuchtest und besitzest Du Alles.

Wenn die ganze Welt die Bücher erfüllten,
Deine unbeschreibliche Wissenschaft
kann nicht beschrieben werden.
Weil Du unaussprechlich bist,
kannst Du auf keine Weise
beschrieben und erschlossen werden.
Du bist die Quelle des himmlischen Lichtes,
und die Sonne der ewigen Klarheit.
Groß bist Du ohne Maß und deshalb unermeßlich.
Gut ohne Grad, und deshalb wahrhaft und unübertrefflich gut;
und keiner gut, außer Dir allein.
Dessen Wille That, dessen Wollen Können ist.
Der Du Alles, was Du aus Nichts geschaffen,
rein durch Deinen Willen gemacht.
Der Du alle Deine Geschöpfe
ohne irgend eine Bedürftigkeit besitzest,
und ohne Mühe regierst,
und ohne Überdruß lenkst,
und Nichts ist, was die Ordnung Deines Reichs störte,
weder Hoch noch Niedrig.
Der Du an allen Orten ohne Ort zu haben bist,
und Alles umschließest ohne räumliche Umgebung,
und allenthalben gegenwärtig bist
ohne Ruhe und Bewegung.
Der Du auch des Bösen Ursache nicht bist,
das Du ja nicht thun kannst.
Der Du Nichts nicht kannst, noch auch je über das,
was Du gethan, Reue empfindest.
Durch dessen Güte wir gemacht sind,
und Gerechtigkeit wir Strafe dulden, Güte wir erlöst werden.
Dessen Allmacht Alles regiert, lenkt und erfüllt,
was sie geschaffen.
Aber nicht deswegen sagen wir,
Du erfüllest Alles, weil Du dadurch umfaßt werdest,
sondern Alles wird vielmehr von Dir umfaßt.
Und nicht theilweis erfüllst Du Alles,
und man muß nicht meinen, ein jedes Ding
enthalte Dich nach der Größe seines Theiles,
das heißt: je größer, um so mehr, je kleiner, um so weniger.
Da Du vielmehr selbst ganz in Allem bist, und Alles in Dir.
Dessen Allmacht Alles beschließt,
und keiner kann einen Weg, Deiner Macht zu entgehen, finden.
Denn wer Dich nicht zum Freunde hat,
wird Deinem Zorne nimmer entgehen.



2.

Dich also, gnädigster Gott, rufe ich in meine Seele,
die Du bereitest, Dich aufzunehmen durch das Verlangen,
welches Du ihr einflößest.
Tritt in dieselbe ein, ich bitte Dich,
und bereite sie Dir zu, daß Du sie besitzest,
die Du geschaffen und neu geschaffen hast;
daß ich Dich habe wie ein Siegel auf meinem Herzen.
Ich bitte Dich, Gütigster, verlaß mich nicht,
da ich Dich anrufe; weil bevor ich Dich anrief,
Du mich gerufen und gesucht, daß ich, Dein Knecht,
Dich suchte, suchend Dich fand, gefunden Dich liebte.
Gesucht und gefunden habe ich Dich, mein Herr,
und verlange Dich zu lieben.
Mehre mein Verlangen, und gib, was ich bitte:
weil, wenn Du Alles, was Du gemacht hast, mir gäbest,
es Deinem Knechte nicht genügt,
wenn Du Dich selbst nicht gibst.
Gib Dich selbst also mir, mein Gott, und überlaß Dich mir.
Siehe, ich liebe Dich, und wenn es auch wenig ist,
ich will Dich heftiger lieben.
Von Deiner Liebe also bin ich gefangen,
Von Deinem Verlangen erglüht,
von Deinem süßen Andenken ergötzt.
Siehe, während mein Herz nach Dir seufzt
und Deine unaussprechliche Güte erwägt;
drückt selbst die Last des Fleisches weniger,
schweigt der Tumult der Gedanken,
hemmt nicht nach gewohnter Weise das Gewicht
der Sterblichkeit und des vielen Elends.
Alles ist ruhig, Alles still.
Das Herz brennt, die Seele freut sich,
die Erinnerung wacht, der Verstand leuchtet,
der ganze Geist, entzündet von dem Verlangen
Deines Anschauens, sieht sich von der Liebe
des Unsichtbaren hingerafft.
Es nehme mein Geist Fittige wie des Adlers,
und fliege und ermatte nicht,
fliege und gelange bis zur Zier Deines Hauses
und zum Throne Deiner Glorie,
und weide sich da an dem Tische des Mahles
Deiner höhern Bürger, an Deinen Augen,
an den Weideplätzen neben den reichsten Gewässern.
Sei Du unser Frohlocken, der Du unsere Hoffnung bist,
unser Heil und unsere Erlösung.
 Sei Du unsere Freude, der Du unser Lohn sein wirst.
Dich suche beständig meine Seele,
und gib Du, daß sie im Suchen nicht ermatte.



3.

Weh der armen Seele, die Christus nicht sucht,
noch liebt, trocken bleibt und arm.
Es verliert, dieweil er lebt, wer Dich, seinen Gott nicht liebt.
Wer nicht sorgt Deinetwegen zu leben, o Herr,
ist Nichts und für Nichts.
Wer Dir zu leben sich weigert, ist gestorben.
Wer für Dich keinen Sinn hat, ist wahnsinnig.
Allbarmherzigster,
Dir empfehle, übergebe und lasse ich mich,
durch den ich bin, lebe und sinne.
Auf Dich vertraue ich, hoffe ich und setze ich
meine ganze Hoffnung,
durch den ich auferstehen, leben und ruhen werde.
Eine Seele, die Dich nicht sucht, noch liebt,
sondern die Welt liebt, den Sünden dient,
und den Fehlern unterworfen ist,
ruht nimmer, ist nimmer sicher.
Es diene Dir stets mein Geist, o Gütigster.
Es seufze stets nach Dir meine Pilgerfahrt,
es entbrenne in Deiner Liebe mein Herz.
In Dir ruhe, mein Gott, meine Seele,
betrachte Dich in dem Entzücken des Geistes,
singe Dein Lob im Jubel, und das sei
in dieser Verbannung mein Trost.
Mein Geist fliehe unter den Schatten Deiner Flügel
vor der Hitze der Gedanken dieser Erde.
Es ruhe in Dir mein Herz, dies Herz,
dies große Meer, mit angeschwollenen Fluthen.
O reich an allen Gaben, der höheren Sättigung
reichlichster Spender, gib, o Gott,
dem Erretteten Speise, sammle den Zerstreuten,
befreie den Gefangenen, und stelle den Zerrissenen wieder her.
Siehe, er steht an der Thür und klopft.
Ich bitte Dich durch die Größe Deiner Barmherzigkeit,
in der Du uns heimgesucht hast,
aus der Höhe aufgehend, laß dem elenden Klopfenden
doch geöffnet werden, daß er mit freiem Schritt
zu Dir eintrete, und in Dir ruhe,
und sich an Dir, dem himmlischen Brode, ersättige:
denn Du bist das Brod und die Quelle des Lebens,
Du das Licht der ewigen Klarheit,
Du Alles von dem die Gerechten leben,
die Dich lieben.



4.

Gott, Du Licht der Herzen, die Dich sehen,
und Leben der Seelen, die Dich lieben,
und Kraft der Gedanken, die Dich suchen,
gib, daß ich Deiner heiligen Liebe anhange.
Komm, ich bitte Dich, in mein Herz,
und berausche es in dem Reichthum Deiner Wonne,
daß es diese zeitlichen Dinge vergesse.
Es ekelt und verdrießt mich, dergleichen zu dulden,
wie die Welt es treibt.
Es ist mir traurig, was ich sehe;
es ist mir beschwerlich Alles, was ich
von diesem Vorübergehenden höre.
Hilf mir, Gott, mein Herr, und gib Freude in mein Herz;
komm zu mir, daß ich Dich sehe.
Aber eng ist mir das Haus meiner Seele,
bis Du zu ihr kommst, und sie erweitert wird von Dir.
Es ist in Verfall, bessere es wieder aus.
Es ist vieles drin, was Deine Augen beleidigt,
ich gestehe es und weiß es, aber wer wird es reinigen,
und zu wem anders soll ich rufen, als zu Dir?
Von meinen verborgenen Fehlern reinige mich, o Herr,
und wegen der fremden schone Deines Knechtes.
Laß mich, theuerster Christus, lieber Jesu, laß mich,
ich bitte Dich, aus Liebe und Verlangen nach Dir,
die Last der fleischlichen Begierden
und irdischen Gelüste ablegen.
Möge über das Fleisch die Seele herrschen,
über die Seele die Vernunft,
über die Vernunft die Gnade,
und unterwirf mich innerlich und äußerlich Deinem Willen.
Gib mir, daß Dich mein Herz lobe,
und meine Zunge und all' mein Gebein.
Erweitere meinen Geist und erhebe den Blick meines Herzens;
daß wenigstens mit einem flüchtigen Gedanken
mein Geist Dich berühre, die ewige Weisheit,
die über Allem weilt.
Löse mich von den Banden, ich bitte Dich,
von denen ich umfangen gehalten werde,
daß ich dies Alles verlassend nach Dir hineile,
Dir allein anhange,
auf Dich allein merke.



5.

Selig die Seele, die gelös't von dem irdischen Kerker
frei zum Himmel emporschwebt, die Dich,
süßester Herr von Angesicht zu Angesicht sieht,
die von keiner Furcht des Todes mehr heimgesucht wird,
sondern sich der Unvergänglichkeit der ewigen Herrlichkeit erfreute.
Sie ist ruhig und sicher, sie fürchtet jetzt keinen Feind
und den Tod nicht mehr.
Sie hat Dich, lieber Herr,
den sie lange gesucht und immer geliebt hat,
und den hymnensingenden Chören geeint,
singt sie die honigsüßen Gesänge
immerwährender Festlichkeit zum Ruhm Deiner Herrlichkeit,
König Christe, guter Jesu, in Ewigkeit.
Sie wird nämlich berauscht von der Fülle Deines Hauptes,
und mit dem Strom Deines Vergnügens trägst Du sie.
Selig die Genossenschaft der Himmelsbürger;
preiswürdig die Festlichkeit Aller,
die zu Dir zurückkehren von dieser Wanderschaft
trauriger Arbeit zu der Annehmlichkeit der Schönheit,
zu der Wohlgestalt all' des Glanzes
und zu der Würde all' der Herrlichkeit,
wo Dich ohne Unterlaß, o Herr, Deine Bürger schauen.
Durchaus Nichts, was den Geist verwirrt,
bekommen da die Ohren zu hören.
Welche Gesänge! welch' Orgelspiel! Welche Hymnen!
welche Melodieen werden da ohne Ende gesungen.
Es tönen dort ohne Unterlaß
die honigsüßen Klänge der Hymnen,
die wonnigsten Melodieen der Engel,
die wunderbaren Gesänge der Gesänge,
die zu Deinem Ruhm und Deiner Ehre
von den Himmelsbürgern gesungen werden.
Keine Bitterkeit, noch irgend Herbigkeit der Galle
hat dort in Deiner Gegend Platz.
Denn da gibt es keinen Bösen und keine Bosheit.
Keinen Feind und Widersacher;
noch irgend eine Lockung zur Sünde.
Da gibt es keine Entbehrung, keine Schmach, keinen Streit,
keinen Vorwurf, keine Händel, keine Furcht,
keine Unruhe, keine Strafen, keine Zweifelhaftigkeiten,
keine Gewaltthat, keinen Zwiespalt:
sondern es ist dort der höchste Frieden,
voller Liebe, ewiger Jubel und Lobpreis Gottes,
ein sicherer Ruhm ohne Ende,
und eine immerwährende Freude im heiligen Geiste.
O wie beglückt werde ich sein,
wenn ich die fröhlichen Lieder Deiner Bürger höre,
die honigsüßen Gesänge, die das Lob
der allerheiligsten Dreifaltigkeit verkünden.
Aber unbeschreiblich selig,
wenn ich selbst würdig bin das Lied zu singen
unserm Herrn Jesu Christo
von den süßen Gesängen Sions.



6.

O Leben voll Leben ewiges und ewig seliges Leben!
wo Freude ohne Schmerz, Ruhe ohne Arbeit,
Würde ohne Furcht, Reichthum ohne Verlust,
Gesundheit ohne Schwäche, Überfluß ohne Mangel,
Leben ohne Tod, Dauer ohne Abnahme,
Seligkeit ohne Unglück; wo alles Gute in der Liebe vollendet;
wo Bild und Anblick von Angesicht zu Angesicht;
wo volle Wissenschaft in Allem und durch Alles;
wo die höchste Güte Gottes gesehen
und das erleuchtende Licht von den Heiligen gepriesen wird;
wo man die Majestät Gottes gegenwärtig schaut,
und durch diese Speise des Lebens
der Geist der Anschauenden ohne Unterlaß gesättigt wird;
sie schauen immer, und verlangen zu schauen;
ohne Angst verlangen sie, und ohne Überdruß
werden sie ersättigt;
wo die wahre Sonne der Gerechtigkeit
Alle durch das Anschauen ihrer Schönheit erquickt,
und so die ganzen Bürger des himmlischen Vaterlandes erleuchtet,
daß sie selbst leuchten, ein Licht nämlich,
erleuchtet durch Gott,
ein Licht leuchtend mehr als aller Glanz unserer Sonne,
und alle Helle der Sterne,
indem sie der unsterblichen Gottheit anhangen,
und dadurch unsterblich und unvergänglich gemacht sind,
nach der Verheißung unseres Herrn und Heilandes:
Vater, die Du mir gegeben hast, ich will,
daß wo ich bin, auch sie mit Mir seien;
daß sie Meine Herrlichkeit schauen,
damit sie alle eins sind, wie Du, Vater, in Mir,
und ich in Dir, und sie in uns seien
.
(Joh. 17, 13)


 

7.

Reich des Himmels, glückseligstes Reich,
Reich, dem der Tod fremd, und das Ende fern,
in welchem keine Zeiten wechseln in der Ewigkeit,
wo der ewige Tag ohne Nacht keine Zeit kennt,
wo der siegreiche Kämpfer nach der Arbeit
mit unaussprechlichen Gütern überschüttet wird:
Während das edle Haupt die ewige Krone umschlinget.
Möchte mich nach Erlaß der Menge meiner Sünden
die göttliche Barmherzigkeit als den letzten der Knechte Christi
die Bürde dieses Fleisches ablegen heißen,
daß ich in die ewigen Freuden ihrer Stadt zur Ruhe einginge,
den heiligen Chören der Verklärten beiwohnte,
mit den seligen Geistern die Glorie des Schöpfers umgäbe,
von keiner Todesfurcht berührt würde,
über die Unvergänglichkeit ewiger Unsterblichkeit
sicher mich freuete, dem Allwissenden verbunden
alle Blindheit der Unwissenheit verlöre,
alles Irdische geringschätzte,
und dieses Thal der Thränen nicht einmal anschauen
oder auch nur ferner mich dessen zu erinnern mich herabließe,
wo ein Leben voll Mühsal, ein Leben voll Vergänglichkeit,
ein Leben voll von aller Bitterkeit, ein Leben, Herr des Bösen,
Sklavin der Hölle; welches die bösen Säfte aufschwellen,
die Schmerzen aufreiben, die Hitze vertrocknet,
die Luft angreift, die Speise ausdehnt, das Fasten verzehrt,
der Scherz lockert, die Traurigkeit aufreibt,
die Sorge beengt, die Sicherheit abstumpft,
der Reichthum übermütig macht, die Armuth muthlos,
die Jugend erhebt, das Alter niederbeugt,
die Krankheit bricht, die Traurigkeit niederdrückt,
der Teufel verfolgt, die Welt schmeichelt,
das Fleisch ergötzt, die Seele verblendet,
der ganze Mensch verwirrt wird.
Und auf diese so großen und vielen Übel
folgt wütend der Tod,
und macht den eitlen Freuden so ein Ende,
daß, wenn sie zu sein aufgehört haben,
sie kaum da gewesen zu sein scheinen.
Aber welches Lob, welchen Dank vermögen
wir Dir zu sagen, unser Gott,
der Du uns selbst unter diesen vielen Mühen
unserer Sterblichkeit nicht aufhörst
mit der wundersamen Heimsuchung Deiner Gnade zu trösten?
Sieh mich Elenden, von so viel Kummer voll;
wenn ich das Ende meines Lebens fürchte,
wenn ich meine Sünden betrachte,
wenn ich Dein Gericht fürchte,
wenn ich die Stunde des Todes bedenke,
wenn ich vor den Schrecken der Hölle bebe,
wenn ich nicht weiß, mit welcher Genauigkeit
und Sorgfalt meine Werke von Dir abgewogen werden;
wenn ich gar nicht gewiß bin,
wie ich sie am Ende schließen werde,
wenn ich Dies und vieles Andere bei mir im Herzen erwäge,
dann bist Du zum Troste da, Herr, mein Gott,
mit Deiner gewohnten Güte,
und unter diesen Klagen und vielem Weinen,
und dem tiefen Seufzen des Herzens
nimmst Du meine traurige und beängstigte Seele
auf die hohen Rücken der Gebirge
bis zu dem Duft der Wohlgerüche,
und setzest mich an den Platz der Weide
neben die Bäche lieblicher Gewässer,
wo Du vor meinem Angesichte
einen Tisch vielfach bestellt, bereitest,
welcher den ermüdeten Geist beruhige,
und das betrübte Herz erfreue,
durch welche Genüsse ich dann erquickt,
und meines vielen Elends vergessend,
über die Höhe der Erde erhoben,
in Dir, dem wahren Frieden ruhe.
 

aus: Mystische und ascetische Bibliothek
oder Sammlung der Hauptwerke der
Mystiker und Asceten vorzüglich des Mittelalters
Achte Publication:
Des heiligen Anselm Erzbischofs von Canterbury († 1109)
Buch der Betrachtungen
Neu herausgegeben, übersetzt und mit dem Leben
des Heiligen und den nothwendigen Erläuterungen versehen
von Adolf Buse Köln 1851 J. M. Heberle (H. Lempertz) (S. 209-226)



 


 

 


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