Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Joseph von Hammer-Purgstall)


Aus: Der Buchstabe Schin

VI. (6)

Heil dir Schiras und deiner unvergleichlichen Gegend!
Gott bewahr' dich vor dem Verfalle!

Hundertmal seyen gesegnet durch Ihn des Roknabads Fluthen, 1
Weil sie Chisers Kristalle verspenden. 2

Zwischen Dschaferabad 3 und dem weit berühmten Mosella 4
Wehet der Nordwind Ambragerüche.

Komm' nach Schiras und suche die Gaben des heiligen Geistes 5
Bey den Bewohnern, die Tugend besitzen;

Wer hat jüngst vom Kandelzucker Aegyptens gesprochen
Ohne daß Süßlippichte zürnten? 6

Ostwind bringst du mir von trunkenen Luliern Kunde? 7
Welche Kunde von ihrem Befinden?

Gott! erwecke mich nicht aus diesem Traum, denn es leistet
Mir das Bild des Liebchens Gesellschaft.

O mein Herz! wenn dein Blut das süße Mädchen vergießet,
Soll es wie Muttermilch dir gedeihen.

Wenn du Hafis die Leiden der Trennung befürchtest, o sag' mir,
Dankst du nicht für die Zeit des Genußes?

 

1 Roknabad, ein schöner Fluß bey Schiras.

2 Chiser ist nach der orientalischen Fabellehre der Hüter des Quells des Lebens, der im Lande der Finsterniß strömt. Grüne Fluren und fließendes Wasser, als Bilder der Jugend und des Lebens stehen unter Chisers Obsorge.

3 Dschaferabad, eine durch ihre Gärten und Landhäuser berühmte Vorstadt von Schiras.

4 Mosella, ein sehr besuchter Spazierort bey Schiras, wo der Dichter selbst begraben liegt.

5 Bey den Moslimen ist der heilige Geist keine göttliche Person, sondern der höchste der Engel, der mit seinen Flügeln den Thron Gottes überschattet.

6 Das Süßeste, was der Morgenländer kennt, ist ägyptischer Zuckerkandel; die Lippen aber, und die Rede der Schönen von Schiras sind noch viel süßer. Sie können sich mit Recht für beleidigt halten, wenn man die Süße des Zuckers, die mit der Süße ihrer Lippen in gar keinen Vergleich kommt, vor ihnen loben wollte.

7 Lulier, tartarische Knaben mit schönen wollusttrunkenen Augen.


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