Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Dal

58.

Schon liegt mein Buch durch viele Jahre
Verpfändet bei dem rothen Wein,

Und mein Gebet und meine Lehre
Sind's, die der Schenke Glanz verleih'n.

Betrachte nur des Wirthes Güte:
Denn, was wir Trunkene gethan,

Das sieht das Auge seiner Gnade
Für eine schöne Handlung an.

Wascht mir die Bücher meiner Weisheit,
Wascht mir sie insgesammt mit Wein!

Denn, dass der Himmel weisen Herzen
Beständig grolle, seh' ich ein.

Das Herz, gleich einem Zirkel, hatte
Nach jeder Seite sich gedreh't,

Indess es nun in jenem Kreise
Verwirrt auf festem Fusse steht.

 So rührend sang der holde Sänger,
Vom Schmerz der Liebe übermannt,

Dass selbst den Weisesten der Erde
Blut klebte auf der Wimpern Rand.

Froh blühte ich, weil - wie auf Rosen,
Die eines Baches Lippe küsst -

Der schlankesten Zipresse Schatten
Auch auf mein Haupt gefallen ist.

»O Herz, von Götzen ford're Anmuth,
Wenn du ein Schönheitskenner bist!«

So sprach, wer in des Blitzes Kunde1
Ein vielerfahr'ner Seher ist.

Mein rosenfarb'ner Greis2 erlaubte
Von der in Blau gehüllten Schaar3

Nie Ungebührliches zu sprechen,
Wenn Manches auch zu sagen war;

Nein, mit gefälschter Herzensmünze
Zahlt nimmermehr Hafis ihn aus:

 Es kennt ja die geheimen Fehler,
Wer mit uns lebt in Einem Haus.
 

1 Die Kunde des Blickes heisst soviel als die Kenntnisse der Liebe, wie denn auch ein Verliebter ein Besitzer des Blickes, der Einsicht heisst.

2 Unter dem rosenfarbenen (freundlichen) Greise ist Scheich Mehmed oder Mahmud Attar zu verstehen, Hafisens Lehrer in den Geheimnissen der Ascetik. Siehe die 4. Anmerkung zum 25. Ghasel aus dem Buchstaben Dal.

[4 Die gleichgefärbten Trinker, d.i. die Männer, deren Handlungen mit ihren Worten eins sind, sind die Jünger Scheich Mehmed oder Mahmud Attar's aus Schiras, zu denen auch Hafis gehörte. Er war nie eigentlicher Vorstand eines Derwischklosters gewesen, sondern handelte mit Gewürzwaaren, daher sein Beiname Attar, d.i. Gewürzkrämer. Wegen der Übereinstimmung seiner Handlungen mit seiner Denkweise hiess er Jekrenk, d.i. der Einfärbige und wegen seiner Freundlichkeit Gülrenk, d.i. der Rosenfarbene. Seine Anhänger waren in stetem Streite mit den blaue Kleider tragenden Jüngern des Scheich Hassan Asrakpusch, d.i. des Blaugekleideten; die Blauen sind die Betrachtenden, die Rosenfarbenen die Geniessenden. Die Schaar im blauen Kleide mit dem schwarzen (bösen) Herzen sind die falschen Ssofis, die Jünger des Scheich Hassan Asrakpusch]

3 Siehe die 2. Anmerkung zum 5. Ghasel aus dem Buchstaben Elif, und die 4. Anmerkung zum 25. Ghasel aus dem Buchstaben Dal.

[2 Die blaue Kutte, welche die Jünger des von Hafis für einen Gleissner gehaltenen Scheich Hassan Asrakpusch, d.i. des Blaugekleideten, und dadurch gleichsam anzeigen wollten, dass sie ihre Seele von irdischen Gelüsten rein hielten und zu Gott und dem Himmel erhöben. Sie waren erklärte Feinde des Scheich Muhammed oder Mahmud Atthar, des Lehrers Hafisens in den Geheimnissen der Ascetik. Hafis hatte von jenem Scheiche oft Vorwürfe über seine allzufreie Lebensweise zu ertragen.]

 

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