Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Dal

86.

Wer des Glückes Huld verdiente
Schon von aller Ewigkeit,

Drückt den Becher seiner Wünsche
An das Herz für alle Zeit.

Eben als ich schwören wollte
Zu enthalten mich vom Wein,

Sprach ich: »Trägt dies Bäumchen Früchte,
Werden's die der Reue sein.«

Und gesetzt, dass mir ein Teppich,
Lilienweiss die Schulter deckt:

Trägt ein Musulman Gewänder,
Rosenroth mit Wein befleckt?1

Einsam sitzen ohne Leuchte
Eines Glases kann ich nicht:

Muss der Winkel eines Weisen
Immer hell doch sein und licht.

Hell vom Kerzenlicht und Weine
Strahle meine Einsamkeit!

Thöricht ist der Trunk'nen Tugend
In der schönen Rosenzeit.

Jetzt im Lenz, im trauten Kreise,
Wo man nur von Liebe spricht,

Wär' es Stumpfsinn, nähm' den Becher
Aus des Liebling's Hand man nicht.

Immer strebe nach dem Höchsten:
Schmückt kein Demant auch das Glas,

Ist der schönste der Rubine2
Zechern doch der Rebe Nass.

Willst du guten Ruf erwerben,
Herz, so flieh' der Bösen Kreis:

Lust am Bösen, theure Seele,
Ist für Thorheit ein Beweis.

Scheint mein Thun gleich unvernünftig,
Sieh's doch nicht verächtlich an:

 Denn in diesem Land beneidet
Der Monarch den Bettelmann.

Gestern sprach ein Frommer: »Heimlich
Trinkt Hafis beständig Wein.«

Was geheim ist, o mein Frommer,
Kann doch wohl nicht Sünde sein.
 

1 D.h.: Wenn ich mir auch einen lilienweissen Betteppich (Sedschdschade) oder wie die Lilie einen weissen Betteppich um die Schulter hänge, um dadurch vor der Welt als rein und fromm zu erscheinen, so verrathen doch die rosenrothen Weinflecke auf meinem Gewande, dass ich kein wahrer Musulman sei.

2 Der den Körnern eines Granatapfels an Farbe gleichende Rubin, Jakuti rommani genannt.

 

zurück