Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Dal

105.

Es ist die Perle des Geheimnissschatzes1
Noch ganz dieselbe die sie immer war,

Und immer noch stellt auf der Liebe Kästchen
Dasselbe Siegel sich und Zeichen dar.

Verliebte Leute sind ein Häuflein Männer,
Auf die man baut mit aller Sicherheit,

Und desshalb ist das perlenvolle Auge
Noch ganz dasselbe wie in früh'rer Zeit.

Den Ostwind frage, ob durch ganze Nächte,
Bis dass des Morgens heller Strahl erscheint,

Nicht deiner Locke Wohlgeruch, wie immer,
Bei mir verweile als mein Seelenfreund?

Gibt es auch Niemand jetzt, der nach Rubinen
Verlangen trägt und Steinen edler Art,

Hat doch die Sonne, tief in Schacht und Grube,
Noch immer ihre alte Kraft bewahrt.2

Die blutigrothe Farbe meines Herzens,
Die du verbargest mit gar schlauem Sinn,

Erscheint nun klar und deutlich, ganz wie immer,
Auf deiner holden Lippe von Rubin.

Komm und besuche freundlich jenen Todten,
Der als ein Opfer deiner Wimper fiel:

Blickt doch dasselbe arme Herz noch immer
Voll von Erwartung auf dasselbe Ziel.

Nicht auf dem Weg, wie Räuber thun zu lagern,
Ermahnte ich dein Inderfarb'nes Haar,

Und Jahre flossen seit der Zeit vorüber,
Und immer noch ist's ganz so wie es war.

Hafis, erzähl' uns wieder die Geschichte
Vom Auge voll von Wasser und von Blut:

Denn es entströmet diesem reichen Quelle
Ja immer noch dieselbe Wasserfluth.
 

1 Der Liebe nämlich.

2 Nach der Meinung der Orientalen erhalten die Edelsteine durch die in die Tiefen der Erde dringenden Sonnenstrahlen wie nicht minder durch die Einwirkung von Wind und Regen, ihre Zeitigung und Farbe.

 

zurück