Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Se

9.

Wer erzählt die Leiden wieder,
Die ein blutend' Herz empfand?

Wer begehrt das Blut des Fasses
Wieder von des Himmels Hand?1

Vor dem Aug' der Weinverehrer
Fühle sich von Schaam durchglüht

Die betrunkene Narzisse,
Wenn im Lenz sie wieder blüht.

Nur der Wein, der gleich dem Plato
Immerdar im Fasse lebt,2

Sagt mir das Geheimniss wieder,
Das die Weisheit tief vergräbt.

Jedermann, der gleich der Tulpe
Kreisen liess den Weinpocal,

Wasche nur mit Blute wieder
Das Gesicht ob dieser Qual.3

 Heimlich stimmte schon die Harfe
Manches Lied der Klage an:

Drum beraube sie der Haare,
Und nicht wieder ächzt sie dann.

Wie die Knospe sich erschliesset,
So erschliesst mein Herz sich auch,

Wenn der tulpengleiche Becher
Wieder spendet süssen Hauch.

Um das heil'ge Haus des Fasses
- Wenn die Kraft es ihm erlaubt -

Hält Hafis den Umgang wieder:
Wär' es selbst auf seinem Haupt.
 

1 D.h. Wer begehrt den Wein zurück, der jetzt, bei strengem Weinverbote, auf den Boden gegossen werden musste?

2 Sollte heissen: Gleich dem Diogenes. Der Commentator Sudi verfällt hier in den gleichen Irrthum des Dichters.

3 D.h. Verscheuche die Qual, d.i. den Rausch, den ihm der Weinpocal verursachte, nur wieder mit Blut, d.h. trinke wieder blutrothen Wein.

 

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