Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte . . .

Kurze Liebesgedichte deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Ricarda Huch
(1864-1947)


Gebet

Meinen Liebsten zu behüten,
Bitt' ich dich, o Herr der Welt,
Der du aller Stürme Wüten
Ein gewisses Ziel gestellt.
Einen Engel wolle senden,
Daß er immer ihn umschwebe
Und mit seinen Himmelshänden
Über jeden Abgrund hebe.
(S. 33)
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"Höre auf nun, Liebster, mich zu küssen,
Mich zu küssen mit dem heißen Munde;
Was hilft mir der Kuß von dieser Stunde
In der nächsten, die dich mir entrissen?"
Liebes Herz, nicht darum küsse ich,
Daß es helfe, noch den Mut dir stähle;
Ach, im Kusse klammert sich an dich
Meine arme, trennungsbange Seele.
(S. 50-52)
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Der Teufel soll die Sehnsucht holen!
Ich lieg' in einem Bett von Nesseln,
Auf einem Rost von glühnden Kohlen,
In einem Netz von ehrnen Fesseln!
Das Auge sehnt sich aus der Höhle,
Der Busen sehnt sich aus dem Mieder;
Ich wollt', es sehnte auch die Seele
Sich aus dem Leib und käm' nicht wieder!
(S. 60-61)
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Mit meinem Liebchen Hand in Hand
Durchwandr' ich Tal und Berg und Land,
Voll Ruhe, nicht zu sagen.
O wäre in der ganzen Welt
Nur für ein Stündlein eingestellt
Das Morden und das Jagen,
Daß wir nicht müßten ganz allein
So friedenvoll und wunschlos sein.
(S. 163-164)
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Bestimmung

Was ist in deiner Seele,
Was ist in meiner Brust,
Daß ich mich dir befehle,
Daß du mich lieben mußt?
Vom Haus, wo ich gewohnt
Und zart behütet bin,
Ziehst du mich, wie der Mond,
Nachtwandelnd zu dir hin.
(S. 175)
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Wie schön du bist, das können Sonnenstrahlen ,
Das kann der Pinsel malen.
Wie gut du bist, das kann kein Bild beweisen,
Das kann Gesang nur preisen.
Der müßte rauschen und das Weltgebiet
Mit Melodie durchdringen -
Ich habe nichts als dieses kleine Lied!
Ein Glöckchen zum Lobsingen.
(S. 186-188)
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Der Becher klingt; mein Herz ist der Becher!
Trink Liebe, trinke dich satt!
Es zittert; o berauschter Zecher,
Der fest in bebenden Händen es hat!
Wer hat wie du ein Meer zum Pokale?
Ein Meer voll wachsender Glut!
Es saugt aus eurem feuchten Strahle,
Ihr trunkenen Augen, die himmlische Flut.
(S. 228)
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Ich werde nicht in deinem Herzen satt,
Nicht satt an deiner Küsse Glutergießen.
Ich will dich, wie der Christ den Heiland hat:
Er darf als Mahl den Leib des Herrn genießen.
So will ich dich, o meine Gottheit, haben,
In meinem Blut dein Fleisch und Blut begraben.
So will ich deinen süßen Leib empfangen,
Bis du in mir und ich in dir vergangen.
(S. 228)
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Wo hast du all die Schönheit hergenommen,
Du Liebesangesicht, du Wohlgestalt!
Um dich ist alle Welt zu kurz gekommen.
Weil du die Jugend hast, wird alles alt,
Weil du das Leben hast, muß alles sterben,
Weil du die Kraft hast, ist die Welt kein Hort,
Weil du vollkommen bist, ist sie ein Scherben,
Weil du der Himmel bist, gibt's keinen dort!
(S. 228)
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Aus: Ricarda Huch Gesammelte Werke
Fünfter Band: Gedichte, Dramen, Reden,
Aufsätze und andere Schriften
Herausgegeben von Wilhelm Emrich
Kiepenheuer & Witsch 1966-1970



 

 


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