Karoline Leonhardt (1811-1899) - Liebesgedichte

 


Karoline Leonhardt
(1811-1899)


Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 

 

Weihnachtsgruß an den Geliebten

Als Kindlein hab' ich oft gefragt,
Warum's so lang am Christfest tagt?
Denn erst bei milder Sterne Schein
Zog auch bei mir das Christkind ein.

Auch heute war der Tag so lang,
Am Fenster stand ich trüb' und bang'.
"Werd' ich den Theuern heut' noch sehn?
Gott, ist ein Unglück ihm geschehn?"

Da hört' ich Deiner Stimme Laut,
Du grüßtest mich so lieb und traut,
Und bringst der Kindheit süßes Glück
In Dir als Christgeschenk zurück!
(S. 99)
_____

 

Bitte, Bitte!

Bitte, bitte, öffne Du
Deine lieben Augenlider,
Lang' ist noch die Nacht zur Ruh',
Sieh'st mich ja so bald nicht wieder.

Bitte, bitte, noch einmal
Laß mich ruhn an Deinem Herzen,
Da vergeß' ich jede Qual,
Süß sind selbst der Trennung Schmerzen.

Bitte, bitte, nenne mich
Mit gewohnten Liebestönen!
Ewig ruf' ich Dich, nur Dich,
Ach, mit Hoffnung und mit Sehnen!

Bitte, bitte, schmeichle süß
Noch einmal dem kranken Kinde,
Daß ich all' mein Paradies
Heut' noch einzig in Dir finde!

Und nun schlaf' ich selig ein,
Um im Traume Dich zu sehen.
Laß Dein Herz stets bei mir seyn,
Bald mich wieder mit Dir gehen!

Hier wie dort, stets Dich, nur Dich!
Dir nur will ich angehören!
Leise, leiser küsse mich,
Meinen Schlummer nicht zu stören!
Bitte, bitte! Bitte, bitte!
(S. 91-92)
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Meine Liebe

Blumen blühn im Frühlingshaine,
Sterne glühn am Himmelszelt,
Stralen in der höchsten Reine
Auf die buntbewegte Welt.

Nach den Sternen kann ich blicken,
Doch erreichen nimmer sie,
Darum will ich Blumen pflücken,
Die des Lenzes Hauch mir lieh! -

Du, den einzig ich erwähle,
Kennest meine Liebe schon,
Und doch bleibt in uns'rer Seele
Noch manch' unerklungner Ton.

Liebesglück will ich Dir geben
Unter süßen Träumerei'n,
Tauschen für mein ganzes Leben
Deine höchste Liebe ein!

Und mit kindlichem Vertrauen
Bring' ich meine Seele dar;
In Dein Inn'res laß mich schauen,
Denn es ist mein Festaltar!

Wenn die Blume dann verblühet,
Fürcht' ich nicht des Winters Macht,
Denn es schimmern unverglühet
Sterne mir in ew'ger Pracht.
(S. 86-87)
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Im Sturme

Die Glocke tönt so hell vom Thurm,
O schweige stille, böser Sturm!
Ihr Lüftchen, schmeichelt mild und süß,
Dann kommt mein Liebster ganz gewiß!

"So spät noch und trotz Schnee und Wind
Begrüßest du dein trautes Kind?
Und bringst, wie öd' es draußen sey,
Mir meines Lebens Liebesmai?"

Nun, holde Sterne, funkelt nicht,
Ihr Wolken, scheucht des Mondes Licht
Und sendet Schnee und Regen her!
Dann geht mein Liebster nimmermehr.
(S. 112)
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An Franziska

Sie ging als Abendstern vor seinen Träumen
und als Morgenstern vor seinen Tagen auf.
Jean Paul

Die Lüfte wehen leiser in den Zweigen,
Es ist so still und drum so traulich hier,
Ich liebe die Natur in ihrem Schweigen,
Und meine Seele ist allein bei Dir.
Zu Dir flücht' ich aus freudenleeren Räumen,
O meine Nacht ist nicht an Sternen leer:
Als Abendstern geh'st Du vor meinen Träumen,
Als Morgenstern vor meinem Tage her.

Ein neues Leben ist mir aufgegangen,
Seit ich in Dir die treue Freundin fand,
Die manch' Geheimniß still und mild empfangen,
Die meine Liebe, meinen Schmerz verstand.
Mich trennen nun der fernen Berge Säume
Von Dir, die einst an meinem Herzen lag:
Als Abendstern erhell'st Du meine Träume,
Als Morgenstern verklär'st Du meinen Tag.

Du bist mein einzig Träumen und mein Denken,
Bist meines Lebens Liebe und mein Glück.
Wie könnt' ich mich in meinen Gram versenken?
Du zauberst die Vergangenheit zurück!
Dich such' ich auf des Erdballs weitem Raume,
Vereint mit Dir möcht' ich hinauf, hinauf:
Du geh'st als Abendstern im letzten Traume,
Als Morgenstern des neuen Tages auf!
(S. 8-9)
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Sehnsucht

Durch das Leben schreit' ich leise
Ohne Leben, ohne Glück,
Kehr' aus jedem lauten Kreise
Immer trauriger zurück;
Habe für mein banges Sehnen
Weder Klagen mehr noch Thränen,
Suche immer treu gesinnt
Dich nur, die ich nimmer find'.

Ist's auch todeskalt und stille
In der schlummernden Natur,
Schläft doch unter weißer Hülle
Eine bunte Blumenflur.
Also trag' ich tief im Herzen
Meine Liebe, meine Schmerzen,
Suche immer treu gesinnt
Dich nur, die ich nimmer find'.

Meine, es sind kalte Seelen,
Wenn mir etwas weh gethan,
Glaube so mir zu verhehlen,
Was ich nie vergessen kann.
Hätte gern dem bunten Leben
Meine Hoffnungen gegeben,
Suche immer treu gesinnt
Dich nur, die ich nimmer find'.

Wenn der Morgen aufgegangen,
Trägt mit treuer Liebe Sinn
Mich Erinn'rung und Verlangen
Stets zu meiner Lieben hin.
Ach, um so verschied'ne Ziele
Müh'n sich stets der Menschen Viele!
Ich such' immer treu gesinnt
Dich nur, die ich nimmer find'.

Immer geht mein Wunsch und Streben
Nach des Friedens stillem Reich;
Ach, es kommt kein Schmerz im Leben
Unerfüllter Sehnsucht gleich.
Weiß es ja, ich muß vergehen,
Kann ich Dich nicht wieder sehen.
Suche immer treu gesinnt
Dich nur, die ich nimmer find'.
(S. 42-44)
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Mein Tagewerk

Eh' noch der ros'ge Morgensaum
Den klaren Himmel küßt,
Hab' ich Dich schon im süßen Traum
Im Dämmerlicht begrüßt.

Und als vom Sonnenstral verweht
Nun Abschied nahm die Nacht,
Hab' ich erst Deiner im Gebet
Getreu und wahr gedacht.

Und Dich nur denkend immerdar
Flocht ich die Locken fein,
Und wünscht', es möchte jedes Haar
Für Dich ein Kettchen seyn.

Zu meiner Arbeit geh' ich nun;
Doch wo auch weilt der Blick,
Bei allem Denken, allem Thun
Kehrt er in's Herz zurück.

Es schwindet so der lange Tag,
Die Dämm'rung bricht herein;
Wo er wohl jetzt verweilen mag,
Gedenket er auch mein?

Und wie gar oft zähl' ich auf's Neu'
Die Stunden, die vergehn,
Bis wir uns Beide wahr und treu
Und glücklich wieder sehn.

Du hast mich heute nicht begrüßt,
Doch hab' ich Dein gedacht,
Und weil Du nicht gekommen bist,
Dies kleine Lied gemacht.
(S. 54-55)
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Bitte an -
(Aus der Novelle: Die Verwahrlos'te.)

Darum vergieb, vergieb mir, weil ich liebe;
Vergieb mir, daß ich Dir es blicken ließ!
Romeo und Julia

Ein buntes Chaos wogt in meiner Seele
Von tiefen Schmerzen, ach, und Himmelslust;
Ich weiß nicht, ob ich recht thu' oder fehle,
Daß ich Dich liebe ist mir nur bewußt.
Die frohe Zeit enteilt, o daß sie bliebe,
Und mit ihr süßer Kindheit Paradies.
Jetzt weiß ich es, was Leben ist und Liebe,
Vergieb mir, daß ich Dir es blicken ließ!

Ich sah Dich einst, um nie Dich zu vergessen,
Du zaubertest ein schön'res Daseyn mir.
Was Theures auch mein liebend Herz besessen,
Es findet einzig jetzt sein Glück in Dir.
Wie auch die Zukunft sey, ob froh, ob trübe,
Ach, wär' ich Deiner Liebe nur gewiß!
Du kennst mich nicht! – Vergieb mir, daß ich liebe,
Vergieb mir, daß ich Dir es blicken ließ!

Nur einmal liebt ein innig fühlend Wesen,
Wohl heiß und rücksichtslos, doch rein und treu.
Doch konntest Du in meinen Augen lesen,
Daß meine Liebe wahr und ewig neu.
Vergebens ist's, daß ich Verstellung übe,
Verrieth ich mich, Du Lieber, so vergiß.
Vergieb, vergieb mir einzig, weil ich liebe;
Vergieb mir, daß ich Dir es blicken ließ!

Ein Traumbild war's in wechselnden Gestalten,
Halb freud-, halb leidvoll sah ich's von mir gehn;
In hellen Farben wird's die Seele halten,
Durch Träume wird das ernste Leben schön.
Nicht mehr in's Ferne fühl' ich mich getrieben,
Ich bin nichts mehr. Ich schlummre, aber süß,
Ich kann nichts mehr, als denken Dich und lieben,
Vergieb mir, daß ich Dir es blicken ließ! –
(S. 63-65)
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Das zurückgebliebene Mädchen

Früh mit dem ersten Tagesschein
Verließ mein Schatz die Stadt,
Ich ging zu seinem Schwesterlein
Und weinte mich recht satt!

Drauf band ich unsre Nelken an,
Sie standen wie im Thau,
Denn manche heiße Thräne rann
Auf diese kleine Au.

Die Mutter ließ mich stille gehn
Und sagte mir kein Wort.
Sie schien mich schweigend zu verstehn,
Ich weinte immer fort.

Ach, bei des Abends mildem Hauch
Ward süßes Weh mein Leid,
Mein Liebster sieht das Mondlicht auch,
Und wär' er noch so weit!

Nun dacht' ich: ach, so wäre doch
Ein Tag nun hingebracht,
Und sagte nur ganz leise noch
Dem Liebsten gute Nacht!
(S. 40-41)
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Guten Morgen

"Guten Morgen" wird so oft gesagt, eh' einmal man bedenkt,
Was uns in diesem Gruße tönt und was man dafür schenkt.

Ach, mancher Morgen kommt und geht; doch trittst Du grüßend ein,
So kann ja dieser Morgen nur ein guter Morgen seyn.

Oft scheucht der Sonne heit'res Licht in uns nicht tiefe Nacht,
Doch weiß ich ja, wenn ich Dich seh', daß mir ein Morgen lacht!

Auch glaub' ich fest, daß diesen Gruß zuerst die Liebe sprach,
Die Liebe nur macht wahrhaft gut und küßt die Schläfer wach.
(S. 36-37)
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Ein Gruß

Ich grüße Dich viel tausend Mal,
Du mein geliebtes Herz!
Viel tausend Mal, viel tausend Mal? –
O nein, das ist nur Scherz!

Ich grüße Dich so viele Mal,
als Lenzesblumen blühn
Und als am blauen Himmelszelt
der goldnen Sterne glühn!

Als Blumen duften, Sterne glühn?
Ob's so wohl heißen muß? -
Ach, holder Freund, ich bringe Dir
nur einen einz'gen Gruß!
(S. 88)
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Liebesgabe beim Wiedersehn

Ich hab' Dir noch kein Wort gesagt,
Das wieder Dich begrüßt,
Und Du hast mich noch nicht gefragt,
Ob Du mir lieb noch bist.

Kein Denkemein aus fernem Land
Hab' ich Dir mitgebracht,
Du hast mir keinen Gruß gesandt,
Doch immer mein gedacht.

Ich Arme nenne gar nichts mein,
Was schenk' ich nun wohl Dir?
Ich hab' ein Buch vom Mütterlein,
Drin liegt ein Blatt Papier.

Und auf dem Blättchen zart und fein
Steht noch ein Segensspruch:
"Sey wahr und treu, von Unrecht rein!"
Und dann ihr Namenszug.

Ich küßt' es oft mit stillem Schmerz,
Weil es mein einz'ges blieb;
Heut sendet Dir's mein treues Herz,
Weil Du mir gar so lieb.
(S. 49-50)
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Mein Rosenstock

Ich habe einen Rosenstock und fünfzehn Knospen d'ran,
Und wenn ich oftmals traurig bin, seh' ich die Rosen an.

Sie nicken in der Lüfte Spiel, wenn sie so lieblich blühn,
Dann denk' ich leis: o grüßet mir wohl fünfzehn Male ihn!

Sagt ihm, daß ich stets traurig bin, doch wenn er mein vergaß,
Dann, Rosen, duftet mir nicht mehr und werdet alle blaß!

Doch denkt er mein mit treuem Sinn', so lächelt' allzumal,
Ich meine dann, ihr grüßet mich von ihm auch fünfzehn Mal.

Ich habe weder Schmuck noch Gold, auch sucht's nicht mein Gemüth,
Wenn nur so lang ich lebe stets der Rosenstock mir blüht.

Und wenn ich dann gestorben bin, so pflanzet auf mein Grab
Nichts weiter als den Rosenstock, den mir mein Liebling gab!
(S. 15-16)
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Das todte Herz

Mein Herz das ist begraben
Tief und gar weit von hier!
Altes Lied

Ich höre tausend Freuden,
Ich seh' wohl tiefen Schmerz;
Fühl' selbst nicht Glück noch Leiden,
Hab' in der Brust kein Herz.
Es bot wohl süße Gaben
Das Leben einst auch mir.
Jetzt? – Ist mein Herz begraben
Tief und gar weit von hier!

Ich wollt' es einst verschenken
Und tauschen für mein Glück.
Gab Dir mein Seyn und Denken,
Doch gab'st Du mir's zurück.
Da wollt' ich's nicht mehr haben,
Und weil's nicht ist bei Dir,
So hab' ich es begraben
Tief und gar weit von hier.
(S. 47-48)
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Ein kleines Lied

Ich möchte heute innig singen,
Was hell in meiner Seele glüht,
Und Dir des Herzens Sprache bringen
In einem einfach wahren Lied.

Die trauten Klänge, sie verschweben,
Sie leben – doch sie tönen nicht;
Ach, mein durch Dich erblühtes Leben
Ist ja mein herrlichstes Gedicht!
(S. 10)
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Sein Abschied

Leb' wohl, mein Herz, gedenke mein,
Wenn ich werd' in der Fremde seyn!

Sey Du gefaßt und sprich kein Wort,
Seufze nur still – "Nun ist er fort!"

Dein denk' ich immer, früh und spät,
Gedenk auch meiner im Gebet!

Wenn einst mein Mund das Jawort spricht,
Denk ich betrübt – sie ist es nicht!

Hörst Du, daß ich gestorben bin,
Komm, Du Treue, bald zu mir hin.

Freue Dich, daß ein ganzes Jahr
Lieb' um Liebe in Dir war!
(S. 45)
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Das liebende Mädchen

Lieb Mägdlein, was schlüpfest du schnell durch den Klee
Und schauest nicht um dich im Gehen?
"Ich eile – doch still! – eh' es dunkelt, zum See,
Mich dreimal im Spiegel zu sehen."

Im See wohnt ein Zaubrer, auch kommt bald die Nacht.
"O gehet, ihr wollet nur scherzen,
Ich trage, und doch hat mir's Glück nur gebracht,
Ein zauberisch Bild schon im Herzen."

Was willst du am See? "Ich will rufen hinab
Und flehend die Feie beschwören,
Die Anmuth und Schönheit so Mancher schon gab;
Wird wohl auch mein Bitten erhören."

Du hast ja schon Aeuglein wie Sterne so klar,
Und Hände so weich wie von Seide,
Reich wall't bis zur Hüfte dein nußbraunes Haar,
O Mägdlein, die Eitelkeit meide!

"Nicht mir zu gefallen besuch' ich die Fee'n,
Ich will für den Liebling mich schmücken.
Er soll, hat er heute so gern mich gesehn,
Mich morgen noch schöner erblicken."
(S. 51-52)
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Lied
(Nach dem Altdeutschen)

Nicht sollst du, o Seele, erbeben,
Wenn Trennung vom Freunde erscheint,
Nur einmal, noch einmal im Leben
Zwei Thränen zum Abschied geweint!

Nicht darfst du, o Seele, beklagen,
Wenn scheidend dich Liebe begrüßt;
So heiß wie in schöneren Tagen
Zwei Lippen zum Abschied geküßt!

Nicht mög'st du vergehen in Schmerzen,
Wenn sterbend dein Liebstes erbleicht;
Noch einmal aus treuestem Herzen
Zwei Hände zum Abschied gereicht!

Zwei Thränen zum Abschied geweinet,
Zwei Lippen zum Abschied geküßt,
Zwei Hände zum Abschied vereinet,
Die haben das Scheiden versüßt!
(S. 82-83)
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Geheimes Lied

Noch hör' ich Dich beim Abschied sagen:
Ich kehre bald zu Dir zurück!
Du schalt'st nicht meine leisen Klagen,
Und weil'st noch fern von mir, mein Glück?
Doch bin ich froh, blüht Dir nur Freude,
Mein bleibst Du stets mit treuem Sinn;
Du weißt ja nicht, daß ich jetzt leide
Und fern von Dir so traurig bin!

Den Stunden möcht' ich Flügel geben,
Denn jede bringt Dich näher mir,
Ein Band von Liebe will ich weben
Und Dich dann immer halten hier.
Doch glaub' nicht, daß ich Andre neide,
Wo Dir das Glück blüht, ziehe hin!
Du weißt ja nicht, daß ich jetzt leide
Und fern von Dir so traurig bin.

O fühltest Du des Herzens Qualen,
Das bang und ahnend zu mir spricht;
Ob Hoffnung und Erinn'rung stralen,
Sie sind doch nur ein Dämmerlicht!
Doch darum, Freund, nicht früher scheide,
Ist auch Dich sehen mein Gewinn.
Du weißt es nicht, daß ich jetzt leide
Und fern von Dir so traurig bin.
(S. 89-90)
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Wünsche

O möcht'st Du stets mich treu umgeben,
Mir auch im Tode nahe seyn!
O nennt' ich für mein ganzes Leben
Beseligt Deine Liebe mein!

Doch willst Du kalt Dich von mir wenden,
Erhöre, Ew'ger, mein Gebet:
Dann möge schnell mein Leben enden,
Eh' dieser Himmelstraum vergeht!
(S. 100)
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An das Liebste

Ob ich wohl lebte hundert Jahr',
so langt die Zeit doch nicht,
Zu sagen, was in meiner Brust
von Dir die Liebe spricht.

Ob ich wohl lebte tausend Jahr',
flieht doch die Zeit dahin,
Eh' Du es weißt, wie fest und wahr
und wie getreu ich bin!

Und lebt' ich Millionen Jahr,
ich nennte nicht das Weh,
Das immerfort mein Herz zerreißt,
wenn ich Dich nicht mehr seh'.

Doch jetzt noch bist Du nahe mir;
zu künden Dir dies Glück,
Brauch' ich nicht eine kleine Zeit, -
nur einen einz'gen Blick!
(S. 66)
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Oswald an Corinna

Ob's Ahnung giebt, hör' ich so Viele fragen,
Und die Gelehrten lächeln still dazu,
Weil sie den Streit mit Frauen doch nicht wagen;
Mein süßes Leben, sage, was denk'st Du?
Ist Ahnung nur ein Kind auf lichtern Höhen?
Bleibt sie dem Erdbewohner immer fern?
Ist Ahnung wohl das leiseste Verstehen,
Und träum' ich darum nur von Dir so gern?

Ist's Ahnung, wenn mir eine Stimme kündet,
Ob froh, ob traurig Du und wo Du bist?
Es wird das Herz vom Herzen nur ergründet,
Wie auch der Zephyr nur die Blumen küßt.
Ist's Ahnung, wenn ich eine Zukunft sehe,
Durch Deine Liebe rosenfarb' und mild?
Ich wünsche einzig mich in Deine Nähe,
Denn Du allein bist süßer Ahnung Bild!

Ja, Ahnung lebt, dies will ich kühn beschwören,
Doch ward sie nur dem fühlenden Gemüth;
Die Ahnung will der Liebe nur gehören,
Und darum ist sie neben ihr erblüht.
Sie gleicht dem leicht zerstörten Zauberkreise,
Wer niemals liebte, o der kennt sie nicht,
Sie sagt dem Herzen wunderbar und leise,
Was klar und kühn die heiße Liebe spricht.
(S. 95-96)
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Stille Liebe

Heimlich und doch inniglich
Liebten wir uns Beide
Altes Lied

Sonst sah mich der Morgenstral
Freudig mit Dir gehen,
Dich begrüßt' ich tausend Mal,
Glücklich Dich zu sehen.
Was ich that, es war für Dich,
Sah'st es stets mit Freude;
Heimlich und doch inniglich
Liebten wir uns Beide.

Kam'st Du aus dem Wald zurück,
Müd' von rauhen Wegen,
Flog ich mit der Liebe Blick
Immer Dir entgegen.
Hatte Dich, Du hattest mich,
Fern von jedem Leide,
Heimlich und doch inniglich
Liebten wir uns Beide.

Setzte mich so gern zu Dir,
Sprach von meiner Liebe,
Bat nur Eins vom Schicksal mir,
Daß es stets so bliebe.
In der Zeit, die schnell entwich,
Spannen wir nur Seide;
Heimlich und doch inniglich
Liebten wir uns Beide.

Was gefühlt ich und gedacht,
Konntest Du verstehn;
Riefest stets zur guten Nacht:
"Morgen Wiedersehen!"
Du bist dort und hier bin ich,
Sag', ob dies uns scheide?
Heimlich und doch inniglich
Lieben wir uns Beide!
(S. 76-78)
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Liebeslieder der Eva von Trotha *

* Eva von Trotha war ein Edelfräulein der Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel und die Geliebte des Herzogs Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Um den Verdacht der Herzogin nicht zu erregen, entfernte sie der Herzog vom Hofe. Auf der Reise nach ihres Vaters Burg erkrankte sie im Kloster Gandersheim und ward daselbst für todt begraben. Heimlich ließ sie der Herzog aus der Gruft befreien, und unter einem andern Namen lebte Eva von Trotha noch mehrere Jahre auf einer abgelegenen Burg als die Geliebte des Herzogs. Dies geschah im Jahre 1539. Anmerk. der Verf.
 

1.
Eva im Sarge, in der Gruft zu Gandersheim

Still ist's um mich, schon hat die Nacht begonnen,
Die mich der liebeleeren Welt entzieht,
Mir öffnet jetzt der Sarg ein Land voll Wonnen,
Wo mir des Lebens reines Licht erglüht.

Ein leiser Seufzer schallt in diesen Räumen; -
Weck' nicht die Todten zu des Lebens Müh'n!
Naht nicht, ihr Schauer, mir mit Fieberträumen,
Wo Liebe lebt, muß selbst der Tod entflieh'n!

Mit Perlen fühlt' ich mich von Freunden schmücken,
Mit Myrten von der Nonnen zarter Hand,
Doch ew'ges Leben, himmlisches Entzücken
Hat Heinrich in der Rose mir gesandt.

Drei Knospen sind's, die Treue mir verkünden,
Ha, ist's die Glocke, welche dreimal klingt?
Um diese Stunde kommt er, mich zu finden,
Der Morgen strahlt, die dunkle Nacht versinkt!

Lebt wohl, Gefährten dieser ernsten Stunden,
Für mich an Bangen und an Hoffnung reich!
Ihr Schlummernden, habt ihr wie ich empfunden,
So ist für euch das Grab dem Himmel gleich.

Den Lieben hat es wieder euch gegeben,
Ihr seyd vereint, drum gönnt auch mir mein Glück! -
Er nah't, ich hör' ihn! – Hätt' ich tausend Leben,
Die Leben all' für diesen Augenblick!


2.
Eva, die Todtgeglaubte, in ihrer Kammer

Ach, Mancher dünkt sich fest gebunden,
Die weite Erde scheint ihm klein;
Ich hab' die ganze Welt gefunden
In meinem stillen Kämmerlein.

Von früh bis spät schau' ich mit Bangen
Nach dem begränzten, steilen Pfad,
Auf dem mit liebendem Verlangen
Mein heißersehnter Liebling naht.

Ob auch als Schönste aller Schönen
Kein Ritter Eva mehr erkennt,
Wenn Heinrich nur mit süßen Tönen
Mich seine einz'ge Liebe nennt.

Noch gestern hört' ich seine Worte,
Noch blühet mir sein duft'ger Strauß;
So schmück' ich stets, am stillen Orte,
Ein Paradies voll Bilder aus.

Drum such' ich nicht die große Erde,
Kein Schloß voll Gold und Edelstein.
Ich wünsche, bis ich scheiden werde,
Mir nur dies traute Kämmerlein.
(S. 22-26)
_____

 

Stille, stille!

Stille, still! das sag' ich dir,
Vöglein, rege nicht die Schwingen,
Denn die Holde schlummert hier,
Will den schönsten Traum ihr bringen!
Stille, stille!

Stille, stille! Bach der Au,
Blüten, laßt euch freudig pflücken,
Sollet ja der schönsten Frau
Jetzt die Schlummerstätte schmücken.
Stille, stille!

Stille, stille! Käferlein,
Wag' es ja nicht, sie zu necken,
Sie zu küssen, - ich allein
Will die Heißgeliebte wecken.
Stille, stille!

Stille, stille! grünes Laub,
Störe flüsternd nicht mein Gehen,
Um den allerschönsten Raub
Wär' es sonst im Nu geschehen.
Stille, stille!

Und ich küsse wie ein Hauch; -
Unter langer Wimpern Golde
Zürnt das dunkle, halbe Aug',
"'s ist Traum nur, meine Holde!
Stille, stille! Stille, stille!" –
(S. 59-60)
_____

 

An den Entfernten

Um mich her ein buntes Treiben,
Aber meine Welt ist leer,
Denn Du sollt'st in ihr nicht bleiben -
Mein gedenkest Du nicht mehr!

Seh' allnächtlich sich entfalten
Ueber mir ein Sternenheer,
Konnt' doch meinen Stern nicht halten, -
Mein gedenkst Du ja nicht mehr!

Mag an keine Vorsicht denken,
Glaube an kein Ungefähr! -
's könnt' ein Wort mir Frieden schenken,
Doch an mich denk'st Du nicht mehr!

Dachte immer Dich im Leben,
Und an nichts mehr um mich her;
Hatte Dir mein Herz gegeben,
Doch an mich denkst Du nicht mehr!

Will Dich auch nicht wiedersehen,
Nur ein Kampf wär's, bang und schwer!
Konnt'st Du je mich mißverstehen,
Kennst Du mich auch jetzt nicht mehr!
(S. 97-98)
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Blumenglück

Was flüstert dort im bunten Laube
So traurig und doch wundermild?
Was singt die Rebe hier zur Traube,
Und was die Blume im Gefild'?

Sie nehmen Abschied von den Lüften,
Sie weinen um den Sonnenstrahl
Und sagen sich in süßen Düften:
Wir sehn uns selbst zum letzten Mal.

Und stiller wird's auf Flur und Auen,
Der Strom vermißt des Ufers Grün,
Läßt kälter nun die klaren, blauen,
Einsam geword'nen Wellen ziehn.

Und schneller kommt der Mensch gegangen,
Kein lieblich Blümchen hält ihn fest,
Dem er mit Hoffnung und Verlangen
Die Frühlingsträume überläßt.

O möchtest du noch länger leben,
Du Blüthe weiß und rosenroth?
"Nein, nein! Nach Ruhe geht mein Streben,
Zu neuem Daseyn führt der Tod!

Des Herbstes Wehn, der Sonne Scheiden
Hat Wunsch und Sehnsucht abgekühlt;
Und ist das Herz nicht zu beneiden,
Wenn's diese Trennung nicht mehr fühlt?" -

Was mich erfreute hier auf Erden,
Ist längst für mich schon abgeblüht.
O wird's denn nicht bald herbstlich werden
In meinem glühenden Gemüth?

Wohl sind die Blumen zu beneiden,
Sie sterben mit der Sonne Schein;
Das Herz geht erst nach langem Leiden
Zum ew'gen Frühlingslichte ein.
(S. 5-6)
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Knospenglück

Was regt sich unter grünen Hüllen
Am Hälmchen und am stolzen Baum?
Was wächst und breitet sich im Stillen,
Umweht von süßem Morgentraum?

Die Blumen sind's, ihr frisches Streben
Ist Frühlingsglück und Frühlingsgruß,
Sie möchten duften, möchten leben,
Sie harren auf der Sonne Kuß.

Die Knospe lauscht den heitern Sängen,
Der braunen Lerche Jubellied,
Die Hülle möchte sie zersprengen,
Die Sehnsucht wünscht: sie sey erblüht!

O möchtest du vergehn und schwinden,
Eh' dich berührt der Sonne Strahl,
Du Blüthe! Leben und Empfinden
Ist oft nur Schmerz und herbe Qual.

Zerreiße nie den zarten Schleier,
Nicht, Blüthe, deinen grünen Saum; -
O Seele, deine schönste Feier
Ist Ahnungslust und Morgentraum!
(S. 3-4)
_____

 

An Rosawitha

Kann ich Dich auch nicht erblicken,
Weiß ich doch, daß Du es bist.
Gräfin Genlis

Wenn Aurora freundlich lächelt,
Purpurroth die Wolken säumt,
Zephyr durch die Blüten fächelt,
Manchem noch so lieblich träumt,
Eil' ich Blumen schnell zu pflücken,
Die der Morgenhauch geküßt,
Und wo Rosen schalkhaft nicken,
Weiß ich doch, daß Du es bist!

Eile tiefer in den Garten,
Horch' und lausch' auf jeden Ton,
Wähne ewig lang' zu warten,
Doch, o Glück, da kommst Du schon!
Es sind wohlbekannte Laute,
Theures Mädchen, sey gegrüßt!
Hör' ich Dich auch nur, Du Traute,
Weiß ich doch, daß Du es bist.

In der schwülen Mittagshitze
Such' ich mir den Ahornbaum,
Hier bei Deinem Lieblingssitze
Ist für Zwei wohl immer Raum.
Weile gern auf diesen Fluren;
Wo das Bächlein silbern fließt
Seh' ich kleiner Füßchen Spuren,
Und ich weiß, daß Du es bist.

Wenn die Abendlüfte wehen,
Geh' ich gern zur Laube hin,
Hoffend, Theure, Dich zu sehen,
Wo die Nachtviolen blühn.
Lose, o Du willst mich necken,
Doch vergebens ist die List,
Bergen Dich auch Buchenhecken,
Weiß ich doch, daß Du es bist.

Dämm'rung decket die Gefilde,
Mild und leise weht die Luft.
Blickst Du jetzt zum Sternenbilde,
Wenn Dich heil'ge Ahnung ruft?
Sylphen in den Blättern rauschen;
Dort, wo sich das Fenster schließt,
Mein' ich Seufzer zu erlauschen,
Und ich weiß, daß Du es bist!

Düster wird es jetzt und schaurig,
Bald nun ist es Mitternacht.
Ich bin heiter, ach, und traurig,
Manches liebe Bild erwacht.
Gern laß' ich den Traumgott walten,
Der den Schlummer mir versüßt;
Zeigt er liebliche Gestalten,
Weiß ich doch, daß Du es bist!
(S. 104-107)
_____

 

An den Fernen

Wenn Du betrübt bist, möcht' ich klagen
Und wünschen, könnt'st Du heiter seyn, -
Ach, einen Himmel möcht' ich tragen
In Deine stille Welt hinein!

Und wenn in weiter, weiter Ferne
Nie Glück und Frohsinn von Dir wich,
Dann frag' ich bang und doch so gerne:
O kannst Du froh seyn ohne mich?

Und so von Furcht und Wunsch umgeben
Gehn ernst und still die Tage hin,
Bis ich Dich wieder seh', mein Leben,
Und ohne Furcht und Wünsche bin.
(S. 46)
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Gleiche Stimmung

Wenn du die Liebe kennst, so frage
Mich nie, warum ich traurig bin;
Verstehe meine stille Klage
Und nimm mein süß Geheimniß hin.

Kennst du die Liebe nicht, so wähle
Ich niemals zur Vertrauten dich;
Denn nur mit gleichgestimmter Seele
Erkennest und verstehst du mich.
(S. 79)
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Mein Hoffnungsbild

Schlaf wohl, mein armer thränenwerther Freund,
Bis zu dem Morgen der Vereinigung;
Wir haben viel gelitten um einander,
Verdienen wohl ein selig Wiedersehn!
Raupach, Isidor und Olga

Wenn in des Herbstes späten, strengen Tagen
Sich jede Blüthe stumm zur Erde neigt,
Dann fühl' ich: nie kann eine Stunde schlagen,
Wo müd' mein Herz, wo seine Sehnsucht schweigt.
Und freundlich strahlt mir aus des Himmels Bläue:
Die Liebe ist für eine Welt zu schön;
Mein ist der Freund, ich, sein mit fester Treue,
Verdiene wohl ein selig Wiedersehn!

Folg' ich dem Lauf' des Stroms von jenem Hügel,
Seh' nach der fernen Welt die Schiffe ziehn,
Dann denk' ich: trennen kann der klare Spiegel
Auf dieses Lebens Wand'rung mich und ihn.
Ach! weiter als das Meer trennt Tod vom Leben
Und über uns sind unermess'ne Höh'n;
Mein ganzes Glück hab' ich dem Freund gegeben,
Verdiene wohl ein selig Wiedersehn.

Doch mehr als selbst der Tod trennt oft die Seelen
Ein leiser, Fremden unbemerkter Laut,
Kann ich auch ewig nur den Einen wählen,
Bin ich es, der auch oben er vertraut?
Sind wir in einem Geiste noch vereinet,
Wird keine Andre besser ihn verstehn? -
Ich habe um den Freund so viel geweinet,
Verdiene wohl ein selig Wiedersehn!
(S. 12-13)
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Herzenswunsch

Wie soll ich Dir entgegen gehen,
Daß Dir mein Anblick neu erscheint,
Und mit dem innigen Verstehen
Der Ahnung Zauber noch vereint? -

Das Mährchen ist's, deß alte Weise
Der Kindheit Morgen uns verschönt,
Und dann noch wunderbar und leise
Durch's ganze Leben in uns tönt.

O möge meine Lieb' und Treue
Dir immer wahr und heilig seyn,
Und dennoch immer Dich auf's Neue
So wie das Kind ein Mährchen freu'n!

Ob andre Frauen Schön'res sagen,
Nimm lieber, was ich Dir geweiht,
Ich sey Dir noch in späten Tagen
Das schönste Mährchen früher Zeit!
(S. 14)
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Alle Gedichte aus: Liederkranz von Karoline Leonhardt
Dresden und Leipzig 1834

 

Biographie:

Karoline Pierson geb. Leonhardt (Pseud. R. Edmund Hahn und Leonhardt Lyser) war Lyrikerin. Die Tochter eines sächs. Hauptmanns lebte von 1836 - 1844 in Dresden. Friedrich Kind führte sie in literarische Kreise ein. Seit 1836 war sie mit dem Schriftsteller Lyser verheiratet. Sie hatten zwei Töchter, nach sechs Jahren kam es zur Scheidung. 1840 - 1843 trat sie als Improvisatrice in Wien, Berlin, Dresden, Hamburg, Leipzig, Prag, Pest und Frankfurt auf. 1844 heiratete sie den Komponisten Prof. Henry Hugo Pierson, sie wohnten in Wien, Mainz, Würzburg, Stuttgart und Hamburg. 1873 starb ihr Ehemann. Karoline Pierson war die Mutter des Gründers der Verlagsbuchhandlung E. Pierson in Dresden, des Intendanturdirektors Henry Pierson in Berlin und des Besitzers der Heilanstalt Lindenhof bei Dresden, Dr. Reginald Holmes Pierson. Nach 1860 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Edmund Hahn mehrere Romane, u.a. "Ehen werden im Himmel geschlossen" (1886).
aus:http://www.frauenwiki.de/index.php/Karoline_Pierson


Zu den begabtesten Dichterinnen der Gegenwart gehört Karoline Pierson (geb. 6. Januar 1814 zu Zittau), die Tochter des sächsischen Hauptmannes Leonhardt. Phantasiereich wie sie war erzählte sie schon als Mädchen ihren Gespielinen die schönsten Märchen und Sagen und bekundete dadurch, dass sie von ihrer Grossmutter, der Grosstante des berühmten Philologen Moriz Haupt, das Erzählertalent geerbt. Gefördert wurde ihr Talent von ihren Lehrern Friedrich Kind und dem Direktor Burdach; doch verhielten sich ihre Angehörigen gegen jede Ausnützung ihres Talentes ablehnend, so dass sie nur heimlich der Musenkunst huldigen konnte. In der Folge führte sie F. Kind in die literarischen Kreise Dresdens ein und trug für ihre weitere künstlerische Ausbildung Sorge. In Dresden vermälte sie sich mit dem Novelisten J.P. Lyser, doch wurde die Ehe bald wieder gelöst. 1834 veröffentlichte sie ihre Jugendgeschichte, und fünf Jahre später schrieb sie die Biographie der Improvisatrice A.L. Karsch. Seitdem erwachte in ihr das Verlangen öffentlich als Stegreifdichterin aufzutreten, ein Entschluss, in dem sie F. Rückert, welcher sie in einem Gedichte verherrlichte, bestärkt wurde. So trat sie denn von 1840 bis 1843 in Wien, Berlin, Dresden, Hamburg, Leipzig, Prag, Pest, in Brüssel, in England und fast an allen Höfen mit dem glänzendsten Erfolge als Improvisatorin auf. 1844 vermählte sich sich mit dem englischen Componisten Professor H.H. Pierson und lebte mit ihm in Wien, Stuttgart und andern deutschen Städten. Nach seinem Tode (27. Januar 1873) und nachdem ihre Kinder herangewachsen waren, nahm sie ihre schriftstellerische Tätigkeit wieder auf und veröffentlichte unter verschiedenen Pseudonymen Romane, Novellen, Dramen u.a. Gegenwärtig lebt sie teils in Augsburg bei ihren Kindern und bereitet eine Sammlung ihrer Schriften vor. Beyer stellt sie weit über die Karschin und behauptet, dass bei ihrer Beurteilung ohne Scheu ein ganz ausserordentlicher Massstab angelegt werden dürfe. Ihre Gedichte "Liederkranz" 1834 werden selbst von W. Menzel, dem Feinde aller Damenschriftstellerei, günstig beurteilt; die "Novellen", Charakterbilder für deutsche Frauen 1838, der Roman "die Unbekannte" u.s., so wie die Sammlung von "zehn Novellen" in 3 Bänden zeugen von nicht gewöhnlicher Erfindungsgabe. Trefflich sind auch ihr Drama "Meister Albrecht Dürer" 1840 und das Lustspiel "vorgestern und heute", sowie die Operntexte "Bertha von Bretagne", 1835 in Dresden aufgeführt (Musik von ihrem Gatten Pierson) und "Konradin von Schwaben" (Musik von K.E. Hering). Endlich sei noch des Taschenbuches "Herbstgabe" 1838 bis 1840 und der "Enzyklopädie der sämtlichen Frauenkünste" 1833, die sie mit Cäcilie Seifer herausgab, gedacht.
Aus: Deutschlands Dichterinnen und Schriftstellerinnen
Eine literarhistorische Skizze
zusammengestellt von Heinrich Gross
Zweite Ausgabe Wien 1882


 

 


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