Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Hermann Lingg
(1820-1905)



Kürzeste Nacht

Noch sprüht des längsten Tages warme Quelle
Lebendig fort, es wagen sich verstohlen
Die Träume nur, und nur mit scheuen Sohlen
Die Sterne durch der Nacht saphirne Schwelle.

Kaum sank der Abend in die Dämmerwelle,
Da sucht ihn schon der Abend einzuholen,
Kaum öffnen ihren Kelch die Nachtviolen,
Da hebt die Sonnenblume sich zur Helle.

In Furcht, daß sich schon hell die Berge schmücken,
Singt schöner jetzt aus thaugenetzter Kehle
Die Nachtigall ihr klagendes Entzücken;

In Furcht, daß bald das süße Dunkel fehle,
Eilt Liebe heißer Brust an Brust zu drücken,
Und tauscht im Kusse lechzend Seel' um Seele.
(Band 1 S. 258)
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Aus: Gedichte von Hermann Lingg
Erster Band Siebente Auflage
Stuttgart Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung 1871
Gedichte von Hermann Lingg
Zweiter Band Dritte Auflage
Stuttgart Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung 1874


 

 

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