Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Karl Stamm
(1890-1919)



Ines

I.
Es hat der Tag in dir sein Lied gesungen,
in dich geflüchtet blüht er auf als Licht,
des Himmels Bläue, die sich nie erschwungen,
an deines Auges Stern erlöst zerbricht.

Du bist von allem, was da ist, durchdrungen.
Gott selber flüchtet in dein Angesicht,
in dir hält er die Schöpfung leis umschlungen,
an deinen Wesen lernte er Verzicht.

Verzicht? ... Du bist ihm selige Erfüllung.
Du bist ihm tiefen Schlafs zarte Umhüllung,
des tiefen Schlafes, dessen Gott bedarf,

der seines Namens müd, verarmt, beraubt
sich längst verdammt, verschrieen und verwarf -
Du sei um ihn, daß er sich selber glaubt.
(S. 148)


II.
Und ob wir beide hier uns ewig quälen
mit unserm blinden Fern- und Nahesein
und doch nie wir, nur Trinker ohne Wein,
die atemlos den Rest der Stunden zählen.

Und ob wir täglich wieder uns erwählen,
dass du in meine Seele dringest ein
und ich in dich - und sind uns ewiges Nein! -
Was soll dies stets verströmende Vermählen?

Doch will mir sein: Aus diesem Nicht-Ergreifen
tönt eine Stunde an, die uns errettet,
und ob wir noch so sehr aus uns gerissen.

Mit jedem Abschied wir uns näher reifen.
O tief und innig sind wir hingebettet
in dieses leise Voneinander-Wissen.
(S. 149)


III.
Mit ihren dumpfen Ängsten überfällt
mich plötzlich Nacht. Die Dinge fliehen sich.
Das Nichts erwacht, wächst her, umklammert mich.
Mit meiner Hand zerrinnt darin die Welt.

Stürz ich entwurzelt ab in jähen Schacht?
Der Geist erschweigt, die Hände suchen blind.
Und kalt im Nacken packt mich eisiger Wind.
Und tiefer dunkelt's, drängt sich, Nacht in Nacht.

Und wie ich falle, falle: Welch ein Glühen
aus Finsternis: Dein Leib beginnt zu blühen.
Dein Leib ist Licht! Wie tönst du tief und gross.

Du überstrahlst mich heiß. Dein Leuchten bindet.
O Flucht ins Licht! Mein Blick an dir erblindet.
Und trunken stürz ich hin in deinen Schoss.
(S. 150)


IV.
. . . .  War dies das Paradies?
Dass ewig ein Erwachen folgen muss!
Tod-Asche blieb von deinem Feuerkuss.
Fremd schaut dein Blick, der Sonne mir verhiess.

Sieh nicht nach mir, den eben Gott verstiess.
Aus diesem Feuerwein Gott selber schreit.
Ich bin ein Trunkner ohne Trunkenheit,
ich bin der Becher, den der Wein verliess.

Du aber wühlst dich los aus deinen Linnen,
umfängst mich heisser, küssest wie von Sinnen
und fühlst mich, enggeklammert, dir entrinnen.

Wir schliessen fester unsre kalten Hände.
Doch wie wir harren stumm auf Weg und Wende:
das Paradies verdämmert zur Legende.
(S. 151)
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Im Anfang war der hohe Weltenwille.
Ihm war die wunderbarste Schönheit eigen:
Das ungebrochne, rätselsüsse Schweigen.
Er fuhr dahin im Schöpferkleid der Stille.

Und seiner Werke unermessne Fülle,
sie schwingt in Ruh den gottgewalt'gen Reigen.
Das ist ein Schweben, Fluten und ein Neigen
vom Innersten bis an die blaue Hülle.

Ein Hauch von dir weht tief in meinem Innern
und scheint sich manchmal deiner zu erinnern,
wenn stumm die Nacht aus braunen Gründen stösst.

Dann fühl ich, wie der Lärm des Tages endet;
und einen Augenblick bin ich vollendet
und tief in ew'ges Schweigen aufgelöst.
(S. 12)
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In dieser Frühe ist kein Stillestehn:
In allen Wesen unsichtbares Weben,
und ist ein Formen unbewusster Leben,
die leise um Geborenwerden flehn.

Um alle Bäume haucht ein seltsam Wehn.
Es ist, als hörte man das leise Streben
der Knospen, die sich wie aus Angeln heben,
und Hüllen drohen manchmal aufzugehn,

so reiften sie entgegen einer Stunde,
und eine Frage hängt an ihrem Munde:
Wann nahet er, der uns erlösen mag?

Und Äste sind wie Arme ausgebreitet
und wie zu einem Feste vorbereitet
und harren alle auf den grossen Tag.
(S. 13)
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In heissen Wehen liegt die junge Erde -
Wie die Geschöpfe ihre Schmerzen zwingen!
Ein unterdrücktes Schreien um Vollbringen
spricht aus der Bäume zitternder Gebärde.

Da schrillt's durch weite Stillen hin: "Es werde!"
Und plötzlich regen Wälder ihre Schwingen.
In Licht und Lust gefüllte Knospen springen!
Taufrische Gräser brechen aus der Erde

und sind schon voll von neugeformten Stimmen,
die tönend über offnen Blüten schwimmen,
von denen jede eine Sehnsucht spürt.

Und alle sind den Winden hingegeben
und wissen kaum von ihrem jungen Leben
und sind wie Kinder, rein und unberührt.
(S. 14)
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Der wilde Taumel lässt mich nicht mehr stehen:
Die Erde lockt mich mächtig zu ihr nieder.
Sie fasst und kettet meine jungen Glieder
und zwingt mich, still zu lauschen ihrem Flehen:

"Du Menschenkind! Du darfst nicht von mir gehen!
O höre nur, wie unsre tollen Lieder
lustmächtig in die braunen Schollen nieder
und aufwärts in die Lüfte wild verwehen.

Sieh meine Blumen da, die Lenzgeschöpfe!
Wie strecken sie die gelben Blütenköpfe
hervor aus ihrem zarten Düftehaus.

Und hör: Dies Läuten da an allen Enden -
Ich glaube gar, die losen Schelme senden
den Blütenstaub schon auf die Brautfahrt aus!"
(S. 15)
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Die Wälderorgeln brausen durch die Tiefen
mit wuchtig schweren, sprachgewalt'gen Tönen.
Tief in den Wurzeln widerhallt das Dröhnen,
wo starrgefesselt ihre Stimmen schliefen.

Es ist, als ob die Bäche schneller liefen.
Urlaute aus dem grünen Schachte tönen,
bald Jubelrufe und bald dumpfes Stöhnen,
als ob Gefangne um Erlösung riefen.

Sie nahen meiner Seele offnen Toren.
Wie sie mein Innerstes sturmwild durchbohren,
und brausend durch die Labyrinthe ziehn!

Zur tollen Orgel ist mein Herz geworden
und löst sich auf in zitternden Akkorden
und wilde, gotterfüllte Melodien.
(S. 16)
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Die Landschaft wechselt plötzlich ihre Bilder:
versunken sind die Hügelregionen,
und vor mir starren weisse Gletscherzonen.
Eng wird der Pfad und steil und immer wilder.

Und Gipfel drohn wie hochgehaltne Schilder,
dahinter unsichtbare Riesen thronen.
In diesen Einsamkeiten möcht ich wohnen:
Wie schlürft mein Aug die aufgetürmten Bilder.

Den Schritt will ich in eure Reiche lenken
und mich in eure Seele still versenken,
ihr Zeugen unfassbarer Schöpferkraft,

geformt, gebildet von allmächt'gen Händen,
die euch unmerklich bauen und vollenden
in tiefer Ruh und ohne Leidenschaft.
(S. 17)
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Eintret ich über blum'ge Wiesenschwellen
und halte still auf meinem Morgengange.
Das Tal ist voll von jauchzendem Gesange
und Blumen leuchten auf an allen Stellen.

Die sonst so kühlen, träumerischen Quellen
berauschen sich an ihrem eignen Klange,
und oben taumeln überm Felsenhange
lusttrunkne Vögel über Wasserfällen.

Und Zittern rieselt durch die Blütenköpfe,
in tausend Sprachen reden die Geschöpfe -
kein Wesen mehr das andere versteht:

Es fuhr der Geist auf unsichtbarer Schwinge
allmächtig schaffend in die kleinsten Dinge,
und jedes Wesen ist heut ein Prophet.
(S. 18)
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Nun reden rings gehoben alle Dinge:
Der Steine Stammeln donnert gell zu Tale.
Zerbrochen liegt des Schweigens weisse Schale,
ein jeder Tropfen klingt gleich einer Klinge.

Es rollt der Wind mit flügelstarker Schwinge
die Melodieen hin im Felsensaale.
Urwort geworden sind mit Einem Male
die Wesen rings im blauumzirkten Ringe.

Wie war gewaltig schon das eh'rne Schweigen.
Wie überwältigt mich der grosse Reigen!
Die Schönheit lebt! Sie atmet, glüht und loht!

Ein Tönen steigt herauf an jedem Hange
und schwillt empor zu mächtigem Gesange:
Durch seine Stillen wandelt jubelnd Gott.
(S. 19)
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In eines Felsengürtels kühlem Becken,
darin des Schweigens weisse Schleier weben,
lieg ich, der wilden Einsamkeit ergeben,
bewacht von ihren trotzig hohen Recken.

Kein Menschenwort vermag sie aufzuwecken.
Auf ihrem Antlitz regt sich kaum das Leben.
Das ist ein langsam leises Weiterweben.
Die schweren Häupter sich zum Himmel strecken.

Ihr Prediger der ungeheuren Stille!
Vor eurem Schweigen beugt sich tief mein Wille,
ich opfre stumm an eurem Hochaltar.

Ihr habt mich schon erhört. Ich hab genossen
vom Trank der Stille, den ihr ausgegossen.
Nun träumt der Friede tief in meinem Haar.
(S. 20)
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Du Gipfel überm stillen Felsensaale,
du ziehst mich an mit deinem tiefen Schweigen.
Wie viel von deinem Wesen ist mir eigen!
Aus deinem Antlitz sprechen Wundenmale.

Zu deinen Füssen knieen Tale,
und Winde kühl um deine Hüften steigen,
und Menschen sich vor deiner Grösse neigen,
wenn du aufleuchtest stumm im Morgenstrahle.

Der du so hoch ob allem Wimmern wohnest,
in Rieseneinsamkeit und Stille thronest,
was schaust du sehnsuchtsvoll nach jedem Stern?

Was strebst du fort aus deiner starren Hülle?
Genügt dir nicht mehr deine eigne Fülle?
Suchst du dort oben einen starken Herrn?
(S. 21)
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Auf meinem Lager lieg ich still und träume
und schaue in des Himmels dunkle Strassen.
Zur Ruh gegangen ist der Lärm der Gassen,
zu Dunst zerflossen sind die Wolkenschäume.

Nur Eine Wolke wandelt durch die Bäume.
Sie folgte mir seit Stunden schon gelassen.
Sie will mich rufen und sie will mich fassen,
schwebt höher schon, dass sie mein Haupt umsäume.

Die Augen schliess ich fest und geisterleise -
Ich fühle sie in meinem Innern schweben:
Sie kam herein durch unsichtbare Gleise.

Sie will urtief in meinem Innern leben.
Ins Land des Schlummers macht auch sie die Reise:
Das ist, sie will mir ihre Liebe geben.
(S. 22)
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Und wenn des Abends übermächt'ge Fülle
mich überfliesst in dumpfer Einsamkeit
und mich erfüllt mit tiefer Trunkenheit
und heller leuchten lässt der Erde Hülle,

und wenn sein unbeugsamer Schöpferwille
Urworte in die trunknen Dinge schreit,
dass purpurrot die ganze Ewigkeit
hervorrollt aus dem Traumgewand der Stille,

dann starrt mein Geist in wachsender Erregung,
in die enthüllte, nahende Bewegung
und tauchet in das aufgetane Licht

und muss sich schaudernd überfluten lassen
und will das Meer versprühter Strahlen fassen
und atmet schwer und ringt und kann es nicht.
(S. 23)
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O wäre doch der schwere Schritt getan!
Erinnrungsmächtig auf des Abends Strassen
ziehn stumm einher die schweren Wolkenmassen
und das Gebirg, das ich nicht meiden kann.

Und ganze Wälder folgen meiner Bahn
und öffnen mir die überwölbten Gassen
und wollen mich mit ihrer Stille fassen
und zünden ihre sel'gen Lichter an.

Wie habt ihr euer stilles, schönes Lieben
in meine Kinderseele eingeschrieben,
dieweil ich lag auf menschenleerer Flur.

Noch einmal komm und gib mir dein Geleite,
bevor ich diesen dunkeln Raum durchschreite.
Nun fühl ich erst, was du mir warst, Natur!
(S. 24)
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Die Nacht schlägt auf ihr dunkelblaues Zelt,
und Sterne hangen hoch in ihren Netzen
und schweben dort nach ewigen Gesetzen
hinstarrend in die unermessne Welt,

die sich selber fest in Händen hält
und deren Glieder manchmal sich verletzen
bei eines Sterns starrem Sich-Widersetzen,
der stumm durch ungeheure Tiefen fällt.

Dann leuchtet's plötzlich auf im dunkeln Raume,
und eine Welt erwacht aus ihrem Traume
und starrt entsetzt auf seinen jähen Fall.

Doch ihre Hände fassen ihn im Kreise
und lenken ihn in neue, sichre Gleise,
und ruhig kreist das ew'ge All.
(S. 25)
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Und manchmal bin ich wie von Gott verlassen:
In meinem Innern gähnet eine Leere.
Ich fühle keine Härte, keine Schwere,
und nichts mehr sind mir Wälder, Flüsse, Strassen.

Und keine Hand will mehr die meine fassen. -
Mich lockt nicht mehr das Ziehn der Wolkenheere
und nicht der Nachtgesang schlafloser Meere -
Die Liebe tot - und ausgelöscht das Hassen!

Ich bin gleich einem Stern am Himmelsbogen,
der irgendwo den weiten Raum betreten
und der nun reglos starret in den Tag,

gleichmässig von Gestirnen angezogen,
von denen keins ihn ganz vermag zu ketten
und die er anzuziehen nicht vermag.
(S. 26)
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Und einem Hafen nahte sich mein Boot,
es war im Augenblick der grössten Kühle.
Mich überliefen schauernde Gefühle:
Ich ahnte irgendwo ein Morgenrot.

Erschöpft lag ich im Kahne und wie tot
und sank zurück in alter Träume Pfühle
und sank - da fühlt ich plötzlich ein Gewühle
von Armen, die mich packten; es gebot

in lautem Ton ein unbekannter Rufer
verbundnen Augs zu tragen mich ans Ufer,
wo man im Kreis mich drehte und verliess.

Wo bin ich? schrie ich in die Stille, bis
fernher mir Antwort kam: Im Menschenland! -
Da löste ich die Binde mit der Hand.
(S. 30)
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Bevölkert sind nun meine Einsamkeiten:
Wo einstmals Wiesenteppiche sich dehnten
und an die vielgeliebten Wälder Berge lehnten
und stumm dalagen unermessne Weiten,

da seh ich Häuserfronten grau sich breiten
mit hohen Fenstern, offnen, müdgegähnten,
als ob nach keinem Aufblick sie sich sehnten,
und auf den Strassen viele Menschen schreiten,

die sich nicht ansehn und sich nicht berühren
und nur in sich das dunkle Leben spüren,
durch das sie gehen wie ein stiller Traum,

verschwiegen, scheinbar kühl und ohne Seele
und so, als käm kein Laut aus ihrer Kehle,
mir fremder, als im Wald der stillste Baum.
(S. 31)
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Du bist ein Kind und trägst in dir das Wehn
verhüllter Nächte und verborgner Tage.
Dein reines Seelchen kennet keine Klage
und hat die Kraft, im Spiele aufzugehn

und alle Dinge lächelnd anzusehn
und hinzunehmen ohne eine Frage.
Du schreckst nicht auf beim späten Stundenschlage
und fühlst nie bange Mächte dich umstehn

und schreitest unberührt durch offne Türen,
die tief in aufgetane Gärten führen,
wo schwüle Winde flüstern, warm und schwer ...

Doch manchmal, wenn die Landschaft plötzlich dunkelt
und du allein bist: Wie dein Auge funkelt!
Dann bist du nicht mehr Kind. Dann bist du mehr.
(S. 32)
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Ich weiss, es kommen Stunden, wo du ganz
in dich versunken bist und deine Stille
und in dir anklingt ein erwachter Wille
und unter deines Haars verschlungnem Kranz

sich ängstlich wölbt die Stirne voller Glanz
und du mit tiefverhangener Pupille
zurück dich sehnst in deine erste Stille
und halberzwingst und siegst und doch nicht ganz

und dann die Arme hebst und horchst nach innen,
um diesen fremden Etwas zu entrinnen,
das immer tiefer in dein Dasein bricht

und dich verstrickt in unsichtbare Netze
und das an dir erfüllet die Gesetze
des ew'gen Seins. Du aber weisst es nicht.
(S. 33)
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Unruhig Blut, willst du denn nicht verkühlen?
Was hast du nur? Ich höre laut dich fliessen
und wellenweise dich ins Herz ergiessen
und alte Dinge von der Schwelle spühlen.

Ich höre neue Gänge dich durchwühlen,
in unbekannte Gründe dich ergiessen.
Halt ein! Ich möchte meine Augen schliessen.
Muss ich denn immerdar dein Glühen fühlen?

Das pocht und pocht und will nicht stille werden.
Das gräbt und wühlt mit bebenden Gebärden,
als ging ein Irrer suchend in mir um.

Und wieder hör ich an der Türe pochen
und Worte tönen, wie von fern gesprochen
und wie aus einem Evangelium.
(S. 34)
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Ich wälze ruhlos mich in meinem Bette -
ich höre Schritte an der Türe gehen,
und eines unbekannten Atems Wehen
schwebt duftend über meiner Lagerstätte.

Gesprengt am Boden liegt die starke Kette,
damit die Türen ich verriegelt. Spähen
nicht fremde Augen dort in tiefem Flehen?
Und nahn sich geisterleise meinem Bette?

Und Menschgestalt? Ihr Blick nimmt mich gefangen.
Und doch nicht Mensch. Nur menschliches Verlangen
strömt mächtig aus dem Wesen her zu mir.

Wie kamst du durch die starkbewachte Pforte?
Bist du das Schweigen? Hast du keine Worte?
Ich bin die Liebe. Friede sei mit dir.
(S. 35)
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Gib mir die Hand, wir wollen weitergehen.
Das Haus der Einsamkeit musst du verlassen.
Wir wollen Menschen an den Händen fassen,
der Menschen Atem birgt ein süsses Wehen.

Lass fern von dir die schweren Wälder stehen.
Wir wandern selig weissumwölkte Strassen.
Ich führe dich durch schmale Felsengassen
und niegeahnte Dinge wirst du sehen.

Gefilde blühen dort in ew'ger Schöne,
und unsichtbare Harfen rauschen Töne,
und höchste Freude ist: Gib mir die Hand ...

Nun leb ich leise schon in deinem Innern.
Fahr zu. Ich will mich deiner gern erinnern,
ich führe dich in das verheissne Land.
(S. 36)
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In sel'ger Blindheit wandelst du vorüber
an mir und ahnst nicht, wie unsäglich
ich mich verändert und verändre täglich
und wie auch mir die weiten Himmel trübe

erscheinen, wie aus tiefer Nacht herüber
und wie mir Stunden nahen, unerträglich
und meine Blicke, ernst und unbeweglich
an einer haften bleiben, die vorüber

und waldwärts schreitet mit verhaltnem Schritte
und sich zur Erde wirft in seiner Mitte
und in die Stille lauscht, die klangumtönte,

um endlich das Geheimnis zu erzwingen,
indessen fern und unter Händeringen
sich ruhlos wälzt, der sie erlösen könnte.
(S. 37)
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Und plötzlich springst du auf von deiner Schwelle
und atmest tief. Nun hast du überwunden
und deine grossen Augen glühn: Gefunden.
Du zitterst noch und bebst wie die Gazelle

und wirst auf einmal laut wie eine Quelle
und deine Lippen sich zum Sange runden
und rufen auf verhaltne Feierstunden,
und aus den Bäumen dringt purpurne Helle.

Gewölbe springen über deinem Haupte!
Ich kenne dich nicht mehr, du Kind-Geglaubte!
Du bist nicht du! So jubelnd singt kein Kind!

Es rauscht in deinem Lied von wilden Tänzen
und rote Rosen Mädchenstirnen kränzen,
die feuerheiss wie junge Liebe sind!
(S. 38)
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Mein Herz schrie auf in tiefer Mitternacht.
Mein Herz schrie auf beim glühen Morgenrot
und fieberte und litt und war wie tot
nach einer langen und verlornen Schlacht.

Und wieder ward es Tag und wieder Nacht.
Ich rief nach dir inbrünst'ger als nach Gott,
bis plötzlich eine weisse Hand sich bot
und fest mich hielt. Dann bin ich aufgewacht.

Und nun ist Tag. Die Wände stehn im Lichte,
und Augen glühn aus einem Angesichte,
und eine Stirne neiget sich, wie wenn

mit ihrem Glanz sie mich berühren wollte:
Ich wusste ja, dass ich nicht enden sollte
so gänzlich ungestillt, du kämest denn.
(S. 39)
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Der Liebende
Und einem Schiffe gleichet meine Seele,
das unaufhaltsam und durch Sturm und Regen
dem abgelegnen Hafen fährt entgegen,
dass es mit seiner Stille sich vermähle.

Wie dürstet mich nach dir, du Frauenseele!
Fühlst du mein Innerstes sich nicht erregen?
Das ist ein Streben und Sich-Hinbewegen
zu deiner Ruh nach göttlichem Befehle

beim Licht des Tages und beim Glanz der Sterne.
Gib mir ein Zeichen! Liebe, rede du!
Wie meine müden Finger wund sich dehnen: -

Was stehst du unbeweglich in der Ferne?
Bist du die unnahbare, ew'ge Ruh? -
Und ich das ew'ge, unstillbare Sehnen?
(S. 40)
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Die Liebende
Wie eine Blüte bin ich, die zur Stunde
sich unsichtbar im Innern ausgestaltet
und die nun ihre Blätter scheu entfaltet
aufdeckend eine langverhüllte Wunde,

die leise fieberte auf meinem Grunde
und immer wühlend noch im Innern waltet
bis sie einst stumm und ungestillt erkaltet. -
Wie send ich meine Blicke in die Runde

nach dir, du grosse, gnadenreiche Sonne!
Du kannst mich heilen! Still! O welche Wonne!
Dich Gebende! Dich Milde! bet ich an!

Vor deinem Glanze muss ich mich enthüllen:
o, komm, mit deinem Licht mich zu erfüllen!
Ich bin bereit und still und aufgetan.
(S. 41)
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Welch tiefe Sehnsucht legst du in mich nieder
und lässest seligbang mich wieder schwanken.
Du füllest mich mit herrlichen Gedanken
und zauberst vor die Seele duft'gen Flieder.

In warmen Strahlen rinnst du an mir nieder.
Du hütest mich wie einen Fieberkranken,
zerstörst und bauest mächtig neue Schranken.
Du lässt mich dürsten und du tränkst mich wieder.

In tiefen Nächten lässt du mich genesen
um qualvoll wiederum in mir zu wesen.
Du nimmst und gibst, bist klar zugleich und wirr.

Und doch, du reissest mich empor zum Leben.
Ich hab dir meine Seele hingegeben:
Du übermächt'ge Kraft, ich glaube dir!
(S. 42)
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Ich kann die Augen schliessen mit den Händen:
Du drängst dich unaufhaltsam durch die Spalten.
Ich mag die Nacht dir schwer entgegenhalten -
du gleitest dennoch stumm entlang den Wänden.

Ich stelle Wächter aus an allen Enden,
jedweden Fremdling rufend anzuhalten:
Du nahest lächelnd dich den Nachtgestalten,
die deine übermächt'gen Strahlen blenden.

Ich flieh vor dir in meine Traumgemächer
und stürze wild den übervollen Becher:
Herauf! Ihr Träume! Schäume! Abenteuer!

Umsonst - die Stille spottet meiner Worte.
Und wieder stehst du in der offnen Pforte,
und meine Seele loht in lichtem Feuer.
(S. 43)
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Es gleisst die Luft im heissen Mittagsschweigen.
Wir sind der Stille sehr willkommne Gäste.
Wir lieben beide ihre heil'gen Feste.
Sie will uns ihre schönsten Schätze zeigen.

Es klingt Musik von unsichtbaren Geigen
durch grüne Bäume moosbedeckte Äste.
Von ihren Früchten gibt sie nur das Beste,
ganz leise schüttelnd an den schweren Zweigen.

Der Vorhang zittert leicht im Hauch der Lüfte,
und fremde, feine, unbekannte Düfte
verbreiten wunderbare Seligkeit.

Sie hat die Schwere ganz von uns genommen,
und für die Erde sind wir nun vollkommen.
Und tiefe Stille. - Friede. - Hohe Zeit.
(S. 44)
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Du bist verworrner als des Meeres Rauschen,
geheimnisvoller als der Winde Wehen.
Ein fremdes Etwas ist in deinem Gehen.
Du zwingst das Schweigen, deinem Schritt zu lauschen.

Du bist ein Ton im hohen Wälderrauschen,
der hohe Ton, den wir noch nicht verstehen.
Bist du Erfüllung? - Oder bist du Flehen?
Ist deine Seele nicht ein ew'ges Tauschen?

Denn übermächtig blicken deine Augen,
aus denen alle Wesen Liebe saugen,
und tiefe Stillen stehen um dich her.

Es späht der Abend lang nach dir herüber.
Du aber wandelst märchenstill vorüber
und neigst dein Haupt und bist von Liebe schwer.
(S. 45)
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In dieser Landschaft schau ich deine Seele:
Wie jugendlieblich lebt's im Vordergrunde,
es badet sich im See die Morgenstunde,
dass neu die Welt dem Lichte sich vermähle.

Seeüber hallt ein Lied aus Vogelkehle,
das Echo lispelt schelmisch in die Runde.
Durchsichtig sind die Fluten bis zum Grunde
und klar und lieblich, ohne Schuld und Fehle.

Im Hintergrunde hängt ein duft'ger Schleier.
Dort hält die Schönheit ew'ge Liebesfeier,
die unfassbare, tiefe Schweigerin.

Ein Windhauch bringt den Schleier in Bewegung.
Ich sehe hin in seliger Erregung,
und dunkel ahn' ich ihren hohen Sinn.
(S. 46)
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Der Tag ging ruhig, wie ein Greis zu Ende.
Wir sassen schweigend bei dem Abendmahle,
und Stille war in unserm kleinen Saale.
Das Zwielicht rann gedämpft um unsre Hände.

Da brach es unaufhaltsam durch die Wände
und war nun zwischen uns mit einem Male
und bot uns lächelnd eine volle Schale
und gab und sprach: Nun trinket ohne Ende!

Ihr trinkt mein Blut, der Erde Grund entronnen,
das leuchtend quillt und pulst in fernen Sonnen.
Fühlt ihr noch nicht, wie's in euch wogt und fliesst,

den Endlichkeitsgedanken leis vernichtend
und zu Unendlichkeiten euch verdichtend?
Ihr trinkt mein Blut, das kühl und ewig ist.
(S. 47)
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Heilige Stunde
Ich lud dich auf des Abends stille Stunde
als einz'gen Gast. Dann müssen rings auf Erden
die unzählbaren redetrunknen Munde
und alle Rufer stille werden.

Verklärt und leidenlos im Hintergrunde
verraucht der Tag auf kaltgewordnen Herden,
und in der Täler nachtbereitem Grunde
entschläft der Wind an seinen Traumgebärden.

Nun magst du nahen, magst vorüberkommen.
Was unrein war, das ist von dir genommen.
Nun bist du selber Abend, gross und still

und losgelöst vom dunkeln Umgelände
und stehst vor mir und faltest deine Hände
wie eine, die sich offenbaren will.
(S. 48)
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Das Tanzlied

I.
Von fern Musik, anschwellend, klar und rein.
Sie füllt mit ihren Stimmen alle Wälder,
schwebt über weiche Wiesen, goldne Felder
und trägt den Zauber auch in dich hinein.

Geniessend duldest du die süsse Pein.
Dass sie sich völlig nun mit dir vermähle,
durchdringt sie deine unberührte Seele
und wirkt in dir, wie schwerer, junger Wein.

Und unerlöst, wie hinter dunkeln Gittern,
wo eines neuen Lebens Hauch sie wittern,
die angespannten Glieder leise zittern.

Und plötzlich bricht der Wald sein banges Schweigen:
Im Takt der Töne sich die Zweige neigen.
Du atmest auf und du beginnst den Reigen.
(S. 49)


II.
Du schwebst im Takte seliger Gesänge
auf abendstiller Erde leicht dahin
als wär kein Wesen sonst seit Anbeginn
und tief in deiner Brust erbrausen Klänge.

Doch nie verirrst du dich in ein Gedränge.
Du bist allein. Du bist die Welt, der Sinn!
Du bist der Rhythmus! Du bist Königin!
Du bist Bewegung, Schönheit und bist Menge,

und deine Füsse haften nicht auf Erden.
Es lebt das All in deinen Handgebärden!
Du bist für jedes Ding das trunkne Ohr.

Zum Himmel hast die Blicke du gerichtet,
und alle Werke sind für dich gedichtet,
und deine Seele jubelt: Auf! Empor!
(S. 50)


III.
Ermattet sinkst du auf die Erde nieder,
zu weit ins Blaue sich dein Blick verlor.
Noch immer liegt der Klang dir tief im Ohr,
und die Musik im Herzen hebt sich wieder.

Aufs Neue ist gelöst der Bann der Glieder,
und deine Lichtgestalt schwebt wie zuvor,
nur stiller, ruhevoller durch das Tor
der nahen Nacht, geschmückt mit duft'gem Flieder.

Gelassen ziehst du deine ew'gen Kreise
dahin, dahin auf unsichtbarem Gleise,
allmählich tauchest du im Schatten ein.

Die Füsse wollen ihren Dienst versagen
und wollen deinen Körper nicht mehr tragen -
Du fühlst es plötzlich: Grenzenlos allein ...
(S. 51)


IV.
Zum leisen Schreiten wandelt sich dein Tanz,
und zögernd kommen auf des Feldes Mitte
zum Stillstand deine plötzlich schweren Schritte.
Auf deiner Stirne ruht ein fremder Glanz,

und um dein Haupt ringt sich ein Dornenkranz.
Dein Auge starrt, wie wenn es Schmerzen litte.
Es ist, als ob von deiner Schulter glitte
das Kleid der Freude, und als ob sie ganz

dich fliehen wollte und dich stumm verlassen
und treulos weiterwandern weisse Strassen,
und welke Trauer schleicht sich in dein Herz -

Das ew'ge Schicksal hast du vorempfunden,
und duldend trägst du seine roten Wunden
und neigst dein Haupt und bist auch gross im Schmerz.
(S. 52)


V.
Und wieder klinget eine Saite an,
nur leise, tief von innen, schmerzdurchlebt,
und deine qualerfüllte Seele bebt
und richtet ihre Blicke himmelan.

Und weiter trägt auf vorgeschriebner Bahn
dein Fuss dich hin. Und deine Seele hebt
den armen Leib, dass er mit ihr entschwebt,
und nicht mehr fühlest du den dumpfen Wahn,

der dich an diese dunkle Erde kettet,
mit Steinen in das gleiche Grab dich bettet -:
Du flügelst auf aus kaltem Mutterschoss,

des Erdreichs dumpfe Schwere überwindend
und mit dem Urgeist deinen Geist verbindend
und schwebest selig, aller Fesseln los.
(S. 53)


VI.
Mit einem Sinn, der über allen Sinnen,
empfindest du des Lebens dunkles Sein.
Nichts ist mehr aussen, alles flutet innen,
mit vollen Eimern tief in dich hinein.

Und neugestärkt, verklärter, stumm beginnen
die Füsse ihren alten, ew'gen Reih'n.
Die blauen Fernen leis vorüberrinnen,
es spiegelt sich in dir des Himmels Schein.

Es ruht in dir das Fernste, Längstvergangne,
von Geisteskräften mächtig Eingefangne
in einer Fülle, die du selbst nicht weisst,

die, aufgerufen, sich verhundertfältigt,
und plötzlich rufst du, gross, doch überwältigt:
"Nun bin ich Frucht! Empfange meinen Geist!"
(S. 54)
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Zum Campo Santo lenk ich meine Schritte.
Unruhig Herze, komm, was zögerst du?
Die Gräberreihen atmen tiefe Ruh,
und leis verhallen meine harten Tritte.

Ein grüner Hügel wölbt sich in der Mitte.
Ihm wenden sich die müden Blicke zu.
O sag! Wen birget deine dunkle Truh'? -
An starren Steinen starb die scheue Bitte.

Da ging ein Schluchzen hoch in den Zypressen. -
Mein totes Kind! Ich hab dich nicht vergessen!
Zeig mir dein stilles, sel'ges Jugendland!

Weit in die Stille rief ich deinen Namen - -
und aus der Tiefe kam es: Amen, Amen!
Da fühlt ich dunkel deine kühle Hand.
(S. 72)
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Wie ist es stille worden nun im Haus.
Die Stiege, wo wir liebesbang gelehnt,
die Brüstung, wo du manchmal mich ersehnt,
sie schauen ungeduldig nach dir aus.

Und wo der Garten führt zum See hinaus
und wo die Woge an das Ufer lehnt,
da hat die Nacht zu finden dich gewähnt,
das Tor dir öffnend ihres Tempelbaus.

Es harrt die Abend-, harrt die Morgenröte,
ob deine weisse Hand sich ihnen böte.
O, wie wir alle harren, fern und nah!

Nur manchmal quillt ein Licht im Dunkel-Düstern,
und durch die Binsen geht ein leises Flüstern
zum Ufer hin, als wärest du noch da.
(S. 73)
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Warum? Warum? - O Irrung der Natur!
Mein Herze kann und will es noch nicht fassen
und hadert wild mit Gott in bittrem Hassen:
Missachtest also du der Kreatur,

die du erschufst! Die gottgedachte Spur
zerstörst du wieder, schlägst in Scherbenmassen
der Dinge höchste, wie der Töpfer Tassen! - -
Da - als ich deine dunkle Tat erfuhr,

da war's, als würde mir die Brust zerrissen.
Aufschrie ich aus den blut'gen Finsternissen,
und meine Sprache war ein Fluch und Hohn -

Denn furchtbar, Gott, sind deiner Hände Werke,
und schmerzvoll groll ich deiner grimmen Stärke,
wie seinem Vater ein erzürnter Sohn!
(S. 74)
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Es klärt sich meiner Seele trüber Schmerz,
und dass ich Gott in schicksalsschweren Stunden
Verantwortung für Leiden auferbunden,
darin er qualvoll zittern liess mein Herz:

ich tat nicht recht. Denn Leiden allerwärts
an Tier und Mensch sind ja auch seine Wunden;
denn wir sind Glieder, die sich um ihn runden,
und unsre Wehen sind auch ihm zum Schmerz.

Und kleinlich fühl ich mich vor seiner Grösse,
und ich empfinde meine ganze Blösse,
erblick ich seine Hände, blutigrot,

und seine Schultern mit unzähl'gen Narben
und alle Dinge, die stumm an ihm starben - -
O Last und Weh der Welt! - Wie leidet Gott!
(S. 75)
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Der Frühling duftet über meine Welt.
Du stillgewordne Seele, mach dich auf!
Mein Fuss trägt mich den steilen Berg hinauf,
darauf der Himmel seine Hände hält.

Da bist du, abgelegne, kleine Welt.
Du Ackerland, zu dir hin ging mein Lauf!
Wie blühen Blumen, Blüten schon zu Hauf!
Der ganze Hang ein Auferstehungsfeld!

Mein Auge trinkt. Den Atem halt ich an.
Da blüht ein Veilchen. Dort ein Enzian;
aus allen Blumen redest du zu mir.

Aus allen Blüten wind ich einen Kranz:
Mein totes Kind! Ich hab dich wieder ganz!
Ich lebe und du lebst! Ich danke dir!
(S. 76)
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Und manchmal hab ich Sehnsucht nach dem Land,
dahin dich trug der dunkle Genius,
nachdem er dich berührt in heil'gem Kuss
und von dir nahm das menschliche Gewand.

Und wie ein Horcher heb ich meine Hand,
und deutlich hör ich unter mir den Fluss,
auf dem auch ich hinüberfahren muss,
und neig mich über meines Bootes Rand

und sehe ferne schlanke Flammen rauchen
und eine Insel aus dem Qualme tauchen,
und stiller rollt das Blut durch meinen Leib.

Das Hohelied erbraust durch nächt'ge Feuer.
Ich stehe ruhig-fest an meinem Steuer:
stromüber leuchtet mir ein herrlich Weib.
(S. 77)
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Willkommen, heil'ger Schmerz, in meinen Hallen.
Du strenger Priester flammenreiner Liebe!
Du Tilger aller lebensschwachen Triebe,
die dumpf und tief in allen Wesen wallen.

Komm über mich! Lass fühlen mich die Krallen!
Und wo ich schlecht bin, gönn mir deine Hiebe.
Ich weiss, du tust's aus unbegrenzter Liebe,
die dich verbindet den Geschöpfen allen.

Was unrein war in mir, schlugst du zu Scherben.
Du liessest mich schon tausend Tode sterben,
durchglühtest mir mit Flammenglut das Herz. -

Doch sieghaft fahr ich noch im Lebenswagen:
Ich habe deine ganze Last ertragen -
und kommst du wieder, sei willkommen, Schmerz!
(S. 78)
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Dich, selt'ne Stunde, segne ich vor allen,
die du mir nahst, wenn stumm der Tag verblich
und all die wirre Hast entschlief in sich,
und ungestört die nächt'gen Schleier wallen.

Dann schreitest du aus deinen ernsten Hallen
mit kühlem Mund und still und feierlich
und stattest mir zurück mein eignes Ich,
das mir im lauten Lärm des Tags entfallen

und gibst die Kraft mir, weit mich wegzuheben
aus diesem ungestillten, halben Leben
und öffnest mir die Tür zu einer Welt

jenseits von Gut und Böse dieser Erde
und lädst mich ein mit lächelnder Gebärde
und duldest mich, so lang's dir wohlgefällt.
(S. 79)
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Dein Antlitz, Abend, kann ich nicht vergessen.
Du bist verdammt, urtief in mir zu leben;
denn alles muss mir seine Seele geben,
was ich nur einen Augenblick besessen.

Ihr Wolken, Winde! Träumende Zypressen!
Ich will euch gerne stille Wohnung geben.
In meinem Innern mögt ihr weiterweben:
dies Reich ist weit und niemand wird's ermessen.

Und manchmal, Abend, wenn du still erscheinest
und in dein grauses Pilgerlinnen weinest:
o dann ergreif die dargebotne Hand!

Ob dunkler Schmerz auf deinen Lippen träumet,
ob Purpurröte deine Stirne säumet:
ich fühle mit, ich bin mit dir verwandt.
(S. 80)
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Ich sah sie oft in Dörfern und in Städten
in scheuen Haufen durch die Strassen ziehn.
Als Menschenauswurf waren sie verschrien.
Sie wussten nichts von Wohlstand, Spitzenbetten.

Und viele trugen unsichtbare Ketten
und konnten ihrem Elend nicht entfliehn:
die Armut wollte sie darniederziehn
und schwer auf ihre harten Pritschen betten.

Und Kinder schrieen hungrig durch die Gassen,
die dumpfen Keller konnten sie nicht fassen,
und Elend quoll aus harten Fensterrahmen ...

Da kam der Tod. Er fühlte tief Erbarmen
und Ernte hielt er lange bei den Armen,
und manche Mutter nickte: Amen! Amen ...
(S. 81)
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Der Blinde im Frühling
Er schreitet langsam hin wie alte Frauen
mit welkem, abgewendetem Gesicht.
Kein Strahl das Dunkel seiner Augen bricht.
Er sieht nicht wie die Wolken Berge bauen.

Die Wälder grünen und die Himmel blauen:
den holden Farbenzauber spürt er nicht.
Und einmal doch wird seine Seele licht:
duftschwere Lüfte hauchen durch die Auen.

Da muss er seine kalten Arme heben
und ist den warmen Winden hingegeben
und duldet die Umarmung selig, stumm.

Und inniger die Lüfte ihn umfächeln
und bringen seinen starren Mund zum Lächeln
und sind ihm wie ein Evangelium.
(S. 82)
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Es rauscht der Wald das Lied vom Vagabunden
hinüber in des Dorfes stumme Gassen.
Die lauten Zecher all den Krug verlassen
und ziehn zum Talgrund, wo man ihn gefunden.

Schneeweiss sein Angesicht! Zwei dunkle Wunden
verschwimmen kühl auf seiner Stirn, der blassen.
Daneben ein Papier: "Ein Kind der Strassen,
das heiss geliebt, gefehlt - und Reu' empfunden."

Und einer raunt: "Am Wegesrand verdorben!"
Er schlägt ein Kreuz und flieht zum Dorfe wieder:
"Kein Grab für den, der so den Tod geworben!"

Den Wald ergreift ein tiefes, wildes Weh,
und sacht, erbarmend auf den Toten nieder
senkt leis der Himmel seinen reinen Schnee.
(S. 83)
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In Augenblicken, grossen, übervollen,
die schweigend dunkle Tiefen offenbaren,
wo Dinge, die vor langen Zeiten waren
in wilder Sehnsucht wieder leben wollen

und ihre Bilder aus dem Schlummer rollen
und sich vermengen gegenwärt'gen Scharen,
die staunend in die graue Ferne starren,
wo neue Dinge sich enthüllen wollen -:

Da fühl ich tief Vergang'nes in mir weben.
Nachfühlend leb ich vorgelebtes Leben
und gehe auf in grosser Gegenwart

und ahne künft'ges Sein in fernen Winden:
Die Ewigkeit umspannet mein Empfinden,
von tiefster Stille leis geoffenbart.
(S. 84)
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Der Abend öffnet seinen kühlen Garten
und Menschen wandeln seine breiten Wege
und steigen über moosbedeckte Stege,
wo stillgedämpfte Freuden sie erwarten.

Die müde sind von langen Wanderfahrten,
sie legen schlummernd sich in das Gehege.
Im fernen Dorf ist noch die Jugend rege,
und Kinder laufen durch den dunklen Garten.

Versteckt, aus halbverlorenem Lokale
hallt sanft Gesang von Seligen zu Tale,
verwehend unter kronenschweren Buchen,

indes ein Urgefühl die Brust mir weitet
und stumm mit mir den schwarzen Wald durchschreitet,
den grossen, unbekannten Gott zu suchen.
(S. 85)
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Gedenke, Seele, deiner Blütenzeit!
Wie ist sie fern! Versunken und verklungen!
Ihr blauen Tage, o wie seid ihr weit!
Das Lied der Frühe, es ist ausgesungen!

Es hat der Sturm die Blätter mir zerzaust,
wild durch die Lüfte hat er mich geschwungen.
Wie gell er durch den Lebensbaum gebraust:
mich zu bezwingen ist ihm nicht gelungen.

Ich wuchs und durfte reifen, Tag um Tag.
Weiss ich, wie dieses Dasein enden mag?
Genug! Ich reife auf des Lebens Flucht.

Der Sommer ging. Still tritt der Herbst ins Land ...
Und manchmal fühl ich eine kühle Hand -
Wer will dich ernten, herbe Frucht?
(S. 86)
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Das weiss ich, Seele: Bist kein leerer Schein,
doch sage, bist du also hochgestellt,
du: das Bewusstsein einer ganzen Welt?
Und du der Mittelpunkt von jedem Sein?

Wahrst du nicht allen Schmerz in deinem Hort?
Wär ohne dich nur eines Vogels Flug?
Du bist der Schöpfung innerer Bezug.
Du bist das Gottgewissen, bist das Wort.

Ich fühl es tief. Der Seele Saiten tönen
ganz rein. In diesem Augenblick versöhnen
sich Welt und Geist. Der Friede ziehet ein.

Erfüllung will sich in das All ergiessen.
O stille Zeit! O seliges Zerfliessen!
Hört nun das Leben auf zu sein?
(S. 87)
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Mein Schatten folgt mir durch der Wälder Gassen.
Die Bäume sehen aus wie Menschgestalten,
die mir die Zweige stumm entgegenhalten,
als wollten sie mit Armen mich umfassen.

Es dulden meinen Schritt die weissen Strassen,
die von des Tages Gluten leis erkalten.
Ich seh die Nacht die dunklen Hände falten,
und ihre dunkeln Hände muss ich fassen.

Und Liebe strömt aus allen Erdendingen!
Die grosse Liebe will mich niederzwingen.
Aus stillen Gründen steigt das tote Gestern,

und Heut und Morgen will sich mir verbünden
und ihre Stimmen hör ich leis verkünden:
Sind wir nicht alle Brüder, Freunde, Schwestern?
(S. 88)
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Des Himmels grauer Vorhang ist geschlossen.
Der Hof der Toten öffnet mir die Türen,
die mich ins Reich der Abgeschiednen führen.
Von Stille sind die Steine übergossen.

Und aus der Tiefe kommt es leis geflossen -
Unsichtbar kalte Hände mich berühren,
den Atemzug Gestorbner kann ich spüren
und dunkel hat ein Traum sich mir erschlossen:

Ein Toter sprengte seine engen Wände
und reichte mir die fleischlos harten Hände.
Doch seinem Mund entrann kein einzig Wort.

Nur seine Augen hielt er aufgeschlagen
und seine ew'gen Augen wollten sagen:
wir sind verkettet alle, hier und dort.
(S. 89)
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Ein Wandrer schreitet durch die Einsamkeiten,
in vollen Wäldern bleibt er sinnend stehen.
Er lauscht des Windes abgeriss'nem Wehen
und kann wie andre nicht vorüberschreiten

an diesen träumerischen Wirklichkeiten,
darin verborgen viele Quellen gehen.
Ihn zwingt sein Geist, hinauf-, hinabzusehen
und hinzuschweifen in die blauen Weiten

und, während schon die ersten Sterne winken,
zu spähen auf der Abende Versinken,
als wär er ihrem Dunkel nah verwandt

und in den ausgespannten Schattenkühlen
die Wiederkehr der Dinge mitzufühlen -:
Einsamer Freund, ich habe dich erkannt.
(S. 90)
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Allmächt'ge Stille! Meer erschwieg'ner Leben!
Zu meinen Füssen deine Fluten blinken,
und schlanke Hände aus der Tiefe winken,
die unbrechbares Schweigen um sich weben.

Nach deinem Eingang alle Ströme streben.
In dir muss jeder Lärm und Laut ertrinken.
In dich die grossen Abende versinken,
dir stumm und willenlos anheimgegeben.

Ein dunkler Nachen fährt an mir vorüber.
Ein Winken mit der kühlen Hand: "Hol über!" -
Ich fahr dahin. Um mich Versunkenheit.

Gibt's denn in dieser Stille keinen Rufer? -
Kein Hauch, kein Laut. Und nirgendwo ein Ufer:
Ich fahr dahin. - Es schwinden Raum und Zeit.
(S. 91)
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Ich schaue lang in dämmerblaue Weiten,
und meine Seele ist so voll von Dingen,
die sehnsuchtsvoll mein Inneres durchdringen
und ihre Arme dehnend nach mir breiten.

Die Wolken, die stillhoch vorübergleiten,
des Windes Lieder, die herüberklingen,
die schweren Wälder fester mich umschlingen:
es bannen mich mit Macht die Wirklichkeiten,

die mich in ihren schweren Mantel hüllen
und mich mit ihrem Wesen ganz erfüllen,
mir leise raubend den bewussten Sinn -

Doch quillt es manchmal auf in meinem Innern
und will mich seltsam kühl daran erinnern
mit abendstillem Ruf, dass ich noch bin.
(S. 92)
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Ich bin so tief in mich zurückgekehrt,
dass ich den schweren Leib nicht mehr empfinde.
Ich bin ein Baum geworden ohne Rinde,
ich bin ein Stein, des Erdgewichts entschwert.

Der Wolke gleich, die sich im Meere nährt
und dann hinschwebt im Atemzug der Winde,
als Regen niederfällt in tote Gründe
und dann als Woge über Meere fährt:

so frei schwebt nun mein Geist hoch über Erden,
allmächtig, irgend ein Geschöpf zu werden,
in Formen sich zu hüllen, die schon tot -

Empor mein Geist! Wirf ab die Menschenhülle!
Stürz jauchzend in die hingeworfne Fülle!
Ergreif den Mantel dort! Mensch! Werde Gott!
(S. 93)
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O Welt mit deinem unerforschten Gründen,
mit deinem Reigen, deiner tiefen Stille!
Du Traumgemach für Gottes Schöpferwille,
daher wir kamen und dahin wir münden!

Wie vielgestaltig kannst du dich verkünden!
O süsses Raunen! Steigendes Gequille!
Vom Vogelsang bis zum Gezipp der Grille
will alles daseinsfreudig sich entzünden.

Und ich inmitten dieser Lebenswogen,
bald abgestossen und bald angezogen,
wie mich das All durch seine Räume reisst!

Ist es ein Trug, der mir die Sinne blendet?
Ist's möglich, dass das Dasein nimmer endet?
Glühst du im Wunsch, du trunkner Geist?
(S. 94)
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Es naht die Nacht mit schlummerschweren Winden
und löscht die Lichter aus im weiten Land.
Auf heisse Schläfen legt sie sacht die Hand
und lässt die müden Augen sanft erblinden.

Und allen Dingen will sie sich verbinden
und deckt sie zu mit ihrem Traumgewand,
und Stille giesst sie lautlos in den Sand,
und tiefer dunkelnd alle Ufer schwinden.

Der ungebrochnen Stille hingegeben
erlischt der Dinge schlummertrunknes Leben;
sie sind nicht mehr und haben keinen Sinn. - -

Jetzt eben ward, von Gott zurückgenommen
in seine Brust, die stille Welt vollkommen - -
und ist so dunkel, wie von Anbeginn.
(S. 95)
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Aus: Karl Stamm Dichtungen Gesamtausgabe
Erstes und zweites Tausend
Rascher & Cie. Verlag Zürich 1920

Erster Band (Hrsg. Eduard Gubler)



 

 

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