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  Neroccio de'Landi (1445-1500)
 Porträt einer Dame (1480)
 
 
 
 
 
 
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 Andreas 
      Wilhelm von Wittorff
 (1813-1886)
 
 
 
 Frühlingssonette
 
 1.
 Lehr' Du mich, Vöglein, Frühlingslieder singen!
 In heilger Frühe, schwebend hoch im Lichte,
 Saugst Du Begeistr'rung ein zum Lustgedichte,
 Zu Erd' und Himmel Deine Töne dringen.
 
 Regst unermüdlich Deine kleinen Schwingen,
 Bist augenblicks entschwunden dem Gesichte -
 Doch gern auf Deinen Anblick ich verzichte,
 Denn schön're Lieder wirst von dort Du bringen.
 
 Da bist Du wieder! Von des Himmels Nähe
 Sinkst Du auf Deine Flur, Du hast ihr Regen
 Und fröhliches Gedeihn herabgeflehet:
 
 So sinkt der Dichter von des Traumes Höhe
 Zu Erdenbahn herab, doch Liebessegen
 Tönt fort von Herz zu Herzen unverwehet.
 
 
 2.
 O, ist dies Herz noch Frühlingsfreuden offen?
 Du Wunderarzt vom Himmel uns gesendet,
 Hab Dank! Du hast die schwere Kur vollendet,
 Und wieder kann ich weinen, lieben, hoffen!
 
 Und Leben saug' ich ein aus tausend Stoffen,
 Von dem das öde Herz sich lang gewendet;
 Berauscht vom süßen Duft, den Du gespendet,
 Wähnt noch mein Herz zu träumen, süß betroffen.
 
 Dir denn zum Ruhme, segensvoller Knabe,
 Soll sich mein Herz in Liedern froh entfalten,
 Zu viel, zu viel für eines Menschen Busen!
 
 Kalliope, Du liebste mir der Musen,
 Sei mit mir! Laß im Worte nicht erkalten
 Was ich so warm, so tief empfunden habe.
 
 Aus: Schneeglöckchen 
      Deutsche Lieder aus den Ostsee-Provinzen
 gesammelt und herausgegeben von
 Arnold Tideböhl und Wilhelm Schwartz
 Riga und Leipzig
 Verlag von Edmund Goetschel 1838 (S. 64-65)
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