Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 


 

Einem schönen Mädchen unter sein Bildnis

Wo sah ich das doch schon einmal?
Dies zart und liebliche Oval,
Die großen Augen tief und klar,
Dies bogenfeine Lippenpaar
Und diesen Strudel Lockenhaar?

Wo, wo? Und plötzlich seh ichs licht:
In Form und Farben ein Gedicht,
Das Botticellis teure Hand
Gedichtet auf die Leinenwand.

Stand lange in Florenz davor,
Mich ganz in Schauens Lust verlor,
Andächtig zu der klaren Kraft,
Die uns in Schönheit Tröstung schafft.

Denn aller Schönheit höchste Huld
Ist Trost und Stille und Geduld.
Wer recht zu sehen weiß, der spürt
Sein Herz von Schwingen angerührt,
Die himmelher und heilig sind.
Ihr Wehen ist so lieb und lind
Wie Mutteratem über der Wiegen;
Du fühlst dich eingebettet liegen,
Liebeeingefriedet wie ein Kind.

Dem Meister, der so hohes gab,
Legt Dankbarkeit den Kranz aufs Grab;
Der Schönheit, die ins Leben blüht,
Naht sich mit Wünschen das Gemüt:

Sei nicht bloß Schenkerin -: Beschenkte auch!
Im eignen Innern wohne dir der Hauch,
Den Schönheit atmet: Friede sei dein Teil!
Du lieb Gesicht, halt deine Seele heil!

Otto Julius Bierbaum (1865-1910)




 

Bild: Sandro Botticelli (1445-1510)
Madonna mit Kind (1483) (Detail)

Gedicht aus: Otto Julius Bierbaum – Irrgarten der Liebe.
Verliebte launenhafte und moralische Lieder Gedichte und Sprüche
aus den Jahren 1885 bis 1900
Im Verlage der Insel bei Schuster und Loeffler Berlin und Leipzig 1901

 

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