Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 




Schönheit

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- - - Da trat alsbald heran
Im Jagdgewande eine schöne Dam',
Den inner'n Werth sah man sogleich ihr an,
Ihr hohes Wesen, sagt's, daß sie vom Himmel kam.
Ihr schön Gesicht schien irdisch nicht zu sein,
Ein Engelsabdruck war's aus Himmelshöh'n,
Klar wie der Himmel, fleckenlos und rein,
Drin sich die Farben mischen sanft und schön.
Gleichwie im Lilienbeete Rosen steh'n,
Erblühte ihrer Wangen Rosenroth,
Woraus empor ambros'sche Düfte weh'n,
Daß doppelt Glück sich dem Beschauer bot,
Das Siechthum heilen kann, und Leben weckt aus Tod.

Die Augen, zwei lebend'ge Flammen, glüh'n,
Entzündet an des Schöpfers Strahlenquell,
Daraus hervor so warme Gluten sprüh'n,
So flüchtig schimmernd, und so wunderhell,
Daß den Beschauer sie verblenden auf der Stell'.
Oft hätte seine ird'sche Flamme gern
Darin geweckt des blinden Gottes Hand,
Doch ihre strenge Majestät hielt fern
Den Gott, zerbrach den Pfeil, und löscht der Sinne Brand.

Nichts giebt's, was über's männliche Gemüth
So unausschließliche Gewalt erringt
Als holde Schönheit; Kriegslust, wild entglüht
In tapfrer Brust, ihr Blick zur Ruhe zwingt,
Der Arm vergißt die Kraft, die ihn durchdringt,
Wenn ihn der Blick, der Herzen raubt, erreicht.
Wenn ihn der Locke goldne Haft umschlingt,
Sein Herz in sanfter Wonne sich erweicht,
Der laute Drang nach Blut und wilden Gräueln schweigt.

Dies auch erfuhr einst Juda's mächt'ger Sohn,
Dem jede Lock' durchdrungen Manneskraft,
Der Herrin bracht' er seiner Siege Lohn;
Der große Herkules, aus Leidenschaft
Legt' ab die Löwenhaut; die Weltherrschaft
Versäumt' Antonius, weil des Kriegers Sinn
Cleopatra gebannt in süße Haft.
Der Schönheit ward solch' hohe Macht verlieh'n,
Von ihr gefesselt giebt der Mann die Erde hin.

Edmund Spenser (1552-1599)

(Übersetzung Louise von Ploennies)



 

Bild: Raffaelo Sanzio (1483-1520)
Madonna mit dem blauen Diadem (1510-11)
(Detail)

Gedicht aus: Britannia. Eine Auswahl englischer Dichtungen
alter und neuer Zeit.
In's Deutsche übersetzt von Louise von Ploennies
Mit beigedrucktem Originaltext
Frankfurt a.M. Verlag der S. Schmerber'schen Buchhandlung 1843

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