Das Liebes-Poetische Manuskript N° 29

Russische Dichterinnen des 19. Jh.s - Bilder von Teodor Axentowicz (1859-1938)

 


Teodor Axentowicz
(1859-1938)
Lesende
 


 

Julia Valerianowna Shadowskaja
(1824-1883)

 

 



Wie wohl ist mir! … In ungemeßner Höh
ziehn reihenweis von ferne dunkle Wolken.
Es bläst ein frischer Wind mir ins Gesicht
und schwenkt die schwanken Blumen mir ans Fenster.
Fern donnert's hohl. Das drohende Gewölk
wälzt feierlich und langsam stets sich näher …
Wie wohl ist mir: vor des Gewitters Größe
verstummt der kleine Sturm in meiner Brust!

 

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Siehst du, wie am blauen Himmel
rosenrot das Wölkchen zieht?
Siehst du dieses Blühn der Felder?
Hörst du rings der Vögel Lied?

Schwing dich auf mit mir, Geliebter -
sei's nur für den Augenblick -
höher als das Menschenelend,
höher als das Menschenglück!

 

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Du wirst mich schon balde vergessen,
doch nimmer vergesse ich dich;
Noch oft wirst im Leben du lieben,
doch einmal nur lieben kann ich.

Manch neues Gesicht wirst du schauen
und oft deine Freunde erneun,
manch neues Gefühl wird dich locken -
vielleicht auch wirst glücklich du sein …

Ich aber will einsam und traurig
ergreifen den Wanderstab;
und wie ich geliebt und gelitten -
erfährt dereinst nur das Grab!

 

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Noch immer lieb ich ihn! … Trübt Wahnsinn mein Gemüt? …
Bei seinem Namen bebt die Seele mir vor Sehnen;
wie einst, vor Jahren, ist mein tiefstes Herz durchglüht,
und meinen heißen Blick befloren heiße Tränen.

Noch immer lieb ich ihn! … Ja, Wahnsinn ist's, ich seh! …
Doch meine Seele träumt tiefstill dabei und wonnig;
und feiertäglich weht es mir durchs Herz und sonnig -
wenn um sein vollstes Glück ich zum Allschöpfer fleh.

 

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Ach, ganz andre Zeiten sind gekommen!
Denk des Einst ich – perlt sich mir der Blick:
offen stand den Hoffnungen die Seele
und das Herz – dem Traum von Erdenglück.

Unbewußt gab ich mich hin der Freude,
unbewußt gab ich mich hin dem Leid;
in die Zukunft sah ich ohne Beben,
schaute nicht der Menschen Haß und Neid …

Ach, ganz andre Zeiten sind gekommen!
Voller Gleichmuts blick ich in die Welt -
da kein Wunsch mehr blüht in meiner Seele,
keine Hoffnung mehr das Herz mir schwellt.

Ja, ganz anders blick ich auf das Leben,
nun ich nicht das Glück von ihm erfleh:
ohne alle Hoffnung kann ich lieben
und verlieren ohne alles Weh.

 

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Frühlings Wiederkehr


Was will mir neu den Busen weiten
und flüstert mir ein süßes Wort?
Was pocht das Herz mir wie vor Zeiten
und neigt mein Haupt sich fort und fort?

Warum in meiner alten Trauer
hellt neu die Freude meinen Blick?
Warum beim Lenzenswonneschauer
träumt meine Seele nur von Glück?

Wer hat die Hoffnungen, die alten,
aus ihrem Schlafe mir erweckt?
Wer hat in breiten, schönen Falten
vor mir das Leben aufgedeckt? …

Soll gar in meinem trüben Leben
mir noch ein Sonnentag erglühn?
Ist's meinem Herbste gar gegeben,
noch einen Frühlingstag zu blühn?

 

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Abendgedanke


Maihimmel! Herrlicher noch als am Tage
bist du am Abend!
Bald ist es Mitternacht, doch du bist
noch durchsichtig hell.
Vor dem Antlitze Gottes erstrahlen
als Lämpchen die Sterne.
Schlaf will mir schließen das Lid,
ich jedoch wehre dem Schlaf:
kann ich doch dich dann, Himmel, nicht sehn!
Und lieg ich im Schlummer,
weiß ich, ob dann ich im Traum
werde dich, Himmel, erschaun?

 

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Viele helle Tropfen
fallen in die Meerflut
viele lichte Funken
strahlen auf die Menschen.

Doch nicht jeder Tropfen
wird zu einer Perle,
die durchgleißt das Dunkel
auf des Meeres Boden;
und nicht jeder Funke
wird zur Gottesflamme
in des Menschen Herzen,
die belebend lebt.

 

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Biographie:
wurde am 11. Juli / 29. Juni 1824 als Tochter eines Staatsrats im Ljubimschen Kreis des Gouvernements Jaroslawij geboren. Ihre erste Erziehung mußte vernachlässigt werden, da das Kind ohne linken Arm und nur mit drei Fingern an der rechten Hand zur Welt kam. Dreizehnjährig kam Julia Valerianowna zu ihrer Tante Anna Iwanowna Kornilowa, die unter ihrem Mädchennamen Gotowzewa Gedichte veröffentlichte. Nur kurze Zeit lernte sie in Kostroma. Zwischen dem Lehrer des Russischen in der Pension, P. M. Perewlefskij (nachträglich bekannter Professor der russischen Sprache, gest. 1866) und seiner Schülerin entspann sich ein inniges Herzensbündnis; doch zur Ehe kam es nicht, einem Verbot Shadowskijs zufolge. Julia Valerianowna unterwarf sich widerspruchslos dem Willen des Vaters, doch bewahrte sie dem Geliebten ein treues Gedenken bis an ihr Lebensende. Um der Tyrannei des Vaters zu entgehen, heiratete sie 1862 einen alten Arzt, K. Sewen, und starb im Juli 1883. -
Außer Gedichten veröffentlichte sie die Romane: "Abseits von der großen Welt" und "Die Geschichte einer Frau", sowie mehrere Novellen, die ihre eigene unglückliche Liebe zum Gegenstand haben. Das Gedicht "Du wirst mich schon bald vergessen" war, nach der Melodie von "Du hast Diamanten und Perlen" gesungen, jahrzehntelang ein Lieblingslied aller russischen Gesellschaftsschichten.
 

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Gedichte und Biographie aus: Russische Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler.
Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907
 

 

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