Das Liebes-Poetische Manuskript N° 3

Kuß-Gedichte

Gustav Klimt Der Kuss



Sidonie Grünwald-Zerkowitz
(1852-1907)

Die politische Gesinnung des Kusses
 
Da jüngst hat es den Kuß getrieben
Zu eines Munds Korallenthor,
Der ihn mit manchem reizvoll lieben
Wort neckend, süß zu sich beschwor.
 
Schon hofft der Kuß, es möcht' begegnen
Der Mund ihm hold im Liebesdrang ...
Da wehrte plötzlich dem Verwegnen
Der Mund voll Hochmut den Empfang.
 
- Vorerst mußt Du genau erweisen
Mir deine Herkunft, stürmisch Kind,
Ob Du entstammst Plebejerkreisen,
Ob Deiner Ahnen - sechzehn sind!
 
Bist du Franzose? - Russe? Britte?
Bist - Jude Du, bist Du nicht Christ?
Noch Eins: (wärst Du aus unsrer Mitte)
Bist - Deutscher Du oder Panslavist?
 
Denn ich empfange selbst an Küssen
Nur gleichgesinnte Haute-volée!
Das solltest Du ja selber wissen,
Bist Kuß Du nicht ein Roturier!
 
Darauf der Kuß:
 
- Ein Kind bin ich der Liebesflamme,
Die jedes Herz mit Demut nennt,
Die Hohe doch, von der ich stamme,
Die »Unterschiede« da nicht kennt!
 
Sie züngelt über jede Mauer,
Die Welten Haders Gegenstand! -
Fühlst nicht Du selbst mit Wonneschauer,
Wie nichts ihr leistet Widerstand? ...
 
Drum, fühlst Du wie ich, Funke, schnelle
Dir auf die Lippen süß will sprühn,
Empfang' mich anders an der Schwelle!
Ein Narr, wer frägt: wo Rosen blühn!
 
 


 

Gedicht aus: Sidonie Grünwald-Zerkovitz:
»Das Gretchen von heute«. Wien 1890

 

zurück

zurück zur Startseite