Das Liebes-Poetische Manuskript N° 3

Kuß-Gedichte

Gustav Klimt Der Kuss



Robert Prutz
(1816-1872)

Amor als Arzt

"Wundgeküßt" – so klagte jüngst die Liebste –
"Wundgeküßt von deinen Flammenküssen
Ist die Lippe mir, du Lieber, Böser!
Kommt der West, der lose, angegaukelt,
Will es treiben, der verliebte Schwärmer,
Wie er es von dir gesehn, du Wilder,
Muß ich zucken wie von Nadelstichen;
Schmerzen macht sogar das kühle Naß mir,
Das krystallhell ich vom Brunnen schöpfe;
Will ich aber sprechen, zieh' ich Mäulchen,
Daß die Leute, die mich ansehn, lachen;
Und nur daß ich dich, du Heißgeliebter,
Liebe, liebe über alle Maßen,
Dies allein kann ohne Schmerz ich sagen.
Heile denn, den du hast angerichtet
Heile du den Schaden, Lieber, Böser,
Heile mir die wundgeküßte Lippe!"

Ich darauf: "Was du verlangst, ist billig,
Heilen muß ich dir die wunde Lippe,
Und der Künste, glaub' mir, bin ich Meister.
Doch nicht helfen Balsam hier und Salben,
Noch was weise Frauen künstlich doctern;
Helfen kann allein hier, dieses wisse,
Was zuerst den Schaden angerichtet.
Hast am heißen Herd, geschäftig waltend,
Wie es ziemt dem immer flinken Weibchen,
Du verbrannt das Fingerchen, das zarte;
Rasch noch einmal dem verruchten Eisen
Näherst du den liebe weißen Finger,
Klüglich mit dem Brand den Brand erstickend.
Gleicherweise heil' ich deine Lippe!
Ward sie wund von meinen Flammenküssen,
Flugs aufs neue, Liebste, laß uns küssen,
Endelos und stets von neuem wieder,
Und der Künste, glaub' mir, bin ich Meister.
Küsse laß uns tauschen, mild und schmelzend,
Wie die Rose duftet im Verscheiden;
Süßer, denn der Fleiß der kleinen Biene;
Länger ach und heißer, sehnsuchtvoller,
Als die Nacht zween Liebenden dahinschleicht,
Welche ferne von einander schmachten;
Zahllos, wie die Regentropfen fallen,
Wenn des Himmels Schleusen aufgezogen; -
Solch ein Regen, Liebste, wird erfrischen
Deines Mundes holde Zwillingsknospen,
Daß sie frischer denn zuvor erblühen –
Küssen laß uns, immer neue Küsse,
Küssen nur heilt wundegeküßte Lippen."

Sprach's – und in die Arme, schalkhaft lächelnd,
Sank die Liebste mir mit holdem Beben,
Durch des Mundes brennende Korallen
Sah ich hell die weißen Zähnchen leuchten;
Heißer, tiefer, süßen Wahnsinns trunken,
Wühlten in einander sich die Seelen –
Und mit Küssen, immer neuen Küssen
Heilten wir die wundgeküßte Lippe.



 

Gedicht aus: Robert Prutz Buch der Liebe
Leipzig Verlag von Ernst Keil 1869

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