Das Liebes-Poetische Manuskript N° 37


Liebesgedichte und Bilder

Mechthild von Magdeburg (1208-1282) Aus: Das fließende Licht der Gottheit (Buch III, IV und V)
 

(c) Gerd Altmann / Pixelio.de
(c) Gerd Altmann / Pixelio.de



Buch III II. Wie dú sele lobet got an siben dingen und got si.
Von der salbe und beite


"O suesser Jhesus, allerschoeneste forme,
unverborgen in noeten und in liebe miner ellenden sele!
Ich lobe dich mit dir selben in der minne,
in noeten und in liebe mit der gemeinschaft aller creaturen,
des lustet mich denne ob allen dingen.

Herre, du bist die sunne aller ovgen,
du bist der lust aller oren,
du bist dú stimme aller worten,
du bist dú kraft aller vromekeit,
du bist dú lere aller wisheit,
du bist das lip in allem lebende,
du bist dú ordenunge alles wesendes!"

Do lobte got die minnende sele loblich,
des luste in suesseklich alsust:
"Du bist ein lieht vor minen ovgen,
du bist ein lire vor minen oren,
du bist ein stimme miner worten,
du bist ein meinunge miner vromekeit,
du bist ein ere miner wisheit,
du bist ein lip in minem lebende,
du bist ein lop in minem wesende!"

"Herre, du bist ze allen ziten minnensiech na mir,
das hast du wol bewiset an dir.
Du hast mich geschriben an din buoch der gotheit,
du hast mich gemalet an diner moenscheit,
du hast mich gegraben an diner siten, an henden und an fuessen.
Eya, erlovbe mir, vil lieber, das ich dich salben muesse."

"Ja, wa woeltistu die salben nemmen, herzeliebe?"

"Herre, ich wolte miner sele herze inzwoei rissen
und woelte dich dar in legen."

"So moehtest du mir niemer so liebe salben gegeben,
als das ich ane underlas in diner sele mueste sweben."

"Herre, woeltest du mich mit dir ze huse nemen,
so woelte ich iemer me din arcedinne wesen."

"Ja, ich wil, iedoch min trúwe heisset dich beiten,
min minne heisset dich arbeiten,
min gedult heisset dich swigen,
min kumber heisset dich armuot liden,
min smahheit heisset dich vertragen,
min genuegen heisset dich note clagen,
min sig heisset dich an allen tugenden vollevarn,
min ende heisset dich viele tragen;
des hast du ere, swenne ich dinen grossen last entlade."

[forme - Urbild; des lustet mich - es erfreut mich;
lere - Lehre; lip - Leben; wesendes - Seiendes;
lieht - Licht; lire - Leier;
meinunge miner vromekeit - Wille für meine Vortrefflichkeit;
lop - Lob; minnesiech - liebeskrank;
inzwoi rissen - auseinanderreißen;
ze huse - nach Hause; arvedinne - Ärztin;
truwe - Treue; beiten - ausharren, warten;
swigen - schweigen; liden - leiden; smahheit - Schmach, Erniedrigung;
note clagen - selten klagen; vollevarn - zur Vollendung bringen]




 
   

 

 

 

(c) MaryLove / Pixelio.de
(c) MaryLove / Pixelio.de


Buch III V. Wie dú sele klaget, das si keine messe noch die zit
hoeret, und wie got si lobet an zehen dingen

(...)
Do sprach der minnekliche munt, der mine sele
hat durwunt mit sinen grossen worten,
die ich nie wirdige horte, alsust:

" Du bist miner gerunge ein minnenvuolunge,
du bist miner brust ein suessú kuolunge,
du bist ein kreftig kus mines mundes,
du bist ein vroelich vroede mines vundes!
Ich bin in dir und du bist in mir,
wir moegen nit naher sin,
wan wir zwoei sin in ein gevlossen
und sin in ein forme gegossen.
Also son wir bliben eweklich unverdrossen."
(...)

[durwunt - verwundet (hat); nie wirdige - (ich) Unwürdige;
gerunge - Begehren; minnevuolunge - Liebesfühlen;
kuolunge - Kühlung; mines vundes - meines Fundes;
unverdrossen - unermüdet]


 
   

 

 

 

(c) Karina Sturm / Pixelio.de
(c) Karina Sturm / Pixelio.de

 



Buch III XI. Zwúschent got und der minnenden sele
sint allú ding schoene


Wenne die minnende sele sihet in den ewigen spiegel,
so sprichet si:

"Herre, zwúschent dir und mir sint
alle ding schoene; (...)"



 
   

 

 

 

(c) Mark1480 / Pixelio.de
(c) Mark1480 / Pixelio.de



Buch III XIII. Von sehtzehen hande minne


Dú milte minne von heliger barmherzekeit
vertribet ital ere und boesen krankheit.

Dú ware minne von gotlicher wisheit
bringet genuegunge und vertribet die unlobliche girheit.

Dú diemuetigú minne von heliger einvaltekeit
gesiget alleine úber die hoffart und bringet die sele
mit gewalt in helige ware bekantheit.

Die stete minne von guoten siten
mag keiner valscheit gepflegen.

Dú grosse minne von kuener getat
weis ir in allen dingen guoten rat.

Dú bevintlich minne von gotes heimlicheit
verblendet dis ertrich sunder arbeit.

Dú gebunden minne von heliger gewonheit
dú ruowet niemer und lebt doch in ir selber sunder arbeit.

Dú ingende minne von grosser úberfluot
dú liget alles stille und ir sint allú ding bitter
sunder alleine got.

Dú rueffende minne von edeler ungedult
dú swiget niemer und si hat seleklich vergessen aller schult.

Dú dútesche minne von gotz lere
dú boeget sich noch zuo einem kinde vil gerne.

Dú schoene minne von hoher gewalt
dú jungert die sele, und der lip wirt alt.

Dú minnekliche minne von offener gabe
verdilget des suren herzen clage.

Dú gewaltig minne von richer koste
hat in gotte die suesseste lust.

Dú verborgen minne treit túren schatz
von guotem willen in heliger tat.

Dú clare minne von spilender fluot tuot der sele suesse not,
si toedet si ovch sunder tot.

Dú windesche minne von úbermaht,
das ist dú nieman gedúten mag.

[ital ere - eitle Ehrsucht; genuegunge - Genügsamkeit;
girheit - Gier; ware bekantheit - wahre Erkenntnis;
von kuener getat - von kühner Tat; bevintlich - erkennende;
ingende - eingehende; uberfluot - überstömende;
dutesche minne - die erklärende Liebe;
jungert - verjüngt; des suren herzen clage - des bitteren Herzens Klage;
von richer koste - die sich verausgabt;
treit turen schatz - trägt einen kostbaren Schatz;
windesche minne - stürmende Liebe; geduten - deuten, erklären]



 
   

 

 

 

(c) Mimofoto / Pixelio.de
(c) Mimofoto / Pixelio.de


Buch III XXIII. Die kraft der gerunge benimet die wort;
jungfrowen mag got nit enbern;
gotz angesiht, sin umbevahen und sin lust
úbewinden tusent toede

Swer do brant in der creftigen minne fúr,
der mag des nit erliden,
das er sich mit den súnden iergen ergliche kuele.

"Eya vil lieber, wenne sol dich des lusten,
des mich lustet?"
Alsust sprach ein ellendige sele.

Do antwúrt ir der vil liebe und sprach
als er nit wiste, was si woelte:
"Wes lustet dich?"

Do sprach si aber:
"Herr, dú kraft der gerunge hat mir benomen
die stimme der worten."

Do sprach er:
"Die juncfrovwen koennent nit wol vrien,
wan ir schemme ist von nature edel."

Do klagte si:
"Owe herre, joch bist du mir alze lange vroemde!
Koende ich dich, herre, mit zovfere gewinnen,
das du nit moehtest geruowen denn an mir!
Eya, so gienge es an ein minnen!
So muestest du mich denne bitten,
das ich fuere mit sinnen!"

Do antwúrt er und sprach alsust:
"O du unbewollen tube,
goenne mir des, das ich dich muesse sparen;
dis ertrich mag din noch nit enbern."

Do sprach si:
"Eya herre, moehte mir das ze einer stunt geschehen,
das ich dich nach mines herzen wúnsche
moehte angesehen
und mit armen umbevahen
und din goetlichen minnelúste
muesten dur mine sele gan,
als es doch menschen in ertrich mag geschehen!
Was ich da nach liden woelte,
das wart nie von menschen ovgen gesehen -
ja, tusent toede weren ze lihte.
Mir ist, herre, nach dir also we!
Nu wil ich in der trúwe stan;
maht du es, herre, erliden,
so las mich lange jamerig nach dir gan.
Ich weis das wol:
Dich muos doch, herre,
der erste lust nach mir bestan."

[gerunge - Begehren; enbern - entbehren; umbevahen - Umarmen;
swer do brant - wer brannte; fur - Feuer; ergliche - verwerfliche;
kuele - abkühlt; vrien - freien; scheme - Scheu;
zovfere - Zauber; das ich fuere mit sinnen - dass ich Maß halte;
unbewollen tube - unbefleckte Taube; in der truwe stan - in Treue ausharren;
lust nach mir bestan - die Lust nach mir überkommen]




 
   

 

 

 

(c) Uschi Dreiucker / Pixelio.de
(c) Uschi Dreiucker / Pixelio.de

 



Buch III XXIV. Zweierleie geistlichen lúten wirt gebotten
zweigerleie geist von got und von dem túfel.
Von siben hande minne

(...)
Die getrúwe minne hat zuo gotte ein stete lop,
die gerende minne tuot dem reinen herzen vil manig suesse not,
die suochende minne ist ir selbes alleine,
die bekante minne git sich allen creaturen gemeine,
die lútende minne ist noch gemenget mit trurekeit,
dú swigende minne gebruchet sunder arbeit.
O, was si stille werket, das es der licham nit enweis!
Dú luter minne ist in got alleine stille,
wan si habent beide einen willen,
und ist enkeine creature so edele,
die si moege hindern.
(...)

[hande - Formen; getruwe - getreue; lop - Lob;
gerende - begehrende, sehsüchtige; bekante - erkennende;
git sich - gibt sich; lutende - rufende; trurekeit - Traurigkeit;
swigende - schweigende; gebruchet - genießt; licham - Leib;
luter minne - lautere Liebe]


 
   

 

 

 

(c) Mischi43 / Pixelio.de
(c) Mischi43 / Pixelio.de



Buch IV XVI. Die grosse minne hat me denne zehen stuke
und von zweiger hande clage


Hie nach hat dú grosse minne ir nature:
Si vlússet nit mit trehnen,
mere si brennet in dem grossen himmelfúre;
da inne vlússet si allerverrost
und stat doch in ir selber allerstillost;
si stiget gotte allernehest
und blibet an ir selben allerinnest;
si begriffet allermeist
und behaltet allerminst.

"O allerseligostú minne,
wa sint die, die dich bekennen?"
"Si sint gentzlich verbrant
in der heligen drivaltekeit,
si wonent nit in in selber.
Dise seligen moegent niemer vallen in hovbtsúnde."

"Warumbe?"

"Si sint mit gotte durvlossen
und umbevangen so sere,
ie me si besuochet werden,
ie starker si werdent."

"Warumbe?"

"Ie langer si hie sint in dem strite und minnent,
ie edeler si got dunket
und ie snoeder  und unseliger
si sich selben dunkent."

"Warumbe?"

"Ie heliger minne, ie grosser angst,
und ie maniger trost,
ie steter vorhte.
Aber dú minnonde sele mag nit grúwelichen vúrhten,
mere si voerhtet edellich."
(...)

[me denne zehen stuke - mehr als zehn Eigenschaften;
mere si brennet - vielmehr brennt sie; himmelfure - Himmelsfeuer;
allerverrost - in die größte Ferne; wa sint die - wie sind die;
ie edeler si got dunket - desto edler erscheint ihnen Gott;
ie maniger trost - je häufiger der Trost; vorhte - Furcht, Angst;
die minnonde sele - die liebende Seele;
gruwelichen vurhten - grauenvolle Angst;
mere si voerhtet edellich - empfindet edle Scheu]



 
   

 

 

 

(c) Tobias Schwarz / Pixelio.de
(c) Tobias Schwarz / Pixelio.de



Buch IV XIX. Das ambaht der gebenedigten minne
ist manigvalt


O gebenedicte minne,
das was sunder beginne din ambaht
und ist noch,
das du got und des menschen sele
zesamene bindest.
Das sol din ambaht sunder ende sin.
Gegruesset siestu, vrovwe min,
und beware, das ich nit klage
mime schoenen herren úber dich.
Wil er ze lange von mir sin,
so erfrúre ich ze sere:
das beware, herzefrovwe kúnegin.
Du hast mich in gotte verleitet,
das ich seleklich gebunden bin.

O minne, vrovwe, hilf du mir,
das ich an sinem arme verscheide,
da ich mit ime bevangen bin.
Iedoch wil ich gerne
liden des todes pine
an dem súndigen lichamen min.

Minne, du hast den groessosten gewalt
vor allen tugenden iemer me;
des wil ich gotte iemer danken.
Du benimest mir manig herzensere.
Ich habe enkein tugende mere,
er diener mir mit den tugenden sin.
Das were mir swerer denn der tot,
das ich iht guotes moehte getuon
sunder den herren min.
(...)

[ambaht - Aufgabe; das was sunder beginne - das war vor aller Zeit;
zesamene - zusammen; mime - meinem; so erfrure ich - ich würde erfrieren;
mit ime bevangen bin - von ihm eingehüllt bin; pine - Pein;
lichamen - Leib; herzensere - Herzeleid; er diener mir - er dient mir (mit);
iht - etwas]



 
   

 

 

 

(c) Brit Berlin / Pixelio.de
(c) Brit Berlin / Pixelio.de



Buch V XXX. Von zwenzig kreften gottes minne
und von manigvaltigen nammen


Eya liebú gotz minne,
behalse ie die sele min,
wan es múrdete mich ob allem we,
solte ich wesen von dir vri!

Eia minne, nu la mich nit erkuelen;
minú werk sint allú tot,
so ich dich nit vuele!

O minne, du machest suesse pine und not,
du gibest lere und trost
den waren gottes kinden.

O minnebant! Din suessú hant hat den gewalt,
si bindet beide jung und alt.

O minne, du machest grosse burdin lichte,
und kleinú súnde dunket dich swere;
du dienest gerne sunder lon
allen creaturen undertan.

Eya suessú gotz minne,
swenne ich alze lange sclaffe
an versumekeit guoter dingen,
so tuo wol und wekke mich
und singe mir, vrowe, dinen sang,
da du die sele mitte ruerest als ein suesse seitenklang.

Eya minne vrowe,
wirf mich under dich,
ich wurde vil gerne sigelos!
Das du mir denne benemist dis leben,
dar an lit, vrowe, aller min trost.

Owe miltú gotz minne,
du schonest min alze sere,
das clage ich iemer mere.

Minne, din vil edle gruos
der hat erfúllet minen muot.
Minne, din vil reine quelen tuot
mich ane súnden leben.
Minne, dinú stetú andaht hat mich
in also suessen kumber braht.

O goetlichú minne,
wie sol ich din mit gedult enbern,
so du mir wilt vroemde sin.

Minne, das ist ein wunneklich himmelsch homuot,
das mir din vroemdi wol tuot.

O wunderlichú minne,
wol selig der iemer, den du lerst;
das ist sin wunneklichestú diemuetekeit,
das er, vrovwe, dich es bittet,
das du von ime kerest.

Eya minne, wie kleine du der vindest,
die dich mit aller maht in allen dingen suochent
und mit stetem vlisse din gebruchent,
und die dich in minneklicher gere heissent,
das du von inen vliehest.
Der ist aber vil,
die dir mit dem munde rueffent
und mit den werken von dir kerent.

Minne, din scheiden und din komen
das ist gliche willekomen der wol geordeneten sele.

Minne, du hast alles das wunder getan,
das got hat mit úns begangen
in herzeklicher liebi.

Minne, din vil edelú luterkeit,
dú als ein schoene spiegel
stat vor gotte an der kúschen sele,
die machet heissen minnelust
in der magetlichen brust
zuo Jhesu, irme lieben.
Die sere minnen unde megde sint,
das sint die jungvrowan von Seraphin.

Minne, din helig barmherzekeit
dú tuot den túfelen manig leit.
Minne, din vil suesse vride bringet senfte gemuete
und reine sitten.

Minne, din heligu genuegunge
machet vri gemuete
in willeclichem aremuete.

Minne, din warú durnehtekeit
dú claget nit gerne missekemi
noch arbeit.

[gotz minne - Gottesliebe; behalse - umfange;
murdete mich - (es) würde mich martern; vri - frei; vuelen - fühlen;
pine - Pein; grosse burdin lichte - grosse Bürden leicht;
sclaffe - schlafe; versumekeit - versäumen;
sigelos - sieglos, unterliegen;
dar an lit aller min trost - darin besteht all meine Hoffnung;
miltu gotz minne - großzügige Gottesliebe;
wunneklich himmelsch homuot - wonnigliches himmlisches Hochgefühl;
wie kleine du der vindest - wie wenige du (von solchen) findest;
edelu luterkeit - edle Lauterkeit; tufel - Teufel;
warú durnehtekeit - wahre Vollkommenheit; missekemi - Unannehmlichkeit]



 
   

 

 

 

(c) Gabi B. / Pixelio.de
(c) Gabi B. / Pixelio.de



Buch V XXXI. Von zehen creften der minne,
und das kein creature mag vol gedenken
der selen gerunge ze gotte


O minne, wie breit wirt din lieht in der sele
und wie vúrig ist din schin
und wie unbegrifflich ist din wunder
und wie manigvalt ist din wisheit
und wie snel ist din gabe
und wie kreftig ist din bant
und wie durnehtig ist din wesen
und wie senfte ist din vlus
und wie gros ist din koste
und wie getrúwe ist din arbeit
und wie helig ist din underscheidenheit!

Alse du die selen mit allen disen dingen durchvarest
und si denn sich ufhabet
und beginnet vliegen mit tubenvedern,
das ist mit allen tugenden,
und beginnet denne ze gerende
mit des aren girheit,
so volget si der hitze ufze himmele,
wan es dunket si alles kalt und ungesalzen,
das zergenglich ist.

So spriche ich uz dem munde der warheit alsus:
" Herre, die gerunge die ich zuo dir habe in dinem zuge,
herre, die wisheit die ich denne enpfan in der minne vluge,
herre, die einunge die ich denne begriffe in dinem willen,
herre, die stetekeit die ich denne behalte nach diner gabe,
herre, die suessú gehúgnisse als ich din gedenke,
herre, die verwenete minne, die ich zuo dir habe,
die ist in ir selben also rich
und vor dinen gotz ovgen also gros,
eb du es nit wistest, herre,
so moehten es nit allú santkoerner,
alle wassertropfen,
alles gras und lovp, stein und holz,
alle toten creaturen,
da zuo alle lebenden creaturen:
vische, vogele, tier, wúrme,
vliegende und kriechende,
túfel, heiden, juden und alle dine viende,
noch me: alle dine vrúnde, menschen, engel, heligen;
nu, eb alle die personen sprechen koenden,
wolten und rieffen ane underlas
untz an den jungesten tag, werlich herre,
das weistu wol, si moehtin dir nit halp gekúndigen
die meinunge miner gerunge
und die not miner quelunge
und das jagen mines herzen
und das ufruken miner sele
nach dem smake diner salben
und dem ungescheidenen anhangen ane underlas."

"Ja Maria vrowe, gottes muotter,
wie solte es dir ergan,
eb du begondest mit dinem sune ze kúndende
der ewigen gotheit die liebi,
die ein vereinitú sele ane valsch
in disem libe in der ewigen gotheit hat,
und das rueren, da mit er si trútet;
vrowe, du moehtist muede werden
und din sun mueste amehtig werden,
wan der goetlichen minne vúrigú kraft gat
úber alle menschliche maht."

[lieht - Licht; vurig - feurig; durnehtig - vollkommen;
din Koste - dein Aufwand; underscheidenheit - Unterscheiden, Urteil;
ufhabet - sich emporheben; mit tubenvedern - mit Taubenflügeln;
zu gerende - zu begehren; zergenglich - vergänglich;
enpfan - empfange; die suessú gehúgnisse - die süsse Erinnerung;
die verwenete minne - die zärtliche Liebe; viende - Feinde;
vrunde - Freunde; werlich - wahrlich;ufruken - Emporzucken;
nach dem smake - nach dem Duft;
da mit er si trútet - mit der er sie liebkost; amehtig - ohnmächtig;
vurigi kraft - feurige Kraft; gat - geht (übersteigt)]





 

Alle Texte aus:
Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder Das fließende Licht der Gottheit: aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln. Herausgegeben von P. Gall Morel Regensburg 1869


Alle Bilder: www.pixelio.de

 

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