Minnesang

Nachdichtungen deutscher Minnesänger
 

 

 


Gösli von Ehenheim
(um 1226 – 1250)


Winterlied

Jetzt strebt der Feind der Blütenfülle,
Daß er sein Zürnen uns enthülle;
Hört, wie er fährt mit Sturmgebrülle
Hin übers Waldgefilde.
Es hält ihm niemand Widerpart,
Er greift mit Händen rauh und hart
Die Blumen alle, bunt und zart,
Und kennet keine Milde.
Entblättert stehn die muntern Auen,
Die Vögel bergen sich alsbald;
Ihr helles Loblied ist verhallt,
Das macht der Winter grimm und kalt,
Doch ich sing meiner Frauen.


Sie ist so tugendhaft und milde,
Von der ich trag das Bild im Schilde;
Ein Röslein rot im Dorngefilde
Ist sie bei andern Frauen.
Im Herzen mein lebt sie fürwahr,
Sie ist an Tugend rein und klar,
Und wenn ich lebte tausend Jahr,
Kann sie genug nicht schauen.
Drum werd ich treu nach ihren Hulden;
Und nimmt sie mich zum Diener an,
Bin ich ein reichbeglückter Mann;
Was ich an Heil gewinnen kann,
Das will ich wohl verschulden!

Sie ist so reich an edler Tugend,
Geschmückt mit Anmut und mit Jugend,
Und nicht nach anderm Ziele lugend
Will dienen ich der Einen!
Für sie allein schlägt in der Brust
Das Herz mir, ihr noch unbewußt,
Und dies nur trübt mir noch die Lust;
Doch wird ihrs bald erscheinen.
Wie rein und gut ist sie zu sehen;
Und wird mirs noch nicht zu Gewinn,
So denk ich doch in meinem Sinn:
Wenn ich erst etwas dreister bin,
Dann werd ichs ihr gestehen!

Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)

Aus: Der Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 95-96)

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