Minnesang

Nachdichtungen deutscher Minnesänger
 

 

 


Hartmann von Aue
(um 1165 - um 1210)

 

Bange Erwartung

Lieber Gott, wie wird an mich ergeh'n ihr Gruß
Bei unserm Wiederseh'n nach langer Trennungszeit,
Wenn daheim Untreue der befürchten muß,
Der Gruß und Dienst dem Lieb zu rechter Frist doch weiht?
Doch vertrau' ich ihrem klugen Sinn gar sehr,
Und daß sie's wußte, was geführt mich über Meer.
So thut sie Recht, und das ist mir ein Trost im Schmerz,
Daß nie von treuem Freund ablassen kann ein treues Herz.

Keiner lebt auf dieser Welt, dem Freund und Lieb,
Sieht er sie oft, von ungefähr nicht käm' in Sinn;
Nie fürwahr! kann gelten das als Herzenstrieb.
Doch Manches Rückkehr zieht sich gar so lange hin,
Daß ein Weib uns ihre Treu' bewähren kann.
Frau, nun bedenk', Untreue trifft gar hart den Mann.
Begrüßt nach langer Trennung mich ein liebes Wort,
Wie will mit treuem Dienst ich dir's vergelten fort und fort!

Ist es Wahrheit, was so Mancher führt im Mund,
Daß jede Frau am liebsten nur den Schmeichler sieht:
Welche Gunst und Huld wird dann dem Manne kund,
Der Schmeichelei und allen Trug aus Treue flieht?
Reiner Sitt' und rechtes Sinnes sei der Mann,
Ein volles Glück und schönes Heil erblüht ihm dann,
Dieweil des Leichtgemuthen leichtes Glück entschwand,
Das bei der leichtgemuthen Frau er leichtes Kaufes fand.

Nachgedichtet von
Wilhelm Storck (1829-1905)

Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
von Wilhelm Storck
Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 358-359)

_____

 

 

 

 


 

zurück

zurück zur Startseite