Minnesang

Nachdichtungen deutscher Minnesänger
 

 

 


Otto zum Turme
(um 1280)

 

Höchstes Glück

Freut euch der viellieben Zeit,
Werte, wohlgemute Jungen,
Und am lichten Maienschein!
Schaut die Heide weit und breit:
Lichte Blumen sind entsprungen,
Man hört kleine Vögelein
In den Auen überall:
Lerche, Drossel, Fink und Meise,
Singen fröhlich ihre Weise
Mit der freien Nachtigall.

Sie erfreut des Lenzes Lust
Und die süße Sommerwonne,
Die ins Herz ihr Frohsinn streut.
Also jauchzet meine Brust,
Daß sich meines Herzens Sonne,
Die mich warmen Strahls erfreut,
Über aller Frauen Schar
Ohne Wank im Hochgemüte
Und voll reiner Weibesgüte
Aufschwingt, wie ein edler Aar.

Ja, in höchster Lüfte Reich
Läßt ihn Art und Adel streben,
Wohin nie ein Vogel flog.
Und die Reine strebt, ihm gleich,
Ruhmvoll kühn sich zu erheben,
Und ihr Adel nie mich trog:
Da ich sie zuerst ersah
Lag mein Heil in ihr mir offen,
Mehr als je ich konnte hoffen!
Höchstes Glück empfand ich da!


Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)

Aus: Der Herrin ein Grüßen
Deutsche Minnelieder
aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
ausgewählt und nachgedichtet
von Richard Zoozmann
Leipzig 1915 (S. 241-242)

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Des Glückes Tag

Freut euch all der lieben Zeit
Hochgemuth und lustdurchdrungen
Ob des lichten Maien Schein.
Seht der Haide wonn'ges Kleid,
Bunte Blumen sind entsprungen,
Und von Vogelmelodei'n
Klingt die Flur allüberall.
Amsel, Lerch' und Zeisig mischen
Ihren Sang, den frühlingsfrischen,
Mit der freien Nachtigall.

Die erlabt des Lenzes Lust
Und die süße Sommerwonne,
Die so hohe Freude beut;
So erjauchzt auch meine Brust,
Daß des Herzens heit're Sonne,
Die mir Seel' und Sinn' erfreut,
Ueber all die Frauenschaar,
Sonder Wank und ohne Fehle,
Hohen Sinn in reiner Seele,
Sich erschwingt als wie der Aar.

In der Lüfte wild Bereich
Treiben den Geschlecht und Adel
Weit ob all der Vögel Brut;
Und die Reine strebt ihm gleich
Stets nach Ehren ohne Tadel;
Das erkannt' ich frohgemuth.
Denn in ihrem Wesen lag -
Kaum erfaßt' es mein Gemüthe -
Aller Anmuth höchste Blüthe;
Ja, sie ist des Glückes Tag.


Nachgedichtet von
Wilhelm Storck (1829-1905)

Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
von Wilhelm Storck
Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 232-233)

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