Anna Ritter (1865-1921) - Liebesgedichte

Anna Ritter

 


Anna Ritter
(1865-1921)


Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 



 

Der graue Gast

Als du gegangen, ist ein grauer Gast
Mit Grübleraugen und verwirrtem Haar
In meines Stübchens Einsamkeit gekommen -
Der hat Besitz von deinem Stuhl genommen
Und nannte Thorheit, was so selig war!
Die Rose jener wundervollen Tage,
Die blühend noch in ihrem Glase stand,
Nahm er zur Hand,
Und, langsam ihren holden Kelch entblätternd,
Wies er den Tod mir schon im Frühling nach
Und sprach:
"Wer Glück und Rosen bricht, der ist betrogen
Er meint, er trüge Freude sich ins Haus,
Der arme Thor – die Blätter fallen aus!
Und was der Phantasie geschwätzger Mund,
Was ihm die Hoffnung lächelnd vorgelogen,
Es sinkt dahin mit der verwelkten Blüthe!
Ihm aber bohrt der Schmerz sich ins Gemüthe
Mit scharfem Dorn, und jene flüchtgen Stunden
Gestohlner Freude, die er sein genannt,
Sie hinterlassen tiefe, böse Wunden …"
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Wie er gekommen, ist der graue Gast
Mit ernstem Gruße lautlos mir entschwunden.
Doch auf dem Teppich habe ich die Spur
Zerstörter Schönheit weinend aufgefunden:
Die todte Rose, die du mir zum Pfand
Ewiger Liebe jüngst gegeben hast.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 104-105)
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Todtes Glück

Als unsre Liebe noch blühend war,
Haben wir unter den Zweigen gesessen,
Hand in Hand, und die Sonne lag
Wie eine Krone über dem Tag.

Welk ist die Liebe – der Wintersturm
Pfeift mir ein trotziges Lied vom Vergessen.
Meine weinende Seele spricht:
Leiden will ich – vergessen nicht!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 106)
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Brautring

Als über den Flieder das Mondlicht rann,
Da steckt' er mir heimlich ein Ringlein an,
Und küßte den Ring und die Hand dazu
Und lauschte selig dem ersten "Du".

Das Mondenlicht sah in den Ring hinein,
Das gab einen fröhlichen, hellen Schein,
Der Fliederbaum neigte die Blüthen stumm,
Die Gräser raunten: "Das Glück geht um!"

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 6)
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Auf der Bergeshöh

Auf der Bergeshöh,
Wo die Stürme gehn -
Mein Lieb, wie hieltest du mich!
Ein Lichtlein stand
Weit drüben im Wald,
Und der Mantel wehte um dich!

Wie Frühling zogs
Durch die Lüfte hin,
Wir lauschten still in die Nacht:
Die Sehnsucht war,
Ein jubelndes Kind,
Aus dem Winterschlafe erwacht.

Auf der Bergeshöh
Liegt der Schnee so tief,
Das blanke Lichtlein erblich …
Der Wind schleicht müd'
Durch das träumende Land -
Mein Lieb, wo findet er dich?

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 48-49)
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Aufschrei

Blühend sein, und doch nicht leben sollen,
Mit der Sehnsucht noch, der heißen, tollen,
Vor der fest verschlossnen Thüre stehn -

Durstig sein, und doch nicht trinken, trinken,
Wenn die goldnen Freudenbecher winken,
Jeder Wonne scheu vorübergehn -

Lechzen, ach, nach seligem Genießen,
Und die trunknen Augen doch zu schließen,
Weil des Schicksals harter Spruch es will -

Darben, darben, wenn sich Andre küssen,
Elend sein, und dennoch lachen müssen,
Immer lachen …
still, mein Herz, o still!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 182)
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Erstorben

Da ich an deinem Halse hing,
An dein Gesicht das meine drängte,
Dein Athem sich mit meinem mengte
Und schmerzhaft mich dein Arm umfing,

Da Mund auf Mund, und Brust an Brust
Wir mit dem eignen Blut gerungen
Und endlich uns den Sieg errungen,
War höchste Qual auch höchste Lust.

Doch nun, da jener Stunde Noth,
Und Lust verrauscht, erstickt das Sehnen,
Da endlos sich die Tage dehnen,
Nun ist mir oft, als wär ich todt.

Nur wenn dein Schatten mich umschwebt,
Kann ich mich mühsam drauf besinnen,
Daß statt des starren Steins da drinnen
Einst sonnenfroh ein Herz gelebt.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 174-175)
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Im Lampenschein

Das ist ein lieb Beisammensein,
Wenn über uns die Wanduhr tickt
Und dir der Arbeitslampe Schein
So voll ins frohe Antlitz blickt!

Ich rühr' dich manchmal heimlich an,
Nur, daß ich weiß: ich habe dich -
Dann lächelst du, geliebter Mann,
Und nickst mir zu und küssest mich!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 14)
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Das sind die schwülen Sommernächte …

Das sind die schwülen Sommernächte,
Die fieberheiß die Stirn umweh'n,
Da wie gefesselte Giganten
Die Bäume rings im Kreise steh'n.

Der Nachtwind lockt aus jeder Blüthe
Die Seele buhlerisch hervor
Und trägt auf seinen trunk'nen Armen
Den willenlosen Duft empor.

Die Sterne zucken dort und flimmern,
Als trübten Thränen ihren Schein,
Das Bächlein schluchzt und will nicht wandern,
Es hält sich fest an jeden Stein.

Und durch die athemlose Stille
Ein wunderbares Klingen zieht,
Ein Sang, aus Leid und Lust gewoben,
Ein zitternd süßes Liebeslied.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 91-92)
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Dein Sessel …

Dein Sessel am Kamin steht lange leer …
Und war so süß, das Beieinandersein,
Wenn über deine Stirn der Flammenschein
Hinleuchtete und wie ein roter Bach
Um deine regungslosen Hände rann. -
So schweigsam war, so heimlich das Gemach,
Als wären wir auf weiter Welt allein,
Nur unsre Sehnsucht flüsterte hinein
In jene Stille, flüsterte und sann …
Du sahst mich jählings gar so seltsam an
Und sprangest auf, und wie zu Tod erschrocken
Bargst du die wilden, widerspänst'gen Locken
Mir tief im Schooß. -
Ich liebte sie so sehr,
Die kühle Fluth, und meine Hände glitten
Darüber hin und wiegten deine Bitten,
Dein ungestümes Wünschen spielend ein …
Es war so süß, das Beieinandersein!
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So schweigsam ist's, so heimlich rings umher …
Die alte Sehnsucht wacht mir auf im Blut,
Ich werfe Scheite in die träge Gluth,
Da knistert sie und schaut sich suchend um -
In deinen Locken spielt sie nimmermehr,
Dein Sessel am Kamin steht lange leer …

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 37-38)
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Fremd geworden

Deinen Hügel umschreiten die Jahre …
Jedes legt eine Handvoll Staub,
Blühende Rosen und welkes Laub
Mit schweigendem Gruß darauf nieder.
Die Sehnsucht singt ihre Lieder
Allabendlich im Rosenbaum,
Die Stürme gehn hin und wieder -
Du aber schläfst und lächelst im Traum. -
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Du wirst mir so fremd in der langen Zeit!
Wohl seh' ich dich noch, doch mein Weg führt weit,
Ach, weit an dir vorüber.
In ewiger Jugend dein Auge scheint,
Meins aber hat so viel Thränen geweint -
Es sank mir ein Schleier darüber!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 39)
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Der Frühling blüht

Der Frühling blüht! Herz – war es je so schön?
Lag je ein solcher Schimmer auf den Höhn
Und in den Thälern solch ein lieber Glanz?
Ein jeder Baum trägt seinen Blüthenkranz -
Auch du, mein Haupt, willst unter grünen Zweigen
Dich ahnungsvoll dem Glück entgegen neigen!

Die beiden Hände drück' ich auf die Brust -
Ist's Schmerz, der drinnen lodert, ist es Lust?
Ach, wunderlich verwoben und verwebt
Ist Beides mir, und meine Sehnsucht
Darüber hin, aus dieses Frühlings Zagen
In der Erfüllung Frieden mich zu tragen.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 8)
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Sommerfäden

Der Sommer tollt ums Haus!
Er hascht sich mit dem Winde,
Der zupft dem schönen Kinde
Manch goldnes Härchen aus.

In hocherhobner Hand
Läßt er die Beute wehen -
Ich kann sie blitzen sehen,
Bald hier, bald dort im Land.

Ein Märlein fällt mir ein ..
Ach, daß die goldnen Schlingen
Mir meinen Liebsten fingen -
Wie wollt' ich selig sein!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 92)
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Im Felde

Die Luft geht schwer.
Zittert ein seltsames Licht
Ueber die Felder her …
Grad, als ob's ein Gewitter wär' …
Küsse mich nicht. -
Wiegt sich die Weide dort
Her und hin,
Wackelt grad
Wie die Nachbarin.
Laß es die Alte
Um Gott nicht sehn,
Daß wir hier unten
Beisamen stehn!
Hat gar ein böses Maul,
Bringt's noch heute
Unter die Leute,
Zeigen sie mit den Fingern auf mich. -
Sahst du, wie's eben vorüber schlich?
Mit heißem Athem
Und huschenden Schritten?
Hat eine braune Kutte an,
Einen Strick um die Mitten
Und zwei glühende Augen im Gesicht
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Küsse mich nicht! -
Ich wollt', ich wär erst zu Haus!
Ist keine Seele im Feld -
Alles so still und so dunkel und heiß -
Faß mich nicht an
Und sprich nicht so leis,
Komm lieber und laß uns geh'n.
Ist mir doch bang, dich zu seh'n,
Dich und dein bittend Gesicht -
Küsse mich nicht … ach …
Küsse mich nicht!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 149-150)
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Das hat die Sommernacht gethan

Die Nacht ist keines Menschen Freund -
Was flüsterst du von Treue?
Der Mond verblaßt, der Morgen graut ...
Am Bette sitzt die Reue.

Die Reue ist ein häßlich Weib
Und möcht' mich wohl verderben -
Reiß mir das Herz nicht aus dem Leib,
Ich will ja noch nicht sterben.

Mein Blut ist heiß, dein Mund so süß ...
O Gott, wie kannst du küssen!
Das hat die Sommernacht gethan,
Daß wir versinken müssen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 170)
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Eine Stimme

Die Schatten reckten schon ihr dunkles Haupt
Aus den Gebüschen,
Unergründlich tief
That sich ein Weg vor unsern Schritten auf,
Wir hörten eines Pferdes schnellen Lauf
Im weichen Sand, und in der Ferne rief
Ein helles Kinderstimmchen nach der Mutter.

Da faßtest du mit scheuem, heißem Druck
Nach meinen Händen -
Willig gab ich nach.
Die Sehnsucht hatte Beide uns umstrickt,
Kurz ging dein Athem, wie in Gluth erstickt
Klang jedes Wort, und deine Lippe sprach
Von Liebe mir in zärtlich dunklen Lauten.

Das war in einer lauen Sommernacht -
Nun gehen Stürme!
Schaurig tönt ihr Sang:
Es ist das Glück ein unbeständ'ger Gast,
Ein Wandervogel sonder Ruh und Rast!
Du durftest's bergen ein paar Stunden lang -
Was weinst du nun? …
Geh deinen Weg und schweige!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 212-213)
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Stille Zeit

Die Tage rinnen leise hin …
Ein jeder bringt ein liebes Glück
Und eine liebe Sorge mit,
Und schau ich so den Weg zurück,
Den ich mit dir gegangen bin,
Da will es mir fast bange werden
Um so viel Seligkeit auf Erden. –

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 20)
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Die Windsbraut

Die Windsbraut tanzt.
Von ihren kleinen Füßen
Hebt sie den Saum des wehenden Gewands
Und wiegt sich kichernd in den schmalen Hüften.
Der Rose ruft sie schmeichelnd: "Schwester .. komm."
Und reißt die Zögernde vom Dornenstrauch,
Um sich die weiße Brust damit zu schmücken.
Es klingt das Gras, wenn es ihr Fuß berührt,
Das welke Laub greift mit den müden Händen
Nach ihrer Schleppe, läßt sich weiter ziehn,
Und sinkt dann taumelnd wieder in den Staub ..
Sie aber singt:
Ich schlief,
Ach, so tief!
Blumen bedeckten mich,
Zweige versteckten mich,
Da kam er und rief:
"Wach auf, es ist Zeit,
Schmücke dein Kleid -
Hochzeit ist heut!"

Über die Höhen
Bin ich geflogen,
Bin durch die träumenden
Thäler gezogen,
Ob ich ihn fände,
Der um mich freit.
Eia .. du Starker -
Weilst du so weit?

Sieh meine Wangen,
Bin ich nicht schön?
Sieh, wie die Locken
Mein Antlitz umwehn!
Ein spinnweben Röcklein,
Zwei purpurne Schuh,
Ein Krönchen von Brombeer
Und Gaisblatt dazu -
So tanze ich singend
Bergab und bergauf,
Kein Stein läßt mich gleiten,
Kein Arm hält mich auf.
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Du Wilder … du Großer -
Ich hör deinen Schritt!
Schon reißt dein Verlangen
Mich Zitternde mit,
An schwindelnden Gründen
Und Klüften vorbei -
Wer weiß meine Sehnsucht,
Wer hört meinen Schrei ..?

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 228-230)
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Sturmes Weckruf

Du, dem ich mein jauchzend Lied
Heut gesungen habe -
Brause einst, du wilder Sturm,
Über meinem Grabe!

Mächtiger, als Menschenwort
Und der Klang der Glocken,
Wird dein stolzer Königsruf
Meine Seele locken.

Trug ich nach der trägen Ruh
Nimmer doch Verlangen -
Aus der steinbedeckten Gruft,
Drin sie mich gefangen,

Ringt mein Geist sich jubelnd los,
Um, von dir getragen,
Seiner Sehnsucht letzten Flug
Nach dem Licht zu wagen!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 243)
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Das Wort vom Scheiden

Du gabst mir einst ein kleines Buch
Voll lieber, schöner Lieder
Und schriebest auf das erste Blatt
Ein traurig Verslein nieder.

Ich schüttelte den Kopf dazu,
Mein Herze wollts nicht leiden,
Klang gar so hart, klang gar so schwer,
Das eine Wort vom Scheiden.

Nun hat das Verslein Recht gehabt,
Ist Alles so gekommen,
Wie Abendroth und Feuerschein
Ist unser Glück verglommen.

Du wanderst dort, ich wandre hier,
So helfe Gott uns Beiden,
Daß es uns nicht den Sinn verstört,
Das eine Wort vom Scheiden.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 197-198)
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Schweigen

Du gehst vorüber …
Nebel steigen auf,
Die mir dein Bild, das zärtliche, vertraute,
In eine ungewisse Ferne rücken,
Wie bald, wie bald,
Ist Alles todt und leer
Und keine Klage, kein Verlangen mehr
Wird dann die Kluft, die tiefe, überbrücken.
Ach, und zu schweigen!
Aus dieser Lippen blühendem Thor
Trete kein Wörtchen lächelnder Hoffnung,
Kein Wehlaut schluchzender Sehnsucht hervor,
Kein leuchtender Blick soll dich grüßen!
Nur meiner Thränen blinkenden Thau
Streue ich blasse, schweigende Frau
In bitterer Noth dir zu Füßen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 196)
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Wehe Liebe

Du sagst, ich sei jung -
Das nimmt mir schon die Ruh,
Du sagst, ich sei schön -
Ich weine dazu!
Was soll mir die Jugend,
Ich bin ja allein,
Was taugt mir die Schönheit -
Sie ist ja nicht dein!

Ich habe dich lieb -
Du fühlst nicht, wie sehr,
Ich trage ein Leid -
Du weißt nicht, wie schwer!
Ich hatte ein Hoffen,
Das ist nun todt …
Ach, Gott,
Erbarm' dich meiner Noth!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 79)
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Stummer Abschied

Du schweigst und schweigst. – Das ist ein furchtbar Schweigen!
Ach, rede lieber, schlag mich, jag mich fort!
Bei aller Gluth, mit der du einst mich küßtest,
Fleh' ich dich an: "Gönn mir ein Abschiedswort."

Bin ich so arm, so elend, so verachtet,
Daß nicht ein Wörtchen für mich übrig blieb?
Du birgst die Hand, ich darf sie nie mehr fassen,
Und war doch dein, und hattest mich so lieb.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 171)
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Du und ich

Du und ich … und über uns Beiden die Nacht!
Neige die Stirn, damit ich dich küssend umfange.
Neige das Ohr – ich raune dir Süßes hinein,
Wonne und Weh, so wie's mir emporblüht im Herzen. -
Du und ich … Es ward uns nichts Andres bescheert
Als dieses Glück, das wir der Sonne verbergen.
Sieh, schon senkt sich abwärts der einsame Pfad -
Selige Lust steht lächelnd im Thale des Todes.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 195)
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Frühlingsmärchen

1.
Ein Brünnlein im Felde, sechs Linden im Kreis,
Und die Wälder so still, und die Sonne so heiß,
Und wir beide am Brunnenstein
So mutterseelenallein.
Du botest mir lächelnd den Zauberkelch,
Und ich trank ihr leer bis zur Neige,
Meine Augen sagten dir: "Schweige!
Es ist ein liebliches Wunder in mir,
Wenn die Stunde kommt, verrath' ich es dir."
Da rauschte es leis durch die Zweige:
"Schweige."


2.
Nun sitzest du zu meinen Füßen,
Und um uns beide streicht der Wind -
Das ist wie ein geheimes Grüßen
Von wundervollen, blauen Tagen,
Die über uns gekommen sind.

Ich sag' dir all die wilden Lieder,
Um die ich tausend Schmerzen litt,
Du siehst verloren vor dich nieder,
Und meine Noth und meine Wonne,
Du fühlst es alles, alles mit.

Und tausend feine Fäden spinnen
Uns beiden Träumer heimlich ein,
Es ist ein überquellend Geben
Und Nehmen zwischen unsern Seelen,
Und herrlich mag die Ernte sein.


3.
Und immer schöner ward der Tag,
Und immer höher stieg die Gluth,
Und immer banger hat dein Blick
Auf meinem stillen Mund geruht.

Ich aber schüttelte den Staub
Vom Kleid und zog dich eilends fort,
Doch was in uns verschlossen war,
Wir wußten's beide ohne Wort.


4.
Zwischen den Schlehdornbüschen
Führte der Weg hinan,
Primeln und Anemonen
Sahen uns lächelnd an,
Primeln und Anemonen
Wußten viel mehr als wir -
Roth bis über die Ohren,
Brach ich ein Sträußlein dir.


5.
Vom Waldesrand ein letztes Winken
Hinab ins sonnbeglänzte Thal -
Wann werden wir zum andernmal
Aus jenem Zauberbronnen trinken?

Der Klang von unsern warmen Worten
Er wird verwehn, so bald, so bald -
Ein Schauer faßt mich vor dem Wald
Und seinen dunklen, stillen Pforten.

Und zögernd nur mag ich mich schicken
Den heimlich düstern Weg zu gehn -
Wer allzulang ins Licht gesehn
Dem flimmert's seltsam vor den Blicken.


6.
Es lief ein scheues Reh im Walde,
Von ferne kam des Kuckucks Schrei,
Da strich's mit großen, stillen Augen
Auf schmalem Pfad an uns vorbei.

Wir aber schritten, wie zwei Kinder,
In selgem Staunen hinterdrein,
Durch junges Laub und Blüthenzweige
Bis tief ins Märchenland hinein.

Und wie wir uns zurückgefunden,
Wir wissen's beide heut' nicht mehr -
Es flog auf jenen schwülen Wegen
Ein Engel leuchtend vor uns her.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 72-77)
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Der tolle Spielmann

Ein Klirren von zerbrochnen Fensterscheiben ..
Die Hausthür fällt mit dumpfem Schlag ins Schloß,
Zerrißne, angstgequälte Wolken treiben
Hoch über mir in unheimlichem Troß.
Und dort .. auf bäumendem Gespensterpferde -
Was blickt so hohl, was lacht so grauenhaft,
Und reckt den Arm mit drohender Geberde
Und singt ein Lied voll irrer Leidenschaft?
"Hoi … ahoi -
Ich suche die Treu,
Auf lachenden Lippen,
Auf blühenden Wangen,
In zärtlichen Armen -
Ich kann sie nicht fangen!"

Es ist ein scheues Hasten auf den Wegen,
Wem eine Heimath winkt, der schlüpft hinein,
Und die sich nimmer im Gebete regen,
Die Lippen murmeln: Herr, erbarm dich mein! ..
Ein Mütterlein hebt prüfend das Gesicht
Zum fahlen Himmel, schlägt ein Kreuz und spricht:
"Behüt uns Gott in Gnaden vor der Nacht -
Johann, der tolle Spielmann, ist erwacht!"
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Ich starre reglos in die Wolkenmassen.
Der dort des Schweigens harte Fessel brach
Und seine Qual hinausschreit in die Lüfte -
Das Echo hallt ihm heimlich grollend nach,
Die dumpfe Sehnsucht Tausender, die waren,
Hängt taumelnd sich an jene Wolkenscharen.
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"Hoi … ahoi -
Verflucht sei die Treu!
Es peitscht mich empor
Aus schmeichelnden Kissen,
Es hat mir die Ruh
Aus der Seele gerissen!

Rosen blühten am Gartenzaun …
Konnten uns Beide nicht satt dran schaun,
Drücken uns heimlich die Hände roth,
Schwuren uns Treue, bis in den Tod. -
Bis in den Tod ..

Haha haha -
Stehst ja so blaß und so seltsam da?
Trägst doch ein bräutlich Gewand,
Einen Ring an der Hand!
Was sagst du – er wäre nicht mein ..
Ein Andrer sollte dich frein?
Reiße den Kranz von der Stirne -
Dirne! …"
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Hörst du den tollen Spielmann in den Lüften?
Das ist der Sturm – mein Herz, was zitterst du?
Bangts dir um deine schwer erkämpfte Ruh,
Regt sich’s geheimnisvoll in deinen Grüften,
Stehn deine Todten auf zu dieser Frist?
Besinnst du dich in dieser heißen Stunde,
Daß du noch jung, daß du schon einsam bist …?

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 233-235)
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Lichtbild

Ein lichtes Wölkchen segelt noch im Blau,
Ein friedevoller, leuchtender Gedanke,
Der in dem Kampf des Tages Sieger blieb.

So wandelst du, da mir der Abend sinkt,
In deiner Jugend ew'gem Glanz vorüber
Und schaust mich lächelnd an, mein todtes Lieb.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 43)
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Von der Königin "Herzeleid"

Einen Kranz von weißen Narzissen
Und ein weißes, schleppendes Kleid
Trägt die Königin Herzeleid. -
Sie kommt aus schweigenden Gärten her,
Da schimmern die Rosen wie Blut,
Da fließt im Grase der Thränenbach,
Der weiß eine alte Mär:
Von der Hoffnung, die mitten im Spiel
In böse Träume verfiel,
Und Keiner bekommt sie wach …
Von Blumen, die immer im Schatten gestanden,
Von Seelen, die nie eine Heimath fanden,
Und von einem hölzernen Schrein,
Darinnen die selige Liebe ruht. -
Der Bach, der wandert tagaus, tagein,
Trägt tausend Wellen ins Meer hinein
Und wird doch niemals leer.
Und die Königin lächelt so schwer …
O du holdselige Königin,
Meine arme Seele geb' ich dir hin -
Meine Seele friert so sehr!
Drei weiße Lilien stecke mir an,
Damit ich der Sonne vergessen kann,
Drei Lilien, wie über den Gräbern stehn -
Dann friere ich nimmermehr!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 44-45)
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Ein Schrei

Einst, als du mich küßtest im lachenden Mai,
Da blühten die Linden, die Nachtigall sang,
Vom Felde her kam ein verlorener Klang
Wie Glockengeläut – o wir seligen Zwei.

Der Sommer zog blühend und glühend vorbei.
Nun ist es so schaurig, so öde im Wald,
Der Himmel so blaß und die Nächte so kalt,
Und durch die Versunkenheit gellt's wie ein Schrei.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 45)
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Wenn die Noth am größten …

Empörte Wogen, vom Sturm zerwühlt,
Ein zehrend Feuer, das Keiner kühlt.
So strömt's mir heiß durch die Adern hin -
Das macht wohl, daß ich so jung noch bin.

Und doch verlassen, und doch allein. -
Herrgott, wie könnt es denn anders sein!
Allüberall lockt die süße Lust,
Und trag' doch auch keinen Stein in der Brust.

Wie oft, des Abends im Kämmerlein,
Ist's mir, als hört ich mein Herze schrein,
Als riß die Sehnsucht in meinem Schooß
Von allen Ketten sich keuchend los.

Behüt mich, Gott, vor der dunklen Nacht,
Wenn mir der Dämon im Blut erwacht! …
"Die Kinder schlafen!" … Ein Engel sprichts -
"Ihr ew'gen Mächte, nun fürcht' ich nichts!"

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 183-184)
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Das tiefe Kämmerlein

Es grub der Tod ein Kämmerlein,
Grub's in die Erde tief,
Gar weit von Schmerz und Sonnenschein -
Mein schöner Liebster schlich hinein
Und schlief.

Ich kniee draußen ganz allein
Und klopfe an die Thür:
"Wenn du mich liebst, erbarm' dich mein
Und tritt aus deinem Kämmerlein
Herfür!"

Nichts regt sich! Nur des Käuzchens Schrein
Irrt durch die Luft so hohl!
Ein Schauer rinnt durch mein Gebein -
Wie schwarz die Nacht, wie kalt der Stein ..
"Leb wohl …"

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 23)
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Gefaltete Hände

Es hat mich heut nicht schlafen lassen -
Das alte Weh kam über mich,
Daß ich mit heimathlosen Schritten
Mich an des Kindes Bettchen schlich.
Da sank ich hin in dunkler Nacht
Und habe in die weißen Kissen
In wildem Schmerz hinein gebissen …
Der du so elend mich gemacht,
So viele Fäden mir zerrissen,
Du wirst, o Herr, die Gründe wissen!
Du lenkst die weite, große Welt
Nach ewig gültigen Gesetzen,
Du wirst dies arme Frauenherz
Nicht planlos, ziellos durch den Schmerz,
Durch Elend und Verzweiflung hetzen!
Wenn ich in Liebe um den Einen
Den Himmel, Herr, und dich vergaß,
Zu viel des Glückes mich vermaaß
Und nicht genug zu dir gefleht -
Ist nicht auch Liebe ein Gebet,
Vielleicht das heiligste der Erde?
Suchst du im Staube nur die Deinen,
Muß erst am Grabe ihres Glücks
Die arme Menschenseele weinen,
Auf daß sie deiner würdig werde
Und in Verklärung aufersteht?

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 27-28)
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Es ist so still …

Es ist so still, seit du gestorben bist!
So furchtbar still …
Sonst theilte ich nach deinem Gehn und Kommen
Den Tag mir ein, und jede Stunde hatte
Ihr schönes Amt und ihre liebe Pflicht -
Nun kann ich thun und lassen, was ich will,
Giebt es doch nichts, das Fröhlichkeit bedeute. -
Die mich besuchen, sind mir fremde Leute,
Sie kannten dich und meinen Reichtum nicht,
Sie wissen nicht, was ich mit dir verlor.
Nur aus der Kinder lieblichem Gesicht
Schaut heimlich wohl dein liebes Bild zurück,
Auf meiner Schwelle steht das alte Glück
Und lacht mich an – bis sich die Schatten dehnen
Und die erträumte Seligkeit versinkt. -
Wer weiß um solche Bitterkeit der Thränen,
Um solche Sehnsucht, die ins Leere winkt!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 24)
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Es schlief mein Mund

Es schlief mein Mund, vom Schmerz bewacht,
Du kamst und küßtest ihn zur Nacht,
Da wacht' er auf – nun wehe mir:
Wie lechzt und dürstet er nach dir!

Ergebenheit und stiller Sinn
Und Schlaf und Ruh – wo sind sie hin?
Ein Feuer glüht mir neu im Blut …
So weiß ich wohl, wie Liebe thut!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 25)
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Unbegehrt

Es stand eine Rose im tief tiefen Grund,
Von Liebe und Sehnsucht durchglühet,
Kam Keiner, der ihre Schönheit begehrt,
Ist einsam und traurig verblühet.

Ich weiß eine Seele, die glühte so heiß,
Die Liebe, das Glück zu umfangen,
Kam Keiner, der ihre Blüthe begehrt,
Ist einsam zu Grunde gegangen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 126)
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Huldigung

Es strich ein Wind durchs grüne Thal,
Der trug mir süße Botschaft zu,
Es legte sich ein Sonnenstrahl
In meinem Herzen fromm zur Ruh'.

Die Drossel sang im Kirschenbaum -
Doch, was sie sang, verrath' ich nicht,
An meinem Lager saß ein Traum,
Der küßte heimlich mein Gesicht.

Nun blüht mein Mund im Sonnenschein,
Und meine Augen blicken klar,
Nun liegt von Gold und Edelstein
Ein heimlich Krönchen mir im Haar.

Und wo ich gehe, froh und stumm,
Da breiten sich die Blumen hin,
Da winkts und wisperts rings herum:
"Gegrüßet seist du, Königin!"

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 7)
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Versäumte Zeit

Es war wohl just um diese Zeit!
Die Lärche stand im grünen Kleid
Und an den Birken brach die Fülle
Der Blättchen aus der braunen Hülle.

Ein erstes Lied, ein voller Klang
Von Sehnsucht zog den Wald entlang,
Der Athem weißer Anemonen
Umwallte still die Buchenkronen.

Allüberall ein gold'ner Duft,
Ein selig Werden in der Luft,
Im Grund ein heimlich Blüh'n und Sprießen,
Ein sehnend Wachsen und Erschließen.

In uns auch war es Frühlingszeit,
Und uns're Herzen wurden weit,
In Jubel halb, und halb in Bangen,
Die Lenzensbotschaft zu empfangen.

Und doch – wir fanden nicht das Wort!
Befangen hielt uns Zeit und Ort,
Die Stunde ging, der Traum zu Ende,
Du küßtest scheidend meine Hände.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 38-39)
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Am See

Es wird immer stiller. – Der Tag schläft ein,
Die Boote gleiten über den See
Wie schwarze Schwäne. Die Mondenfee
Schreitet mit leisem, schleppendem Gang
An den Büschen des Parks entlang
Und streut Rosen über den Weg.
Heimlich murmeln die Wellen am Steg
Und pochen ans Pfahlwerk, der Lichterschein
Senkt goldene Säulen, die blinken .. und blitzen …
Laß uns nicht länger am Ufer sitzen,
Mir wird so bang, wie das Wasser lockt!
Die Schatten recken sich über den Zaun
Zu mir herüber, mein Herzschlag stockt,
Und meine Seele erfaßt ein Grau'n,
Daß ich in meiner hilflosen Scheu
Mich an dich drücke -
"Bist du mir treu?
Halte mich fest, recht fest bei der Hand,
Denn meine Seele schleicht abgewandt,
Auf heimlichen Wegen zur Tiefe hin …
Sage doch, daß ich dein Liebchen bin!
Küsse mich, daß ich den Lebenshauch
Spüre und deine Liebe auch. -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Sieh nur, Geliebter, welch seltsam Ding
Sich dort drüben im Dornstrauch fing -
Ein goldner Gürtel …
den trug ich einst,
Und rothe Rosen darin. – Du weinst …?
Lache doch, Liebster, das Leben ist schön,
Wir wollen noch oft beisammen gehn
Im dunklen Garten! Wenn hinterher
Die Nacht nur nicht gar so gespenstisch wär' …
Du weißt nicht, wie's mir am Herzen nagt,
Wenn ich dir endlich Gut Nacht gesagt
Und in mein einsames Stübchen schlich!
Mit tausend Armen umklammerts mich,
Mit tausend Stimmen dringts auf mich ein -
Es würgt mir die Kehle … ich kann nicht schrein,
Ich liege wohl bis zum Morgenschein.
Dann kommt der Tag
Und mit ihm die Ruh,
Der Mittag .. der Abend,
Und dann – kommst du!
Schilt nicht, daß ich dir Alles gesagt,
Was mich thörichtes Ding wohl plagt -
Ist ja doch Alles und Alles vergessen,
Wenn ich ein Weilchen bei dir gesessen!
Halt' ich dein liebes Haupt im Schooß,
Denk' ich, mir fiel ein glückselig Loos,
Wünsche und fürchte und träume nichts mehr,
Als deine Küsse …
Wenn hinterher
Die Nacht nur nicht gar so gespenstisch wär' ..

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 82-84)
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Wach' auf mein Lieb

Fernab der Zeit liegst du in deinem Grabe
Und träumst und träumst,
Mich aber jammert es der schönen Tage,
Die du versäumst.

Mit rothen Rosen kränz ich deinen Hügel -
Spürst du den Duft?
Dringt's nicht wie Sonnenglanz und Liebesodem
In deine Gruft?

Wach' auf mein Lieb! Willst du den Lenz verschlafen
Und seine Pracht?
Der kleine Vogel, den du liebst vor allen,
Singt jede Nacht.

Weiß ist mein Arm und meine Lippen brennen,
Der Ampel Licht
Blitzt wie ein Sternlein durch das Kammerfenster -
Du siehst es nicht!

Die Sehnsucht kreist mir ruhelos im Blute,
Ach, dass du kämst
Und all mein Leid und meine große Liebe
An's Herze nähmst!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 52-53)
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Autodafé

Flammen ... wacht auf, der Abend ist kalt -
Und meine Hände sind kälter als er!
Habt ihr denn gar kein Leben mehr,
Seid ihr so müde, seid ihr so alt -
Soll ich allein hier sitzen und wachen?
Wartet, ich werf' euch Papier in den Rachen -
Stehn lauter schöne, lustige Sachen
Auf den vergilbten Blättern geschrieben -
Sind mir von allem nur Worte geblieben,
Armselige Worte!
Was soll mir der Bettel?
Da habt ihr sie alle, Briefe und Zettel ...
Wie lodert ihr gierig! Wie leckt ihr und schleckt -
Wunderts mich doch, wie die Tinte euch schmeckt!
Seid ihr noch hungrig? Ich bringe wohl mehr,
Das ganze Päckchen hol' ich euch her!
Sind auch vertrocknete Blüthen dazwischen ...
Einst hingen sie leuchtend und zart an den Büschen
Da kam die Sehnsucht und brach sie vom Baum.
Kurz war ihr Leben - ein glühender Traum. -
Seid ihr schon fertig ...?
Ein einziges Blatt
Halte ich noch in der zitternden Hand. -
Zerknittert ist es, verwischt und zerrissen ...
Vor Jahren legt' ich es unter mein Kissen,
Und holt' ichs hervor, so küßt' ich das Blatt,
Wohl hundert Mal ... und küßt' mich nicht satt!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Was züngelt ihr über das Gitter her -?
Verfluchte Flammen - ich hab' nichts mehr!
Nur dieses eine -
Da packt es die Gluth -
Verbrannt ... Zerfallen! -
Wie weh das thut!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 35-36)
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Vor dem Winter

Geliebte Spuren such' ich
Im falben Laub -
Ach, Alles Staub,
Die kahlen Zweige thränenschwer,
Und drüber der Himmel so grau, so grau …
"Was rufst du die Todten, weinende Frau?"
Nur ein Traum verglühter Tage
Schimmert durch die blasse Luft,
Eine einst geliebte Stimme
Hebt sich flüsternd aus der Gruft,
Ein Erinnern sel'ger Stunden
Schaut mich an mit stillem Blick,
Und in sonnenlosen Gründen
Weint ein früh gestorb'nes Glück.
Der Frost wird kommen,
Der Nordsturm weh'n
Und auch das Letzte
Zu Grabe geh'n.
O über die bange, bange Zeit,
Wenn dann die Seele der Einsamkeit,
Erinn'rung und Sehnsucht, die Flügel hebt
Und müden Fluges von dannen schwebt.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 59-60)
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Freudlose Liebe

Ging aus, die Lieb zu suchen
Und fand die Leidenschaft,
Die hat mit heißem Athem
Mein Blühen weggerafft.

Nun kommt die Lieb gegangen
Und schaut mich traurig an,
Weil ich nicht eine Blume
Der Holden bieten kann.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 177)
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Vergebliches Warten

Hast den Weg doch sonst gefunden,
War das Dunkel noch so dicht,
Ruhlos schweifen meine Blicke:
Warum, warum kommst du nicht?

Glühend nickt die Ros' am Zaune,
In den Ulmen raunt es sacht,
Und verirrte Mondenstrahlen
Wandern suchend durch die Nacht.

Komm und laß uns Küsse tauschen,
Keiner sieht uns, Keiner hört,
Nur des Käuzchens scheue Seele
Hat die Sehnsucht aufgestört.

Mit gespreizten Flügeln schwebt es
Lautlos durch den schwülen Wald,
In den Garten lausch' ich nieder,
Ob im Kies dein' Schritt erschallt,

Durch die tiefen Schatten wink' ich
Mit der blaß geword'nen Hand,
Müde, duftbetäubte Blüthen
Streu ich über mein Gewand,

Meine beiden Arme breit ich
Nach dir aus in stummer Qual.
Doch kein Engel der Erlösung
Schreitet tröstend durch das Thal.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 29-30)
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Hast nicht ein einzig Mal zurückgeschaut

Hast nicht ein einzig Mal zurückgeschaut,
Den langen Weg!
Froh schrittest du dahin und sangest laut
Im Waldgeheg.

Ich aber nestelte in bittrem Leid
Den kleinen Strauß
Verwelkter Veilchen von dem weißen Kleid -
Es war ja aus!

Und rings auf Erden war es Frühling doch,
Auf allen Höhn,
In allen Thälern lag die Sonne noch,
So wunderschön!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 172)
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Pythia

Hat einmal ein Mädel die Muhme gefragt,
Was Liebe denn eigentlich sei?
Da machte die Alte ein pfiffig Gesicht
Und lachte so eigen dabei.

"Die Liebe? Das ist ein verschlossener Schrein,
Sieht außen gar unschuldig aus,
Doch hebst du im Fürwitz den Deckel, mein Kind,
Springt hurtig ein Teufelchen 'raus."

Das Mägdlein ist gangen, es ließ ihm der Spruch
Der Alten nicht Frieden noch Ruh,
Stand bald mit dem lustigen Teufelein
Im Kästchen auf "Du und Du."

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 129)
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Sturmnacht

Heda – Geselle,
Bist du erwacht?
Singst du die alten,
Tollen Gesänge
Wieder hinein in die Sommernacht?
Schweige, Sturmwind,
Ach, schweige still -
Laß doch schlafen,
Was schlafen will.
Frühlingsträume
Und Sommerlust
Und die Sehnsucht tief in der Brust!

Wie die armen, alten Linden
Unter deiner Faust sich winden,
Wie die Blumen jäh erschrecken
Und die scheuen Kinderaugen
Unter grünem Gras verstecken!
Alles störst du aus dem Schlummer!
Gier und Kummer,
Noth und Streit
Trägst du in die Heiligkeit
Dieser Nacht mit frevlem Sinn,
Streust die Blätter der Erinnrung
Dreist vor meine Füße hin,
Schmückst mit der verblichnen Krone
Todten Glückes, wie zum Hohne,
Königlich die Bettlerin!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 236-237)
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Sturmeswerben

Hei, wie er tobt!
Wie er die nackten,
Sehnigen Schultern
Wild an die zitternden Scheiben stemmt.
Wie er ruft,
Wie er lockt!
Auf dem Tische das Flämmchen
Huscht hin und her,
Als ob es gescheucht,
Verängstigt wär,
Und die Rose im Glase
Strömt schweren Duft
In die dumpfe,
Brütende Kammerluft.
Was willst du von mir,
Du trotz'ger Geselle?
Was schaust du mit irren,
Glühenden Augen
In meine einsame
Kammer hinein?
Dein soll ich sein,
mit dir wandern?
Wohl thät ich's gern,
Denn mein Blut ist heiß,
Doch will ich dir sagen,
Was Keiner weiß:
In Liebe bin ich
Und süßer Noth,
In Sehnsucht, Jubel.
In Lust und Tod -
Eines Andern!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 74-75)
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Wonne der Sturmnacht

Himmel und Hölle zusammen im Streite,
Lodernder Sturm schlägt den Arm um uns Beide,
Über dein zuckendes Angesicht
Flammen die Blitze mit flackerndem Licht.

Hoch auf der Lüfte erbrausenden Wogen
Kommen die finsteren Segler gezogen,
Unholde ringen im nächtigen Schooß
Jauchzend von klirrenden Ketten sich los.

Kampf in den Lüften, Empörung im Grunde,
Dies ist die Schicksal erfüllende Stunde!
Stimmen der Sehnsucht - was lockt ihr mich?
Wonne der Sturmnacht, ich grüße dich!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 81)
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Verheißung

Hör, was ich sage:
Wenn die Sonne heut
Mit müden Schritt aus unsrer Flur gegangen,
Erwart' ich dich.
In wildem Geisblatt birgt sich eine Bank
Im Waldesgrund, rings Buchengrün und Farren,
Dort find'st du mich!

Dort rufe nicht! Geh heimlich durch das Laub,
Daß nicht die Vögel aus dem Schlummer schrecken
In ihrem Nest,
Daß nicht der Wind erwacht, der athemlos
Vom tollen Lauf, betäubt und sonnenmüde
Schläft im Geäst.

Leis lachend reck' ich meine Hände aus
Und ziehe dich durch das Gewirr der Ranken
Zu mir herein,
Verträumte Blüthen nicken über uns,
Grüngoldne Dämmrung spinnt mit weichem Schleier
Uns Beide ein.

Dann küsse mich! Sieh, meine Seele schläft,
Ein willenloses Kind auf meinen Lippen -
Dein ist die Macht!
Reiß sie empor aus ihrem dumpfen Traum,
Laß sie hineinschaun in das heiße Leben
Und dann – sei Nacht!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 187-188)
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Heilige Stunde

Ich denk so oft an jene Nacht,
Da's über uns herniederbrach,
So athemraubend, riesengroß,
Daß keiner von uns Beiden sprach.

Wir maßen uns, wie Feinde thun,
Es war ein Ringen bis aufs Blut
Und dann hat doch, besiegt und still,
Mein Haupt an deiner Brust geruht.

Es war kein Jubel zwischen uns,
Nur ein verhalten, wortlos Flehn:
"Gott, laß uns rein und stark und groß
Aus dieser Stunde Thoren gehn."

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 168)
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Waldwege

Ich ging denselben Waldweg heut',
Den ich mit dir, mein Lieb, gegangen,
Als über uns, im jungen Grün,
Die ersten Frühlingslieder klangen.

Wir sprachen kaum, doch jeder Blick,
Ein Werben war's, ein heimlich Bitten,
Und zwischen uns, auf schmalem Pfad,
Ist still die Liebe hingeschritten.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Wie liegt der Tag so weit, so weit!
Das grüne Laub giebt tiefen Schatten,
Die Vögel tragen schon zu Nest,
Die damals hell gesungen hatte.

Ich war allein heut' und mein Herz
Erzitterte in bangem Lauschen,
Mir war's, als kläng dein "Lebewohl"
Noch einmal durch der Zweige Rauschen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 33-34)
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Ein Stündchen lang

Ich hab' an seiner Brust geruht,
In seinen Armen schlief ich ein,
Und kreuzt er nimmer meinen Weg -
Er war doch eine Stunde mein!

Und wenn ich dieser Stunde Glück
Mit meinem Leben zahlen müßt',
Ich ginge lächelnd in den Tod -
Er hat mich einmal doch geküßt!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 27)
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Ich hab' dich lieb

Ich hab' dich lieb! Das sollst du als Geschenk,
Nun da du gehen willst, von hinnen tragen.
All meine Lust und Pein
Und meine große Sehnsucht schließt es ein,
Ich hab' dich lieb – und will's dir nie mehr sagen!

Ich hab' dich lieb! Das ist ein ernstes Wort
Und doch auch süß! Heut' hab' ich weinen müssen,
Als ich es niederschrieb.
Mein traurig Glück, wie hab' ich dich lieb!
Ich hab' dich lieb – und darf dich nie mehr küssen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 192)
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Ballnacht

Ich hab' getanzt! Von einem Arm zum andern
Warf mich des Tanzes ungestüme Lust,
Die ganze Nacht.
Und dennoch war's ein wohlbehütet Wandern,
Denn heimlich und mir selber unbewusst
Hast du gewacht,
Daß mir das Treiben nicht den Sinn verwirrte,
Wie eine Mutter trugst du die Gedanken
Still in dein Haus,
Daß auch nicht einer sich von dir verirrte;
Da ruhten sie, in all dem bunten Schwanken,
Sich selig aus.
Nun, da es Morgen ist und alle Leute
Verdrossen aus verwachten Augen sehen
Und müde sind,
Geh' ich umher in einer stillen Freude,
Als sei mir wunder was zur Nacht geschehen -
Recht wie ein Kind.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 190-191)
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Vor deinem Hause

Ich hab' vor deinem Haus gestanden,
Die Fenster grüßt' ich und das Thor,
Aus dem du oft zu mir gegangen.
Da fasste mich ein seltsam Bangen,
So fremd kam mir das Alles vor.

Im Hofe plätscherte der Brunnen,
Der einst so märchenhaft gerauscht,
Vom Zaune nickte noch der Flieder,
Und auch die Amseln bauten wieder,
Die wir so oft, so oft belauscht.

Und war doch Alles wie verwandelt,
Als ob ein kalter Winterhauch
Den Garten und das Haus getroffen,
Verweht die Lust, zerstört das Hoffen,
Und all' die süße Schönheit auch.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 40)
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Warnung

Ich komme heim aus dem Sonnenland.
Ich bin den ganzen blühenden Tag
In lauter Schönheit gegangen!
Nun fliegts mir um Stirn und Wangen
Noch wie ein verklärter, seliger Schein …
Sieh mir nicht so in die Augen hinein,
Sonst nimmt er dich auch gefangen!
Dann kommen wir nicht von einander los,
Wir schauen uns an, so sehnsuchtsgroß,
Und finden aus lachendem Märchenglück
Nie mehr den Weg in das Leben zurück.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 71)
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Weihe

Ich liebe diese Form, die Dich entzückt:
Die weiße Brust, an der Dein Haupt gelegen,
Und diesen Nacken, den Dein Arm umschlang.
Seit Deines Kusses Wonne mich durchdrang,
Liegts über mir wie ein geheimer Segen,
Ein Frühlingsglanz, der meine Glieder schmückt.

Ich liebe dieser Augen lichten Schein,
Seit sie, zwei Sterne, über dir gestanden,
Und dieser Stimme warmen, vollen Klang,
Die deine Sehnsucht einst zur Ruhe sang!
Der Mund ist süß, den deine Lippen fanden,
Und diese Seele heilig, seit sie dein!

Die Liebe hebt mich über mich empor,
Daß ich mich selbst wie etwas Fremdes sehe,
Und meine Schönheit trage wie ein Kleid,
Wie einen Schmuck, der deinem Dienst geweiht:
Der Sonne gleich, lockt Deine liebe Nähe
Mich aus mir selber sehnsuchtsvoll hervor!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 12-13)
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Das faß' ich nicht

Ich liebte dich! Lang, eh ich’s selber wußte,
War ich schon dein,
Und daß es Alles nun so kommen mußte,
Ich seh's ja ein.

Doch daß du lachen kannst in diesen Tagen,
Das faß' ich nicht,
In dieser Zeit, da all mein bischen Freuen
In Scherben bricht.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 173)
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Ich liebe dich …

Ich reiße dich aus meinem Herzen,
Aus meinem Leben reiß ich dich,
Denn wie ein heimlich schleichend Fieber
Zehrst du an mir und tötest mich.

In jeden Tag, in jede Stunde
Schleicht dein geliebtes Bild sich ein,
Und ob ich zitternd dir entfliehe
In Lust und Lärm – du holst mich ein.

Mein eigen Blut hat sich verschworen,
Mit dir im Bunde gegen mich -
Es braust und tobt mir in den Adern:
"Ich liebe dich … ich liebe dich."

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 97)
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Abschiedsstunde

Ich stellte gern die alte Uhr zurück!
Die Zeiger machen hastend ihre Runde -
Wir aber haben nur die eine Stunde,
Dann mußt du gehn, und mit dir geht das Glück!

Wie leer wirds dann in meinem Stübchen sein!
Der Frühlingssturm wird an die Fenster klopfen,
Die Winternebel von den Scheiben tropfen -
Und immer bin ich einsam und allein!

So sieh mich an, so liebevoll und still!
Kein Abschiedsschmerz darf mir das Bild verwischen,
Nach Jahren noch soll's mir das Herz erfrischen -
Ich weiß ja nicht, wie ich's sonst tragen will.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 103)
_____


 

Geheimnis

Ich trag' ein glückselig Geheimnis
Mit mir herum,
Ich möchts allen Leuten vertrauen
Und bleib' doch stumm!
Ach, jubeln möcht' ich und singen,
Von früh bis spät -
Und rege nur heimlich die Lippen,
Wie zum Gebet!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 3)
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Dienende Liebe

Ich weiß es wohl, dir dank ich Alles, Alles,
In deinen Küssen blüht mein Frühling auf!
Verschüchtert standen, zagend meine Knospen,
Es fiel dein Blick wie Sonnenschein darauf,
Und jubelnd drängen sie aus ihren Hüllen,
Dein stilles Reich mit ihrem Duft zu füllen.

Ich steh' beschämt vor meinem eig'nen Glanze
Und bin voll Demuth doch in meinem Sinn,
Mit beiden Händen greif ich in die Blumen
Und streue sie zu deinen Füßen hin,
Bis auf den Wegen sich ein Teppich breitet,
Der warm und schmeichelnd jeden Stein umkleidet.

So dien' ich dir! Nicht in erkaufter Treue,
Ich diene dir, weil ich nicht ander's kann,
Weil Leib und Seele bräutlich sich dir neigen,
In tiefem Glück, mein König und mein Mann,
Weil du der Künstler bist, der meinem Leben
Gestalt und Werth und Schönheit erst gegeben.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 25-26)
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Was geht das fremde Lied mich an

Ich weiß nicht, was mir gar so bang
Heut in die Kammer schallte -
Ein Vöglein sang vor Thau und Tag,
Vor Thau und Tag im Walde.

Mag auch ein Bursch gewesen sein,
Der hier vorbei gezogen,
Ein Bursch, der in die Weite ging,
Weil ihn sein Schatz betrogen.

Was geht das fremde Lied mich an,
Daß ich im blassen Scheine
Des Morgens mich ins Kissen drück'
Und weine …?

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 176)
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Abendschein

Ich weiß, daß dieser Abendschein,
Der golden mir ins Zimmer fliegt,
Wie eine leise Segenshand
Nun auch auf deinem Haupte liegt.

Du sitzest wohl und schaust ins Buch,
Da fällt der Schimmer auf das Blatt
Und sagt dir, daß er fern im Land
Ein einsam Weib umsponnen hat.

So webt die Sonne um uns Beid
Von Nord nach Süd ein leuchtend Band,
Und über meilenweitem Grund
Reicht unsre Liebe sich die Hand.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 193)
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Ich will den Sturm!

Ich will den Sturm, der mit den Riesenfäusten
Vom Boden der Alltäglichkeit mich reißt
Und mich hinauf in jene Höhen schleudert,
Wo erst das Leben wahrhaft Leben heißt!

Ich will den Sturm, der mit gewaltgem Athem
Zur lichten Gluth die stillen Funken schürt
Und, alle Kräfte dieser Brust entfesselnd,
Zum Siege oder zur Vernichtung führt!

Laß mich nicht sterben, Gott, eh meine Seele
Ein einzig Mal in Siegeslust gebebt -
Ich kann nicht ruhig in der Erde schlafen,
Eh ich nicht einmal, einmal ganz gelebt!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 232)
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Ich wollt', ich wär' des Sturmes Weib

Ich wollt', ich wär' des Sturmes Weib,
Es sollte mir nicht grausen,
Auf Felsenhöhen wohnt ich dann,
Dort, wo die Adler hausen.

Die Sonne wäre mein Gespiel,
Die Winde meine Knappen,
Mit dem Gemahl führ' ich dahin
Auf flücht'gem Wolkenrappen.

Frei würd' ich sein und stolz und groß,
Die Königin der Ferne,
Tief unter mir die dumpfe Welt
Und über mir die Sterne!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 71)
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Der erste Ball

1.
Im blassgelben Kleidchen,
Die Rose im Haar -
Sie sagten's mir Alle,
Wie lieblich ich war.

Und Einer von Allen,
Der sagte es nicht,
Er sah mir nur groß
Ins junge Gesicht.


2.
Da er mich ansah mit dem off'nen Blick,
Da wußt' ich gleich, mein kaum erblühtes Leben
Sei sehnend, liebend ihm dahin gegeben,
In seinen Händen ruhe mein Geschick.
Und leuchtend zog der Glaube in mich ein:
An seiner Brust wird deine Heimath sein!


3.
Die Geige sang, da tanzten wir zusammen.
An seiner Schulter lag mein junges Haupt
Und meine Hände bebten in den seinen,
Doch nicht in Qual! Der gold'ne Reif des Glücks
Lag drückend fast um meine Kinderstirn,
Und selig lächelnd kämpft' ich mit dem Weinen.


4.
Aufbruch
Halb erlosch'ne Kerzen,
Müd' gewiegte Lust,
Unverstand'ne Schmerzen
In der jungen Brust.

An der Thür ein Grüßen
Und ein zögernd Gehn -
Werd' ich ihn, ihr Sterne,
Morgen wiederseh'n?


5.
Nachhauseweg
Ich häng' mich fest an Vater's Arm,
Mein Herz so voll, mein Kopf so warm,

Schneeflöckchen dreh'n sich leis und stumm
Im Walzertakt um uns herum.

Und plötzlich, plötzlich tanz ich mit
Und schleife sacht im Walzerschritt:
"La la la, la la la …"

Dann werd ich roth, der Vater lacht -
Wenn ich nur wüsste, was er gedacht!


6.
Gut Nacht
"Nun gute Nacht, mein Kind, und schlaf dich aus!"
Heiß steigt das Blut mir in die jungen Wangen.
Er streicht mir leis das glühende Gesicht,
Und aus den lieben, treuen Augen bricht
Ein stolzer Strahl der hellsten Vaterfreude:
"Ach, müde, Vater? … Müde bin ich nicht!"

Ich küss' ihn innig, inniger als sonst,
Und wieder huscht das heimlich stille Lachen
Um seinen Mund, dann lässt er mich allein.
Durch die Gardinen lugt der Mond herein,
Ich aber falte träumend meine Hände:
"Du lieber Gott, wie glücklich kann man sein!"

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 6-11)
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Sommerzeit

Im Walde war's! Das rothe Sonnengold
Troff glitzernd von den Kieferstämmen nieder,
Ein Eichhorn sprang in keckem Wagemuth,
Aus klugen Aeuglein blinzelnd, hin und wieder.

Vom Boden stieg ein herbes Duften auf,
Ein Falter flatterte vorbei wie trunken,
In regungsloser, tiefer Schweigsamkeit
Umstand der Tannengrund uns, traumversunken.

Und alles Fühlen, aller Lebensdrang
Auf uns gehäuft, vereinsamt in uns Beiden,
Und wir mit all' der Sehnsucht in der Brust,
So ganz allein in den durchsonnten Weiten.

Konnt's anders sein, als dass mein Haupt sich bog'
Um deinem Kuß die Lippen hin zu geben,
Daß ich ihn zitternd dir vom Munde trank,
Den Zaubertrank von Liebe, Lenz und Leben.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 20-21)
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Schlimme Zeichen

Im Walde, da flüstern
Die Bäume so bang
Und der Wind streicht so scheu
An den Hängen entlang,
Und die Sonne am Himmel,
Die leuchtet so roth -
O weh meiner Seele,
Mein Liebster ist todt.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 211)
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In Sturmes Reich

Im wehenden Kleide
Weit über die Haide,
Auf schwindelnden Wegen
Dem Sturm entgegen -
Das ist meine Lust!
Da gellt in den Lüften
Sein jauchzender Schrei,
Da ragen die Berge
So stolz und so frei,
Da küssen die Winde
Mein heißes Gesicht,
Da leuchtet der Sonne
Urewiges Licht
Mir tief in die Brust!
Und höher hinauf
Eilt der schwebende Schritt!
Da können die grämlichen
Sorgen nicht mit,
Sie hocken am Wege
In keuchender Noth -
Ich lache der Faust,
Die mich machtlos bedroht!

Es schwindet der Erde
Alltägliches Bild,
Die lachenden Fluren
Das grüne Gefild -
Auf einsamer Höhe,
In strahlendem Blau,
So grüß ich den Sturm,
Eine selige Frau!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Und treibt er am Himmel
Zu rasendem Lauf
Die wilden, schwarzmähnigen
Rosse herauf,
Und glühen die Augen
Im wilden Gesicht,
Zwei zuckende Flammen -
Ich fürchte mich nicht!

Der Himmel verblaßt
Und die Sonne blickt fahl,
Es rollen und poltern
Die Sterne zu Thal,
Die trotzige Kiefer,
Sie duckt sich am Weg,
Vom Wildbach umdonnert,
Erzittert der Steg,
Es saust mir zu Häupten,
Es packt mich und droht:
"Mein Kuß ist Vernichtung,
Mein Lieben ist Tod!"

Ich aber, ich stehe
Im tosenden Streit
Mit leuchtenden Augen
Zum Sterben bereit:
O du, den ich liebe,
Du herrlicher Held,
Dem lodernde Sehnsucht
Mich zwingend gesellt -
Nimm hin meine Seele
Und mache sie groß,
Ach, ringe vom Staube
Des Alltags mich los!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 240-242)
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Sieghafte Lust

In deinem Arm, an deinem Herzen -
O sag', was hat die Erde noch?
Und brächte sie mir tausend Schmerzen
Nach diesem Tag, ich jauchzte doch!

Und gilt es, durch die Dunkelheiten
Der letzten, großen Nacht zu gehn:
Der Schimmer dieser Seligkeiten
Wird leuchtend überm Wege stehn!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 10)
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In verschwiegener Nacht

In verschwiegener Nacht
Hab' ich deiner gedacht
Und mit sehnendem Gruß
Dich gegrüßet.

Hab' geweint und gelacht
In der heimlichen Nacht
Und mit seligem Kuß
Dich geküsset.

Als das Morgenlicht kam
Und die Träume mir nahm,
Hab' ich einsam die Wonne
Gebüßet.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 37)
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Erinnerung

Ist dies ein Traum, der meinen Sinn umschmeichelt,
Der mit dem Mondstrahl in das Fenster kam,
Den schweren Druck von meiner Stirne nahm,
Mit Blüthenzweigen nun mein Antlitz streichelt,
Und zu mir spricht in jenen altvertrauten,
In Sturm und Trübsal nie vergeßnen Lauten?

Noch einmal steigt der Frühling mir herauf,
Noch einmal an den übersonnten Wegen
Seh ich den Flieder seine Trauben regen,
Narzissen schauen leuchtend zu mir auf,
Und durch den Garten kommt ein Schritt gegangen,
Der treibt das Blut in meine jungen Wangen.

Vor lauter Sehnsucht ist das Herz mir schwer.
Mit meinen Locken spielen Morgenwinde,
Und an der Mauer wiegt die alte Linde
Breitästig ihre Blüthen hin und her.
Darunter wartet er, daß meine Seele
In langem Kuß der seinen sich vermähle.

Erinnerung, wie gingst du all die Zeit
So farblos neben mir, so altbedächtig,
Wie trittst du heute gar so übermächtig,
So frühlingsfrisch in meine Einsamkeit
Und lockst aus stillen, grün umwachsnen Tiefen
Sehnsucht und Thränen, die so lange schliefen.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 217-218)
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Herausforderung an den Sturm

Ja, tobe nur und reck die Fäuste aus -
Ich fürcht mich nicht!
Ich schaue lachend in dein wild Gesicht
Und wage mich aus meinem sichern Haus
Mit festem Schritt selbst in dein Reich hinaus.
Du rüttelst mich – das ist mir grade recht!
Verlangts mich doch aus all der Schläfrigkeit,
Aus all den stillen, sonnenschwülen Tagen
Nach Kampf und Streit!
Ein übermüthig Wagen
Liegt mir im Blut und läßt mir keine Ruh,
Du locktest mich – nur wahr dich, Wilder du!
Komm, laß uns ringen! Brust an Brust gedrängt
Und Mund auf Mund, daß keuchend sich des Athems
Gefangner Sclave durch die Zähne zwängt!
Du packst mich gut -
O namenlose Lust,
Der eignen Kraft und Jugend sich bewußt,
In keckem Drang sich einmal aus zu leben!
Die Sehnen spannen sich in trotzgem Muth,
Es gärt und schwillt des Blutes träge Fluth
Und reißt der Ordnung heilge Dämme ein -
Frei will es sein!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Und zwingst du mich, gewaltger Kämpe du,
So jauchzt mein Herz dem Überwinder zu -
Auch das ist Lust, sein überschäumend Leben
Berauscht, besiegt dem Größern hinzugeben!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 238-239)
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Brautgang

Junge Hände halfen mich schmücken,
Alte Lippen segneten mich,
Leise rieselt die bräutliche Schleppe
Über die blumengeschmückte Treppe,
Und der Schleier fällt über mich.

Flüsternd stehn die Leute zur Seite -
Was sie reden, höre ich nicht.
Brausend schwillt mir die Orgel entgegen,
Und wie ein goldener Gottessegen
Streift die Sonne mein blaß Gesicht.

Tausend fromme Wünsche im Herzen,
Heil'ge Scheu im kindischen Sinn,
Kniee ich still an der seligen Pforte
Unsres Glücks, und des Priesters Worte
Hallen ernst durch die Kirche hin.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 9)
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Liebe

Leise wie ein Hauch,
Zärtlich wie ein Lied,
Furchtsam wie der Schatten,
Und so treu doch auch -

Arme kleine Liebe,
Die ich hart verstieß,
Die ich oft des Tages,
Zürnend von mir wies.

Stehst du nun zur Nacht,
Stehst vor meiner Thür,
Rufst mit süßer Stimme,
Bis ich aufgemacht?

Arme kleine Liebe,
Hast nun doch gesiegt,
Daß dir meine Seele
Still zu Füßen liegt.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 194)
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Märzensturm

Märzensturm, rufst du mich?
Komm nur und hasche mich!
Jag' mich den Berg hinan,
Sieh doch, wer's besser kann,
Du oder ich.

Laß mir mein Kleid in Ruh,
Unbänd'ger Junge du!
Sollen's die Andern seh'n,
Wie mir die Röckchen weh'n?
Laß mich in Ruh.

Schön wie der Sonnenschein,
Stark muß mein Liebster sein!
Kannst du's, so küsse mich ...
Glaubst wohl, du fingest mich?
Bild dir nichts ein!

Geht dir der Athem aus?
Sieh dort am Weg das Haus!
Bautz - fliegt die Thür in's Schloß,
Komm, wilder Weggenoß,
Hol' mich heraus?

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 72-73)
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Mittag

Mauerreste, wilder Wein -
Letzte Rosen auf den Beeten -
Malven, Astern und Reseden -
Und darüber hingegossen
Voller, gold'ner Sonnenschein.

Tiefe Ruhe ringsumher!
Lastend liegt des Mittags Schweigen
Ueber all' den grünen Zweigen,
Träumend blickt der Himmel nieder
Und die Erde athmet schwer.

Und wir beide, du und ich,
All der Farbenschönheit trunken,
Sind uns in den Arm gesunken,
Leise, wie aus weiter Ferne,
Hör' ich noch dein "Küsse mich …"

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 15)
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Mit dem Sturm um die Wette

Mein gluthäugig Liebchen, mein wilder Genoß,
Komm, schwing dich behende zu mir auf das Roß,
Wir jagen zusammen hinein in die Welt,
So wild und so weit es dir immer gefällt.

Du schüttelst die Locken, mein schwarzbraunes Kind,
Wie flattern sie lustig im wehenden Wind,
Du jauchzest und singst in entfesselter Lust
Und wirfst beide Arme mir wild um die Brust.

Du Wand'rer am Wege, was schaust du uns nach,
So müd und verdrossen, die Seele voll Plag? ...
Hopp, heißa, mein Rößlein, zum lustigen Ritt,
Beeile dich, Sturmwind, sonst kommst du nicht mit!

Und dunkelt die Erde, dann suchen wir Ruh,
Es deckt wohl der Mantel uns beide dann zu,
Und droben die Sterne, die halten die Wacht,
Bis zögernd entschwindet die seligste Nacht.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 77-78)
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Verklärt

Mir ist, als hätt' ein Großes, Wunderbares,
In meiner Brust die Augen aufgeschlagen,
Seit er mich küßte!
Als ob ich, niederknieend in den Staub,
Vor meinem eignen Bilde beten müßte,
Weil es ein Glanz von Oben her verklärt.
Ich gehe still und wie in Träumen hin
Und staune wohl, daß ich so ernsthaft bin
Und doch so froh, so allem abgekehrt,
Was sonst mich peinigte.
Mein Leben treibt noch einmal Knospen,
Und kein Wintersturm
Wird ihre edle Schönheit mir zerstören,
Weil sie dem Himmel selber angehören.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 189)
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Fata morgana

Mir ist, wir stünden Hand in Hand
Noch einmal an der lieben Stelle,
Da jener Traum uns aufgeblüht.
Vom Abendsonnenschein umglüht,
Liegt gar so still die Wiese dort,
In Blüthen steht die alte Linde,
Und grüßend wandert mit dem Winde
Ein ungesprochnes, süßes Wort.
Es sickert immer noch die Quelle
Leis raunend übern Brunnenstein -
Der alte Zauber spinnt mich ein …
Und wie die Pilger an der Schwelle
Des Heiligsten fromm niederknien,
So neig' ich mich in stillem Beten,
Denn dieses Stückchen Erdenland
Hat einst des Glückes Fuß betreten,
Und heilig, heilig ist der Ort!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 93)
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Herbstgedanken

Nun hat sich Alles, was den Lenz durchstürmte,
Zu schöner, milder Ruhe abgeklärt,
Zum gold'nen Trunke ist der Saft geworden,
Der feurig in der Rebe einst gegährt.

Und wie er vor mir in dem Glase funkelt,
Kommt der Gedanke schattend über mich,
Daß Alles bald die große Nacht umdunkelt,
Und in der Todesahnung such' ich – dich!

Der du mir Licht und Glanz des Tag's gewesen
Und dann verblichen, eh' der Abend kam,
Der du mein Blühen mit in's Grab genommen,
Lang, eh' der Herbst mit roher Faust es nahm.

Schläfst du, Geliebter? Sprengen die Posaunen
Des jüngsten Tages erst dein stilles Haus,
Schaust du schon jetzt aus sonnigen Gefilden
Nach deines Weibes Heimwegschritten aus?

Mir ist so oft, als glitte durch die Nächte
Dein heiliger, geliebter Schatten hin,
Und erst der Morgenstrahl auf meinem Kissen
Nimmt mir den Wahn, dass ich noch bei dir bin!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 54-55)
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Der neidische Mond

Nun küsse mich, ich halte still,
Du lieber, lieber Mann,
Und zieht der Mond ein schief Gesicht -
Was geht's den Mond wohl an!

Ich glaube gar, den alten Herrn
Plagt nur der blasse Neid:
Der ginge lieber auch zu Zwei'n
Durch seine Ewigkeit.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 18)
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Ein Grab

Nun spinnt der Epheu deine Ruhstatt ein,
Zu deinen Füßen sprießen Frühlingsblüten -
Du könntest schöner nicht gebettet sein!

Ich aber bete: Hege mir den Müden,
Du heil'ge Erde, und du Kreuz von Stein,
O sprich auch meiner Noth das Wort vom Frieden!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 58)
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Abendlieder

1.
O gehe nicht, laß nicht die Nacht mich finden,
Ein hülflos zagend und verlassen Weib!
Schon greift die Furcht mir eisig an den Busen
Und jagt mir Schauer durch den jungen Leib.

Sieh', wie die Wolken dort am Himmel jagen,
Vom Sturm gepeitscht, in lichtlos scheuer Hast -
Ahnst du die Sehnsucht nicht, die sie beflügelt,
Den tiefen Drang nach sturmlos stiller Rast?

So floh auch ich, vom Sehnsuchtssturm getrieben,
Durch dieser Jahre trostlos öde Zeit,
Da sah ich dich und wurde ahnend stille:
Du wardst die Fülle meiner Einsamkeit.


2.
O bleib bei mir! Schon will der Tag sich neigen,
Der Lärm verhallt, die Dämm'rung bricht herein,
Mir wird so bange in des Abends Schweigen,
Sieh' meine Thränen, laß mich nicht allein!

Schon netzt der Thau des Mooses grüne Matten,
Vom Flusse steigt der Nebel weiß herauf,
Es richtet sich ein kalter, schwarzer Schatten
An jedem Baum und Strauch des Weges auf.

Hörst du den Schrei des Hähers in den Föhren,
Den Schritt des Wildes, der im Buschwerk knackt?
Ich fürchte mich! Wie soll ich mich erwehren,
Wenn mich die Nacht mit ihren Schrecken packt.

Noch bist du da! Noch halt' ich deine Hände
Und suche Trost und Schutz und Ruh' bei dir,
Doch hinter uns steht drohend schon das Ende
Und grinst uns an … Geliebter, bleib bei mir!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 97-99)
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Warum?

O jenen bangen Weg zurück,
Da jeder Baum von ihm erzählte,
Mit Fragen meine Seele quälte,
Da Alles sprach! "Warum? Warum?"

"Warum gehst du den Weg allein,
Mit ernster Stirn und blassen Wangen,
Den du am blauen Frühlingstag
So jubelnd einst zu Zwei'n gegangen?" -
- Mein Herz schrie auf … mein Mund blieb stumm -
O du verzehrendes "Warum".

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 46)
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Mein Falke

O Sehnsucht, wilder Falke mein,
Willst du auch müde werden?
Dess' Heimath hoch im Blauen war,
Behagt's dir nun auf Erden?

Wie oft hast du den jungen Sinn
Aus diesen grauen Tagen
Hoch über Sorge, Noth und Leid
Getragen.

Bis mir das dunkle Thal entschwand
In märchenweiter Ferne
Und um mein glühend Haupt sich bog
Das Diadem der Sterne.

Nun beugst auch du die stolze Stirn
Und lässt die Flügel hangen,
Nun hat auch dich die Sorgenfrau
Gefangen.

Brich deine Fesseln, Wanderfalk,
Und hebe dein Gefieder -
Siehst du die Sterne droben glüh'n,
Hörst du die süßen Lieder?

Es ist die Heimath, die uns ruft,
Sie lockt in Lust und Wonne,
Steig auf mit hellem Jubelschrei
Zur Sonne!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 3-4)
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Überraschende Bekanntschaft

Oft, wenn ich so las, wie gesittet er sei,
Wie zierlich er ginge im weißen Gewand,
Und wie er's verstünde, das schlafende Land
Zu schmücken mit tausend duftigen Blüthen -
Da kam er mir immer recht langweilig vor,
Und ich dachte im Stillen: Gott soll mich behüten,
Das fehlte mir noch, solch ein tänzelnder Thor!

Und neulich einmal – es war so ein Tag,
An dem sie hier ängstlich die Thüren verschließen -
Der Märzsturm fuhr johlend die Gasse herauf,
Da litt's mich nicht drinnen im schweigenden Haus,
Da zog ich mein Mäntelchen fest um die Schultern
Und lief auf die trotzigen Berge hinauf.
Hui – pfiff mir der Wind um die brennenden Ohren,
Und riß mir am Kleide und riß mir am Hut ..
Ich konnte mich kaum noch des Wilden erwehren -
Und war doch voll Jubel, und war ihm doch gut!
Und als uns dann endlich der Athem vergangen,
Da sahn wir uns fragend ins heiße Gesicht:
"Wer bist du?"
""Ich bin die Frau Räthin von drunten! Und du?""
"Ei, der Frühling. Kennst du mich nicht?"
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Wie haben wir Beide da oben gelacht -
Wir hatten's uns Beide – ganz anders gedacht!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 226-227)
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Rosengruß

Rosen brach ich dir im Garten
Und ich küßte eine jede
Mit den heißen, rothen Lippen,
Eh ich sie zur langen Reise
In das schmale Kästchen legte.

Und ich raunte einer jeden
In den Kelch ein süß Geheimnis,
Gab ihr einen Gruß und Segen,
Einen scheuen Liebeszauber
Mit auf ihre lange Reise.

Rosen stehn auf deinem Tische,
Tragen Duft und Glanz und Gluthen
In dein dämmerstilles Zimmer,
Blühn zur Nacht an deinem Lager,
Streuen ihres kurzen Lebens
Heißen Traum in deinen Schlummer.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 96)
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Frühling

Sah ich ihn doch
Am Wegrain sitzen
Mit Blumen im Haar
Und lachenden Augen,
Wie er mir winkte!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Da lief ich ihm nach.
Die Wiese entlang,
Durch Haselgebüsch
Und wuchernde Ranken,
Die kreuz und die quer,
Bis tief in den Wald.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Nun kann ich nicht mehr!
In kleinen, wilden,
Sinnlosen Schlägen,
Schlägt mir das Blut
Bis zum Halse herauf.
Verwirrt sind die Zöpfe,
Verschoben das Mieder,
Und mitten ins neue,
Tuchene Röckchen
Riß mir der tückische
Dornzweig ein Loch.
- - - - - - - - - - - - - - - - - -
Frühling! … Verräther! …
Hätt' ich dich jetzt,
Du solltest mir büßen!
Wie wollt' ich dich zausen
An goldenen Löckchen,
Wie wollt ich dich rütteln
Und schütteln und – küssen!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Müde bin ich
Vom tollen Lauf.
Ich werf mich hinein
In nickende Gräser,
In träumende Moose -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Da – über mir,
Hinter mir
Hör' ich sein Lachen,
Neckende Stimme:
"Kuckuck! … Kuckuck!"
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Jäh fahr ich empor
Aus wachendem Schlummer.
Da wirft mir der Schelm,
Der sonnige Wildfang,
Vom alten, knorrigen
Birnbaum herunter
Die blühende Last
Eben erschlossner,
Schneeiger Blüthen
Herab in den Schooß.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 82-84)
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Brautlied

Säumt mir des Lagers Linnen
Mit dunk'ler Rosen Zier,
Mit blühenden Gewinden
Umkränzt die nied're Thür
Und öffnet weit die Fenster,
Die Sonne lasst herein:
Voll Licht soll meine Kammer,
Mein Herz voll Jauchzen sein!

Bescheiden ging mein Leben
In stillen Gründen hin,
Heut' trag ich eine Krone,
Heut' bin ich Königin!
In Freuden ihn zu grüßen,
Harr' ich des Liebsten mein:
Voll Licht soll meine Kammer,
Mein Herz voll Jauchzen sein.

Wohl mag die Sorge kommen,
Der Sturmwind uns umweh'n -
Nie soll er meine Seele
Verzagt und feige seh'n,
Nie meinen Blick voll Thränen
Und meine Liebe klein:
Voll Licht soll meine Kammer,
Mein Herz voll Jauchzen sein.

Hört, wie der Klang der Glocken
Mein bräutlich Haus umzieht,
Sie singen meiner Liebe
Ein jubelnd Hochzeitslied.
Eilt, Mädchen, ihm entgegen
Und lasst den Liebsten ein:
Voll Licht soll meine Kammer,
Mein Herz voll Jauchzen sein.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 22-24)
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Ich aber denke …

Sie sagen mir, du sei's geborgen nun
Vor allem Leid, ein friedvolles Ruh'n,
Ein Sonnentraum sei über dich gekommen,
Seit dir der Tod die Bürde abgenommen,
Die Leben heißt. Du führtest, sagen sie,
Ein neues Dasein voller Harmonie,
Du wandeltest in wunderbaren Hallen,
Darin die Lieder der Erlösten schallen.
So sagen sie, und ach, viel Schön'res noch.
Ich aber denke heimlich, heimlich doch,
Daß aller Glanz, der jene Wände deckt,
Dir nicht die Erde und dein Weib versteckt,
Dein Weib, das draußen steht! Mit ihrem Trauern
Die Hallen füllt und an die ew'gen Mauern,
Die zwischen Tod und Leben sind gethürmt,
Mit dem Verzweiflungsmuth der Sehnsucht stürmt.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 41-42)
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Wortloses Glück

Sie zogen singend in den Wald hinein,
Ein langer Zug von frohen, jungen Menschen.
Wir aber schritten schweigend hinterdrein
Und fürchteten der eig'nen Stimme Klang,
Als möchte sie der Stunde Andacht stören,
Als ob für Alles, was nach Ausdruck rang
In unsrer Brust, das Wort sich doch nicht fände.
So schwiegen wir und schauten uns nur an
Mit tiefem Blick und drückten uns die Hände.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 12)
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Wiederseh'n

So ganz, ganz anders hatt' ich's mir gedacht,
So märchenschön, so licht und glanzumwoben!
Tief unter uns die Erdenwelt und wir
Von starken Fittichen emporgehoben.

Nur noch den goldnen Himmel über uns,
Der Engel Scharen auf den Wolken knieend,
Und eine Fluth von süßen Harmonien,
Traumhaft verklingend in die Weite ziehend.

So kam es nicht! O Gott, kein Flügel trug
Uns rettend aufwärts aus dem Reich der Sorgen,
Das scheue Glück, das uns die Stunde bot,
Wir mußten's zitternd von der Reue borgen.

Hand lag auf Hand mit schmerzhaft festem Druck,
Wie man wohl Abschied nimmt vor langer Reise,
Und um uns her zog drohend das Gespenst
Einsamer Zukunft seine dunklen Kreise.

Und doch – und doch! Als deines Kusses Gluth
Mich ganz durchrann in wonnevollen Schauern -
Da wußt' ich, dieser Augenblick des Glücks,
Wird eines Lebens Leiden überdauern.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 185-186)
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Todeswege

Ueber meinem Haupte deine Hände,
Deine Liebe über meinen Wegen -
Und doch führen sie der Nacht entgegen,
Und ein Grab ist unsres Wanderns Ende!

Laß uns, Liebster, in die Sonne schauen,
Goldnes Licht und Lust und Freiheit trinken
Und dann selgen Augs hinüber winken
Zu den stillen, sonnenlosen Auen.

Daß, wenn wir vom Lichte scheiden müssen,
Noch ein Traum die lange Nacht durchglühe,
Und Erinnerung das Grab umblühe
Mit dem Rosenflor von deinen Küssen.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 100)
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Sehnsucht nach dem Geliebten

Um dich hab ich die ganze Nacht
In Weh durchweint, in Noth durchwacht,
Um dich begrüßt mit heißem Schlag
Mein Herz den grauen Wintertag -
Ach, wirst du kommen, Liebster mein,
Die Sonne dieses Tags zu sein?

Das Leben rinnt uns durch die Hand,
Ist jeder Tag ein Körnlein Sand,
Das häuft sich an und lastet schwer,
Darunter blüht kein Hoffen mehr -
O komm, so lang der Sonnenschein
Uns noch umleuchtet, Liebster mein!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 90)
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Schlafe, ach, schlafe

Und dürft' ich dich wecken zum Sonnenlicht
Aus Schatten des Todes, ich thät es nicht,
Ich sänke nieder an deinem Grab
Und leise raunt ich ein Lied hinab:
Schlafe, ach, schlafe!

O laß in dein traumtiefes Kämmerlein
Kein Fünkchen des schimmernden Licht's hinein,
Denn was die Sonne dir auch verspricht,
So hell, so strahlend – sie hält es nicht.
Schlafe, ach, schlafe.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 61)
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Traumglück

Und wenn du schläfst und träumst von mir
Dann komm ich still gegangen
Und leg' mein weinendes Gesicht
An deine braunen Wangen.

Und nehme scheu dein schlafend Haupt
In meine beiden Hände
Und denk, wir wären beide todt,
Und Alles wär' zu Ende.

Die Ahnung meiner Nähe hebt
Dir wohl die trunk'nen Lider,
Ich aber küsse sie dir zu
Und gehe heimlich wieder.

Und wenn du morgens dann erwachst,
Liegt wohl ein blasser Schimmer
Von Traumglück und verweinter Luft
Noch über deinem Zimmer.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 35-36)
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Ich glaub', lieber Schatz ...

Unter den blühenden Linden -
Weißt du's noch?
Wir konnten das Ende nicht finden,
Erst küßtest du mich,
Und dann küßte ich dich -
Ich glaub', lieber Schatz, es war Sünde,
Aber süß, aber süß war es doch!

Der Vater rief durch den Garten -
Weißt du's noch?
Wir schwiegen ... der Vater kann warten!
Erst küßtest du mich,
Und dann küßte ich dich:
Ich glaub', lieber Schatz, es war Sünde,
Aber süß, aber süß war es doch.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 16)
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Die Glocke des Glücks

Viele Glocken hör' ich läuten,
Nun es Abend werden will -
Eine nur will nimmer klingen,
Eine nur ist ewig still.

Tiefe Glocke meines Glückes:
Einmal noch zur Abendzeit
Singe über meinem Hügel
Jenes Lied voll Seligkeit.

Dem ich meine junge Stirne
Lauschend einst empor gewandt,
Da ich noch auf hellen Wegen
Schritt an meines Liebsten Hand.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 40)
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Vor deinem Fenster

Vor deinem Fenster die Ranken
Wiegen sich leise im Wind,
Sie wehen, winken und wanken -
Das sind meine armen Gedanken,
Die zu dir gekommen sind.

Du willst von ihnen nichts wissen,
Schließest im Trotze dein Haus,
Du wühlst den Kopf in die Kissen
Und horchst doch, von Sehnsucht zerrissen,
Mit fiebernden Pulsen hinaus!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 91)
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Vom Küssen

War ich gar so jung und dumm,
Wollte gerne wissen:
»Warum ist mein Mund so roth?"
Sprach der Mai:
"Zum Küssen."

Als der Nebel schlich durch's Land,
Hab ich fragen müssen:
"Warum ist mein Mund so blaß?"
Sprach der Herbst:
"Vom Küssen."

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 130)
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Verlassen

Was weißt du davon, daß ich weine!
Wissen doch, die mir die Nächsten sind,
Selber nicht, was mich plagt.
Ich hab ihnen gesagt:
Der Frühling sei es, der Märzenwind,
Da nickten sie mit dem Kopfe -
Hat Keiner weiter gefragt. -
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Die Tage, die ich in Sehnsucht verbringe,
Die grauen Tage, in denen ich ringe
Mit letzter Kraft,
Und dann die Nächte …
Die Nächte voll zitternder Leidenschaft,
Voll Thränen und Sorgen,
Die weiß nur ich!
Ich und mein Kissen -
Was kümmert's dich?
"Morgen! … Morgen! …"
Wie bete ich drum:
Und wenn er kommt, und das Düster flieht,
Dann ist's doch immer dasselbe Lied.
Wer hilft mir davon?
Es läßt mich nicht los,
In heimlichen Wochen zog ich's groß,
Nun ist es gar wie ein Riese geworden.
Ich weiß es gewiß, es wird mich noch morden.
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Leben und Seligkeit gäbe ich drum,
Wenn ich nicht immer dran denken müßt,
Wie du mich herztest und wie du geküßt.
Am Mühlbach war's, bei dem Brückensteg,
Hing eine Weide quer über den Weg,
Darunter blauten die Veilchen.
Ich lag dir am Hals … ich war deine Lust,
Ein kleines, blühendes Veilchen. - - -
Und heut -?
Ist eine böse Zeit gekommen
Hat all mein Lachen mit fortgenommen …
Ich meine oft, ich hörte ein fernes Geläut:
Mag irgendwo Einer gestorben sein,
Vielleicht ein Mädchen …
Die Träger schreiten mit schwerem Schritt,
Viel Kinder in weißen Kleidern gehn mit,
Ueber dem Sarge ein Vöglein fliegt,
Und ein grünes welkendes Kränzchen liegt
Ueber der Stirn der blassen -
Wie wohl mag dem schlafenden Mädchen sein!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Weh mir – du hast mich verlassen!
Sie lachen mir nach auf den Gassen -
War ich nicht dein?
Ich liebe dich noch … und du läßt mich allein!

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 179-181)
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Und um die Holzbank duftete der Flieder

Weißt du den Abend noch? Die Ulme hing
Die dichten Zweige schützend um uns nieder,
Der Bach schoß glucksend unterm Zaun vorbei
Und um die Holzbank duftete der Flieder.

So süß, so süß! Die laue Nachtluft floß
In weichen Wogen schmeichelnd um die Glieder.
Die Grille zirpte leis im hohen Gras,
Und um die Holzbank duftete der Flieder.

Vom Himmel sank ein Stern in jähem Zug,
Lichtscheue Falter huschten hin und wieder,
Dein Arm umfasste mich, wir waren jung …
Und um die Holzbank duftete der Flieder.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 5)
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Einem Todten

Wie dunkel ist's! Nur wenn der Sturmgott droben
Sein leuchtend Schwert nach Wolkenriesen zückt,
Erhellt sich mir der Pfad, dann schreit' ich eilend,
Ein Büchlein zitternd an die Brust gedrückt.

Gedichte sind's! Der Sehnsucht irres Stammeln,
Der Schrei der Noth, ein blasser Traum von Glück,
Gedanken, aus der Einsamkeit geboren …
In ihre Heimath trag' ich sie zurück.

Ein Garten lockt im fahlen Licht der Blitze,
Am düstern Thor das Schweigen Wache hält,
Dort opf're ich im Schatten der Cypressen,
Ein Lebender im Bann der Todtenwelt.

Da liegt das Grab! Ein Kreuz ist drauf gebettet,
Die Lippen preß ich auf den kalten Stein
Und suche einen halbverwischten Namen -
Ach der ihn trug, vor Jahren war er mein.

Wie dunkel ist's! Nur von den Lilien windet
Ein seltsam feierlicher Glanz sich los,
Den Epheu bieg' ich schweigend auseinander
Und leg' das Buch in seinen dunk'len Schoß.

Gedichte sind's! Ein Buch wie viele and're,
Mir aber zittert jede Zeile nach,
Gedichte sind's, in banger Zeit gesungen
Von einer Seele, die in Sehnsucht brach.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 56-57)
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Wie ein Rausch …

Wie ein Rausch ist deine Liebe,
Deine Küsse wie der Wein -
Trank ich mich an deinen Lippen
Selig satt, so schlaf ich ein.

Und dein Arm ist meine Wiege,
Heimlich singst du mir ein Lied,
Daß ein Glanz von Glück und Liebe
Noch durch meine Träume zieht.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 28)
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Schatten

Wie ging der Tag so hell zur Höhe,
Wie ruht er nun so müde aus!
Sein letzter Blick, sein letztes Leuchten
Umfängt mein grünumsponnen Haus.

Die Glocken heben an zu singen,
Sie haben heut' so wehen Klang!
Ich lehn' am Fenster, blaß und zitternd,
Und schau dir nach, den Weg entlang.

Dort an der Steinbank bleibst du stehen -
Ich weiß, woran dein Herze denkt!
Du träumst von einem Frühlingsabend,
Da wir den Schritt hierher gelenkt.

Die Lerche sang, die Veilchen blühten,
Du legtest still den Arm um mich,
Wir hatten Beide heimgefunden,
In sel'gem Frieden küsst ich dich! …

Geh' weiter! Reiß den Schritt vom Boden,
Wirf ab der alten Träume Last,
Du willst so gern es ja vergessen,
Daß du mich einst umfangen hast.

Du schwindest mir … der Weg geht nieder,
Die Stätte, da du stand'st, ist leer,
Mein bischen Glück trägst du im Ranzen -
Weiß Gott, es drückt nicht allzu schwer.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 31-32)
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Julinächte

Wie ich euch hasse, ihr Nächte voll Duft
Mit dem schweren, trunkenen Odem,
Mit der weichen, sehnsuchtsschwangeren Luft
Und dem schwülen, betäubenden Brodem!

Wo ihr ein eisames Herze wißt,
Da drängt ihr euch ein mit arger List,
Da lockt ihr und schmeichelt, droht und küßt,
Bis es verloren, verdorben ist.

Lieder, die die Sehnsucht sann,
Schleier, die die Sünde spann,
Blumen, die dem Sumpf entblühten,
Flammen, die im Abgrund glühten,

Bringt ihr mit als Hochzeitsgaben,
Schenkt ihr denen,
Die in Thränen
Euch sich hingegeben haben.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 90)
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Auf der Schwelle

Wie regt des Abends
Verliebter Hauch
So sanft die Wellen
Und Busch und Strauch,
Drückt weiche Falten
In mein Gewand
Und hebt mir schmeichelnd
Das Gürtelband.

Ein Gruß .. ein Seufzer ..
Ein heimlich Wehn -
Ward nichts gesprochen,
Ist nichts geschehn,
Und dennoch weiß ich
Zu dieser Frist,
Daß meine Stunde
Gekommen ist …

Durch meine Seele ein Ahnen geht,
Daß auf der Schwelle die Liebe steht!

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 70)
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Weiß Keiner den heimlichen Platz

Wie träumten wir selig, mein Schatz!
Es ruhte der See uns zu Füßen
Und blinkte, als wollt' er uns grüßen -
Weiß Keiner den heimlichen Platz!

Weiß Keiner, wie oft mir dein Mund
Das Wort von den Lippen genommen,
Weiß Keiner, wie Alles gekommen
Im blühenden, schweigenden Grund.

Der Sommer ist 'gangen, mein Schatz!
Das Glück brach der Sturm uns in Scherben,
Ich such' einen Winkel zum Sterben -
Weiß keiner den heimlichen Platz.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 44)
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Liebesruhe

Wie war ich erst so scheu und wild!
Und nun, so ganz Dir hingegeben,
Ist alle Unrast süß gestillt!

Ein Friedenshauch zieht durch mein Leben,
Wie über reifendem Gefild
Wohl schon die Ernteglocken schweben.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 11)
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Erinnerung

Wie wohl zur Abendzeit des Windes Welle
Noch einen Nachhall froher Lieder wiegt,
Und auf des Himmels schon umflorter Schwelle
Der Sonne letzte, rote Rose liegt,
So halte ich im innersten Gemüthe
Dein Wesen noch, und meine Seele neigt
Sich still vor der Erinnrung Wunderblüthe,
Die dieser Jahre bangem Schooß entsteigt.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H. (S. 43)
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Waldtragödie

Zwei Bäume standen im Wald,
Umsponnen von träumendem Schweigen,
Und strebten sehnend sich zu
Mit knospenden, schwankenden Zweigen.

Sie rauschten leis in der Nacht,
Sie winkten mit blühenden Büschen
Und kamen nie doch sich nah -
Der Hohlweg lag trennend dazwischen.

Ich hab' so oft, ach, so oft,
Im Wald vor den Bäumen gestanden
Und habe der Seelen gedacht,
Die suchend, sich nimmer doch fanden.

Nun brach ein zuckender Strahl
Dem einen die schwellenden Glieder,
Da riß er kraftvoll im Tod
Den glücklos Geliebten mit nieder.

Wie ruh'n so stille die Zwei,
Verschlungen im dämmernden Grunde -
Ein selig, hochzeitlich Lied
Klingt leis durch die blühende Runde.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 111-112)
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Seine Heimath

Zwei kleine Fenster, in's Grün geschmiegt,
Ein Strohdach, d'rüber die Sonne liegt
Und unter den Linden ein kühler Platz -
Das ist seine Heimath, da wohnt mein Schatz.

Sie sagen, da draußen in weiter Fern
Gäb's tausend Wunder, ich glaub's ja gern -
Mein' Seligkeit, meine Lust und Pein
Wohnt hinter den winzigen Fensterlein.

Aus: Gedichte von Anna Ritter
Leipzig Verlag von A. G. Liebeskind 1898 (S. 14)

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Biographie:

Anna Nuhn ging bereits sehr jung mit ihrem Vater, einem Exporthändler, nach New York City. 1869 kehrte sie nach Deutschland zurück und besuchte bis 1870 in Kassel die Schule. Danach ging sie für zwei Jahre auf das Herrnhuter Pensionat zu Montmirail in der französischen Schweiz. Sie kehrte nach der Ausbildung nach Kassel zurück und heiratete hier 1884 den späteren Regierungsrat Rudolf Ritter.

Gemeinsam mit ihm zog sie von Kassel zuerst nach Köln, später nach Berlin und Münster. Rudolf Ritter starb 1893 und sie zog nach Frankenhausen in Schwarzburg-Rudolstadt. 1898 veröffentlichte sie ihre erste Gedichtesammlung, eine weitere folgte 1900. Im gleichen Jahr wurde sie Mitarbeiterin der Zeitschrift Die Gartenlaube, die bereits vorher Gedichte von ihr veröffentlicht hatte. 1902 erschien ihre Novelle Margharita und später folgte noch ein Reisetagebuch. Das wohl bekannteste ihrer Gedichte ist Denkt euch, ich habe das Christkind geseh'n.

Aus: www.wikipedia.de

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Es ist das Gedicht der Gedichte, die Ode an Weihnachten. "Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen!" Es stammt von einer Frau, deren Vater aus Fritzlar stammt und die in Kassel gelebt hat. Anna Ritter (1865 bis 1921) ist in aller Munde, ohne dass irgend ein Mensch von ihr redet.

Vielen Generationen von Schulkindern war das Gedicht aus dem Schulbuch vertrauter Begleiter der Weihnachtszeit. Es wurde in der Schule auswendig gelernt und am Heiligen Abend unter dem Tannenbaum vorgetragen.

Anna Ritter, geb. Nuhn, kam 1865 in Coburg auf die Welt, wo die Familie wenige Jahre lebte. Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in Kassel. Der Vater, Eduard Nuhn, von Beruf Kaufmann, wurde 1830 in Fritzlar geboren. Er siedelte mit seiner Familie nach New York um, wo er ein Exportgeschäft betrieb. Als die Nuhns 1869 zurückkamen, kauften sie eine Villa auf dem Kasseler Möncheberg, auf dem Gelände des späteren Klinikums.

Hier verbrachte Anna ihre Jugend. In Kassel besuchte sie die höhere Töchterschule am Ständeplatz, war zwei Jahre in einem Herrenhuter Pensionat in der französischen Schweiz, kam zurück in die Heimat und wurde in die Kasseler Gesellschaft eingeführt.

Ihr Gedicht "Der erste Ball" knüpft an dieses Erlebnis an. Sie verlobte sich 1881 – gerade mal 16 Jahre alt – mit dem Referendar und späteren Regierungsrat Rudolf Ritter, den sie 1884 heiratete.

Der frühe Tod ihres Mannes traf die junge Frau und Mutter von drei Kindern hart. Es war ein Schicksalsschlag, von dem sie sich wohl nie erholte. Anna zog mit ihren Kindern nach Frankenhausen am Kyffhäuser. Dort entdeckte sie auch ihre lyrische Begabung. In ihrem Gedicht "An mein Talent" bringt sie dies selbst zum Ausdruck:

Du bist mein nachgeboren Kind!
Als einst das Glück aus meinem Leben
Hinweggezogen, hat es dich
Als letzte Freude mir gegeben.

In späteren Jahren erinnerte sie sich voll Wehmut an ihre Zeit in Kassel: "Ich hänge mit meinem ganzen Herzen an dem Hessenland, dort habe ich meine Kindheit verlebt, auf dem Möncheberg, hoch über dem Casseler Thal, dort hat mich die Liebe gegrüßt und das Glück, mein erstes Kind ist dort geboren, und der Kasseler Friedhof hütet die Gräber derer, die mir die liebsten auf Erden gewesen sind. So bin ich Hessin dem Gefühl nach."

Einer detektivischen Spurensuche bedarf es, um in alten Zeitschriften und Büchern über sie zu lesen. August Bollerhey aus Wehren hat diese Spuren in akribischer Sammlung zusammengetragen.

Als Lyrikerin hatte sie gleich nach Erscheinen ihres ersten Bandes "Gedichte" 1898 das Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Ungewöhnlich erfolgreich war Anna Ritter mit ihren Gedichten, die 1918 bereits in 30. Auflage erschienen. Auch der 1900 erschienene zweite Lyrikband "Befreiung" erfuhr Auflage über Auflage.

Anna Ritter wurde 1900 Redaktionsmitglied der "Gartenlaube" und zog später nach Marburg, wo sie am 31. Oktober 1921 verstarb.

Von HNA-Leserin Irmhild Georg aus Metze
Aus: http://kassellexikon.hna.de/Anna_Ritter

siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Ritter


 

 


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