Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Vinzenz von Rosenzweig 1838)



Als ich einst die Sure: »Nacht« beschauet,*
War es mir, als schaute ich dein Haar;
Als die Sure: »Morgen« mich erbauet,
Zeigte hold sich mir dein Wangenpaar;

Vers auf Vers, erreicht' ich nun die Stelle,
Die von zweier Bogen Nähe spricht,
Und die Brauen schaut' ich klar und helle,
Die sich wölben um dein Augenlicht;

Schärfer blickt' ich; - und der Stelle Wahrheit:
»Was dem Auge Glanz und Schimmer bringt«
Fand erläutert ich im Blick voll Klarheit,
Der das Herz mit Zauberlust durchdringt.

Nun durchdachte ich den Sinn der Worte:
»Lob sei dem, der durch die Himmel wallt!«
Und ich fand, er deute auf die Pforte,
Die uns führt zu deiner Rehgestalt;

Und der Ruf der durch die Erde schallte:
»Fromme, kommt in's ew'ge Freudenland!«
Schien dem trunk'nen Seelenohr, als hallte
Er von deines theuren Gaues Rand.

Wort für Wort las ich bei nächt'ger Weile
Auch die Sure die von Joseph spricht,
Und ein Stäubchen dünkte jede Zeile
Mir in deiner Schönheit Sonnenlicht.

Gott erschuf die Himmel durch sein Werde
Nur für dich
; diess wurde bald mir klar:
Denn es ist der Mensch auf dieser Erde
Nur ein Spielzeug für dein schönes Haar.

Was man uns belehrend hat verkündet
Von der grossen Eigenschaften Glanz,
War, als ich es forschend erst ergründet,
Deine eig'ne reine Sitte ganz.

Keine Ausflucht frommt und keine Lüge
An dem Tag, der Tag der Rechnung heisst:
Doch ich lobe Gott, dass es genüge,
Wenn dich schweigend mein Gemüthe preist.

* Die durchschossenen [hier: kursiv gesetzt] Worte und Stellen
dieses Gedichtes sind theils Aufschriften von Korans-Suren,
theils Stellen aus dem Koran und aus der Ueberlieferung
des Propheten, Hadissi nebewi genannt.
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