Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Vinzenz von Rosenzweig 1838)



Kennst du des Reigens* Sinn?
Gehorsam nicht verneinen**
Und, von sich selbst getrennt,
Dem Schöpfer sich vereinen.

Kennst du des Reigens Sinn?
Des Daseyns Lust vergessen,
Und im Vergänglichen
Das Ewige ermessen.

Kennst du des Reigens Sinn?
Bei seiner Liebe Streichen,
Das Haupt zum Ball umformt,
Nie von der Spielbahn weichen.

Kennst du des Reigens Sinn?
Stets mit sich selber kriegen,
Und, wunden Vögeln gleich,
Im Staub und Blute liegen.

Kennst du des Reigens Sinn?
Des alten Jacob's Schrecken
Und Joseph's Liebesduft
Bloss durch das Hemd entdecken.***

Kennst du des Reigens Sinn?
Die Moses-Ruthe schwingen,
Und Pharao's Zaubermacht
Dadurch zum Weichen bringen.

Kennst du des Reigens Sinn?
Mit Gott vertraulich leben
Und, ohne Führers Hand,
Die Engel überschweben.

Kennst du des Reigens Sinn?
Wie Tebris' helle Sonne,
Mit off'nem Herzensaug'
Das Licht schau'n heil'ger Wonne.


* Der bereits erwähnte Reigen der Derwische Mewlewi, deren Stifter unser Dichter ist; dieser Reigen gilt für die Nachahmung der Bewegungen der Sphären.
Dschelaleddin Rumi, der Urheber dieses Reigentanzes, der noch jetzt wöchentlich
zwei Mal, an Dienstagen und Freitagen, nach dem Mittagsgebete in dem Tekke oder Oratorium dieser Derwische ausgeführt wird, gibt selbst in seinen Werken mehrere Erklärungen desselben, wovon folgende zwei die vorzüglichsten sind. Bei Beschreibung eines Zirkels wendet man sich gegen alle Punkte, um daselbst Gott zu suchen, den man auf allen Seiten findet, weil er überall ist; dann deutet die stete Veränderung der Lage das Losreissen von weltlichen Gütern an, bei deren keinem man sich aufhält.

** Wörtlich: die Stimme des Wortes "Ja" hören.

*** Jacob hatte im Lande Canaan den Geruch des Hemdes seines theuren Joseph erkannt, der in Egypten war d.h. die ausserordentliche Feinheit und Zartheit seiner Liebe für diesen Sohn bewiesen.
 

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