"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"

Das Tagelied der Troubadours, der Minnesänger und anderer
 


Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abschied

 


Altfranzösisches Lied

Trouvere Gace

Seh ich des Tages erstes Roth,
Das haß' ich bittrer als den Tod,
Weil dann von mir zu scheiden droht
Mein Lieb', dem ich ergeben bin.
Drum haß' ich nichts so wie den Tag,
Weil dann mein Lieb nicht bleiben mag.

Ich kann ihn nicht am Tage sehn,
Ich fürchte sehr der Merker Spähn,
Die immer auf der Wache stehn;
Darauf bedacht ist all ihr Sinn.
Drum haß' ich nichts so wie den Tag,
Weil dann mein Lieb nicht bleiben mag.

Wenn ich in meinem Bette bin
Und schaue mir zur Seite hin,
Ach! nicht den Liebsten find' ich drin;
Den halten Neider fern von mir.
Drum haß' ich nichts so wie den Tag,
Weil dann mein Lieb nicht bleiben mag.

Mein süßer Freund, nun gehst du fort:
Sei Gott befohlen hier und dort.
Vergiß mich nicht, gib mir dein Wort.
Mehr hold als jemand bin ich dir.
Drum haß' ich nichts so wie den Tag,
Weil dann mein Lieb nicht bleiben mag.

Nun bitt' ich jeglich liebend Herz,
Dies Lied zu singen allerwärts.
Mach's auch den Neidern Gram und Schmerz
Und manchem Eifersücht'gen schier.
Drum haß' ich nichts so wie den Tag,
Weil dann mein Lieb nicht bleiben mag.

Übersetzt von Karl Bartsch (1832-1888)

Aus: Gesammelte Vorträge und Aufsätze
von Karl Bartsch
Freiburg i. B. und Tübingen 1883
(Aufsatz: Die romanischen und deutschen Tagelieder) (S. 262-263)

Das Original in:
Altfranzösische Lieder und Leiche
Aus Handschriften zu Bern und Neuenburg
Mit grammatischen und literarhistorischen Abhandlungen
von Wilhelm Wackernagel
Basel Schweighauserische Buchhandlung MDCCCXXXXVI [1846] (S. 9)
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