"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"

Das Tagelied der Troubadours, der Minnesänger und anderer
 


Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abschied

 


Christian von Hamle
(um 1225)


Tagelied

Wächter
Ich bin der, der Lieben liebe Märe singet
Und der Lieb zu Liebe oft in Sorgen bringet.
Was ich soll, erfüll' ich ihnen treulich gar.
Bring ich Lieb zu Liebe, freun sie sich fürwahr:
Sing ich dann von Scheiden, ungern nehmen sie das wahr.

Frau
Wächter, kannst du dich der Freude nicht erbarmen?
Meinen Herzgeliebten halt' ich in den Armen,
Den mit treuer Minne liebt das Herze mein,
Der mir helle Freude gibt für Sehnsuchtspein.
Wächter, hältst du für des Tages Roth des Mondes Schein?

Wächter
Leider, Frau, kann ich nicht was euch freute singen.
Gott der laß euch beiden alles wohl gelingen!
Klagen muß ich um den edeln süßen Mann.
Mir ist leid, soll ich ihm helfen nicht von dann.
Wohl ihm, der bei Freude sich vor Leide hüten kann.

Frau
Treue kündet was du sagst und Herzensgüte.
Drum komm von der Zinne; länger nicht mehr hüte!
Nicht zu klagen wagt' ich meinen Schmerz dir eh.
Weh dem trauten Mann und meinem Herzen weh!
Nimm mein Gold und hilf ihm hinnen, wie's auch mir ergeh!

Übersetzt von Karl Bartsch (1832-1888)

Aus: Gesammelte Vorträge und Aufsätze
von Karl Bartsch
Freiburg i. B. und Tübingen 1883
(Aufsatz: Die romanischen und deutschen Tagelieder) (S. 276)

Das Original in:
Minnesinger Deutsche Liederdichter
des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts,
aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken
gesammelt und berichtigt (...)
von Friedrich Heinrich von der Hagen
Erster Thel Leipzig 1838 Verlag von Joh. Ambr. Barth (S. 113-114)
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