Wolfram von Eschenbach
      (um 1170 - 1220)
      
      
      Wächterlied
      
      DER WÄCHTER:
      Seine Klauen 
      Schlägt er durch den Wolkenflor, 
      Aufsteigt er mit großer Kraft. 
      Seh ihn grauen 
      Täglich, wenn er steigt empor, 
      Der da bittre Trennung schafft,
      Und berauben will den Mann, 
      Den zum Lieb ich sorgend ließ. 
      Bring ihn doch von hinnen, wenn ich kann, 
      Da michs seine hohe Tugend hieß.
      
      
      DIE FRAU:
      Ach, du singest, 
      Wächter, was mir Freuden nimmt 
      Und vermehrt des Herzens Klage. 
      Kunde bringest 
      Du mir, die mein Herz verstimmt 
      Alle Morgen noch vor Tage. 
      Daß du lieber schwiegest gar, 
      Will ich bei der Treue dein, 
      Und ich lohns nach Kräften dir fürwahr, 
      Lässest du den Freund noch bei mir sein. 
      
      
      DER WÄCHTER:
      Nein, von hinnen 
      Muß er, und kein Säumen frommt, 
      Gieb ihm Urlaub, süßes Weib. 
      Laß ihn minnen, 
      Wenn er heimlich wiederkommt, 
      Daß er wahre Ehr und Leib. 
      Meiner Treu er trauen muß, 
      Ging er sicher sonst hindann? 
      Schon ist Tag! Nacht wars, als er dir Kuß 
      Und Umarmung heimlich abgewann.
      
      
      DIE FRAU:
      Nach Gefallen, 
      Wächter, sing, doch laß ihn hier,
      Minne bracht er und empfing. 
      Durch dein Schallen 
      Allzuoft erschraken wir, 
      Eh empor der Frühstern ging 
      Ihm, der her zur Minne kam, 
      Eh noch schien des Tages Licht. 
      Ach dein Ruf ihn gar zu oft entnahm 
      Weißem Arm, doch heißem Herzen nicht.
      
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      Von dem Scheine, 
      Der durchs Fenster drang so klar, 
      Und vor Wächters Warnungssang,
      Schrak die Reine 
      Seinethalb, der bei ihr war, 
      Und sein Herz an ihres zwang. 
      Und er schlang um sie den Arm 
      Bis ihn rief des Hornes Ton – 
      Urlaub nahm von ihr er voller Harm, 
      Kuß um Kuß ward ihm als Minnelohn.
      
      Nachgedichtet von Richard Zoozmann (1863-1934)
      
      Aus: Der Herrin ein Grüßen
      Deutsche Minnelieder
      aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
      ausgewählt und nachgedichtet
      von Richard Zoozmann
      Leipzig 1915 (S. 51-52)
      
      
      
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      Seine klauen durch die 
      wolken sind geschlagen,
      Er steiget auf mit grosser kraft,
      Ich seh ihn grauen täglich früh, wenn es will tagen,
      Den tag, der ihm gesellenschaft
      Entwenden will, dem werten mann,
      Den ich mit sorgen innen liess:
      Ich bring ihn hinnen, wenn ich kann,
      Da seine tugend mich das leisten hiess.
      
      "Wächter, du singest, was mir manche freude nimmt
      Und vermehret meine klage.
      Kunde du bringest, die mir leider nicht geziemt,
      Immer morgens vor dem tage.
      Das sollst du mir verschweigen hold,
      Gebiete ich den treuen dein
      Und lohn es dir mit gutem sold:
      So bleibet hier der trautgeselle mein."
      
      Er muss von hinnen heben ohne säumen sich,
      Nun gib ihm urlaub, süsses weib,
      Lass ihn minnen, hernach so verhehle dich,
      Dass er behalte ehr und leib.
      Er traute meiner treue ja,
      Dass ich ihn wieder brächt ins land,
      Es ist nun tag: nacht war es, da
      Mit druck an brust dein kuss ihn mir entwand.
      
      "Was dir gefalle, wächter, sing und lass den hier,
      Der minne gab und minne empfing,
      Von deinem schalle ist er und ich erschrocken schier,
      Noch nirgend morgenstern aufging
      Für ihn, der her nach minne ist kommen,
      Noch nirgend leuchtet tageslicht:
      Du hast ihn schmerzlich mir genommen
      Von blanken armen, aus dem herzen nicht."
      
      Von den blicken, die der tag tat durch das glas,
      Und da der wächter warnen sang,
      Musst furcht umstricken sie um den, der bei ihr sass.
      Ihr brüstelein an brust sie zwang,
      Der ritter keiner pflicht vergass,
      - Das wollt ihm wenden wächters ton -
      Nahnder urlaub süssres maass
      Mit kuss und anders gab an minnelohn.
      
      Nachgedichtet von 
      
      Friedrich Wolters (1876-1930)
      
      Aus: Minnelieder und Sprüche
      Übertragungen aus deutschen Minnesängern 
      des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
      Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 104-106)
      
      
      
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      Wächter und Fraue
      
      "Seine Klauen
      Schlug er durch den Wolkenflor;
      Er steigt herauf mit großer Kraft.
      Ich seh' ihn grauen
      Täglich, wenn er tagt empor,
      Den Tag, der süßer Minnehaft
      Berauben will den werthen Mann,
      Den ich hinein mit Sorgen ließ.
      Ich bring' ihn hinnen, wenn ich kann,
      Da seine Mannlichkeit mich's leisten hieß."
      
      "Wächter, du singest,
      Was mir Freude kehrt in Schmerz
      Und vermehrt mir Noth und Pein.
      Märe du bringest,
      Die mir wehe macht um's Herz
      Immerdar beim Morgenschein.
      Die sollst du mir verschweigen gar;
      Bei deiner Treue thu' es schnell.
      Das lohn' ich reich, bringt's nicht Gefahr,
      So bleibt im Arm mir noch mein Trautgesell."
      
      "Er muß doch hinnen
      Bald und gilt nicht Säumens mehr;
      Nun gieb ihm Urlaub, süßes Weib.
      Laß ihn minnen
      Heimlich, kommt er wieder her,
      Und wahren Leben, Ehr' und Leib.
      Er hat auf meine Treu' gedacht:
      Ich brächt' ihn ungekränkt hindann;
      Tag ist es nun; da war es Nacht,
      Als mir mit Gruß dein Kuß ihn abgewann."
      
      Nachgedichtet von 
      Wilhelm 
      Storck (1829-1905)
      
      Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
      von Wilhelm Storck
      Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 290-291)
      
      
      
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