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      Else Lasker-Schüler 
      (1869-1945) 
      Abschied  | 
      
      
      
          
      
         
        William Shakespeare (1564-1616) 
         
        Romeo und 
        Julia 
         
         
        FÜNFTE SZENE 
        
        
        Eine offene Galerie vor Juliens Zimmer mit Blick auf den 
        Garten  
        
         
        JULIA 
        Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern. 
        Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, 
        Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang; 
        Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort. 
        Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall. 
         
        ROMEO 
        Die Lerche wars, die Tagverkünderin, 
        Nicht Philomele; sieh den neidschen Streif, 
        Der dort im Ost der Frühe Wolken säumt. 
        Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt, 
        Der muntre Tag erklimmt die dunstgen Höhn; 
        Nur Eile rettet mich, Verzug ist Tod. 
         
        JULIA 
        Trau mir, das Licht ist nicht des Tages Licht, 
        Die Sonne hauchte dieses Luftbild aus, 
        Dein Fackelträger diese Nacht zu sein, 
        Dir auf dem Weg nach Mantua zu leuchten. 
        Drum bleibe noch; zu gehn ist noch nicht not. 
         
        ROMEO 
        Laß sie mich greifen, ja, laß sie mich töten! 
        Ich gebe gern mich drein, wenn du es willst. 
        Nein, jenes Grau ist nicht des Morgens Auge, 
        Der bleiche Abglanz nur von Cynthias Stirn. 
        Das ist auch nicht die Lerche, deren Schlag 
        Hoch über uns des Himmels Wölbung trifft. 
        Ich bleibe gern; zum Gehn bin ich verdrossen. 
        Willkommen, Tod, hat Julia dich beschlossen! - 
        Nun, Herz? Noch tagt es nicht, noch plaudern wir. 
         
        JULIA 
        Es tagt, es tagt! Auf, eile, fort von hier! 
        Es ist die Lerche, die so heiser singt 
        Und falsche Weisen, rauhen Mißton gurgelt. 
        Man sagt, der Lerche Harmonie sei süß; 
        Nicht diese: sie zerreißt die unsre ja. 
        Die Lerche, sagt man, wechselt mit der Kröte 
        Die Augen; möchte sie doch auch die Stimme! 
        Die Stimm ists ja, die Arm aus Arm uns schreckt, 
        Dich von mir jagt, da sie den Tag erweckt. 
        Stets hell und heller wirds: wir müssen scheiden. 
         
        ROMEO 
        Hell? Dunkler stets und dunkler unsre Leiden! 
        Die Wärterin kommt herein. 
         
        WÄRTERIN 
        Fräulein! 
         
        JULIA 
        Amme? 
         
        WÄRTERIN 
        Die gnädge Gräfin kommt in Eure Kammer; 
        Seid auf der Hut; schon regt man sich im Haus. 
        Wärterin ab. 
         
        JULIA 
        
        [das Fenster öffnend.]  
        
        Tag, schein herein, und Leben, flieh hinaus! 
         
        ROMEO 
        Ich steig hinab; laß dich noch einmal küssen! 
        Er steigt [aus dem Fenster] herab. 
         
        JULIA 
        
        [aus dem Fenster ihm nachsehend.]  
        
        Freund! Gatte! Trauter! Bist du mir entrissen? 
        Gib Nachricht jeden Tag, zu jeder Stunde; 
        Schon die Minut enthält der Tage viel. 
        Ach, so zu rechnen bin ich hoch in Jahren, 
        Eh meinen Romeo ich wiederseh. 
         
        ROMEO 
        
        [außerhalb.]  
        
        Leb wohl! Kein Mittel laß ich aus den Händen, 
        Um dir, du Liebe, meinen Gruß zu senden. 
         
        JULIA 
        O denkst du, daß wir je uns wiedersehn? 
         
        ROMEO 
        Ich zweifle nicht, und all dies Leiden dient 
        In Zukunft uns zu süßerem Geschwätz. 
         
        JULIA 
        O Gott, ich hab ein Unglück ahnend Herz, 
        Mir deucht, ich säh dich, da du unten bist, 
        Als lägst du tot in eines Grabes Tiefe. 
        Mein Auge trügt mich, oder du bist bleich. 
         
        ROMEO 
        So, Liebe, scheinst du meinen Augen auch. 
        Der Schmerz trinkt unser Blut. Leb wohl, leb wohl! 
        Ab. 
         
        JULIA 
        O Glück, ein jeder nennt dich unbeständig; 
        Wenn du es bist: was tust du mit dem Treuen? 
        Sei unbeständig. Glück! Dann hältst du ihn 
        Nicht lange, hoff ich, sendest ihn zurück. 
         
        
        übersetzt von Wilhelm Schlegel (1767-1845) 
         
        Aus: Shakespeares sämtliche Werke 
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