Heinrich von 
        Morungen
        (um 1225)
         
        
        Einmal und nicht wieder
        
        O weh!
        Wenn nimmermehr ich seh'
        Hell leuchten durch die Nacht
        Noch weißer als der Schnee
        Des Leibes holde Pracht!
        Der täuschte mein Gesicht,
        Als wenn das Mondenlicht -
        War mir's - aus Wolken bricht.
        Da kam der Tag.
        
        'O weh!
        Soll nicht hinfort er je
        Den Tag hier dämmern seh'n
        Und ohne Herzensweh
        Die Nacht uns hier vergeh'n?
        "O weh, der Morgen graut!"
        So seufzt' und klagt' er laut,
        Als jüngst wir uns geschaut.
        Da kam der Tag.'
        
        O weh!
        Sie küßte mich so viel,
        Als mich der Schlaf ergetzt,
        Und manche Thräne fiel
        Und weckte mich zuletzt.
        Ich sprach ihr Trost in's Herz,
        Bis sie vergaß den Schmerz
        Und mich umschlang mit Scherz.
        Da kam der Tag.
        
        'O weh!
        Wie sah er gar so oft
        Mich innig an und warm;
        Dann wollt' er unverhofft
        Beschau'n den bloßen Arm;
        Und ließ ich das gescheh'n:
        Nie konnt' er satt sich seh'n.
        Wie soll ich das versteh'n?
        Da kam der Tag.'
        
        Nachgedichtet von 
        
        Wilhelm Storck (1829-1905)
        
        Aus: Buch der Lieder aus der Minnezeit
        von Wilhelm Storck
        Münster Adolph Russell's Verlag 1872 (S. 263-264)
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        O weh, soll aber mir nimmer je
        Still leuchten durch die nacht
        Noch weisser denn ein schnee
        Ihr leib so wohl gemacht?
        Der trog die augen mein,
        Ich wähnte, es sollte sein
        Des lichten mondes schein,
        Da tagte der tag.
        
        "O weh, soll aber ihm nimmer je
        Der morgen so hier scheinen,
        Dass uns die nacht vergeh,
        Und wir nicht brauchen weinen?
        O weh, nun ist es tag,
        So seufzte seine klag,
        Als er jüngsten bei mir lag,
        Da tagte der tag."
        
        O weh, sie küsste ohne zahl
        In meinem schlafe mich,
        Da gossen hin zu tal
        Ihre tränen nieder sich.
        Ich sagt ihr tröstlich ding,
        Dass sie vom weinen ging
        Und mich allumbefing,
        Da tagte der tag.
        
        "O weh, dass er so inniglich
        In mich versunken war!
        Als er aufdeckte mich,
        So wollt er hüllen bar
        Meine arme schauen bloss,
        Es war ein wunder gross,
        Dass ihn das nie verdross,
        Da tagte der tag."
        
        
        Nachgedichtet von Friedrich 
        Wolters (1876-1930)
        
        Aus: Minnelieder und Sprüche
        Übertragungen aus deutschen Minnesängern 
        des XII. bis XIV. Jahrhunderts von
        Friedrich Wolters. Zweite Ausgabe Berlin 1922 Bei Georg Bondi (S. 51-52)
        
        
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      Tagelied
      
      Er
      O weh, soll mir nicht wieder je 
      Hell leuchten in der Nacht 
      So weiß wie frischer Schnee 
      Ihr Leib in lichter Pracht! 
      Der trog die Augen mein: 
      Ich wähnt, es sollte sein 
      Des lichten Mondes Schein, 
      Da tagt' es. 
      
      O weh, sie küsste sonder Zahl 
      Im Schlaf mich inniglich. 
      Da fielen hin zu Thal 
      Die Thränen über mich. 
      Ich tröstete sie lang: 
      Sie that den Augen Zwang, 
      Mich in die Arme schlang: 
      Da tagt' es.
      
      
      Sie
      O weh, daß ich ihn nimmer seh 
      Verweilen all den Morgen, 
      Wenn uns die Nacht vergeh, 
      Daß wir nicht dürfen sorgen. 
      O weh, der Tag ist da! 
      Wie gieng es ihm so nah, 
      Als er den Tag ersah: 
      Da tagt' es. 
      
      O weh, daß er so oft sich stahl 
      Zu mir beim Abendgraun; 
      So wollt er allemal 
      Meine bloßen Arme schaun. 
      Und fand die Bitte Statt, 
      So sah er nie sich satt, 
      Daß nichts gewundert hat. 
      Da tagt' es.
      
      Nachgedichtet von 
      Karl 
      Simrock (1802-1876)
      
      Aus: Lieder der Minnesinger von Karl Simrock
      R. L. Friedrichs Elberfeld 1857 (S. 98-99)
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