"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"

Das Tagelied der Troubadours, der Minnesänger und anderer
 


Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Abschied

 


Oswald von Wolkenstein
(um 1377 – 1445)


Tagelied

1.
Laß die Sorgen!
Dich verborgen
Hält mein Schutz.
Schließe nur die Aeuglein zu,
Wenig ist der Tag uns nutz,
Ihm zum Trutz!
Liebes Herz, noch ist es fruh.

All dein Trauern,
Und dein Lauern
Laß!
Muthiges Vertrauen faß!
Thust du das,
Bist du immer mein,
Liebes Mädchen, das soll sein.

2.
Sollst mich strafen,
Da verschlafen
Ich die Stund'!
Fort schon ist der Morgenstern.
Komm, du rosenrother Mund,
Mach' gesund
Alle meine Sehnsucht gern!

Köpfchen fromm,
Komm
An mein pochend Herz gesenkt!
Aermlein seien lieb verschränkt,
Scherzgelenkt
Ueben wir der Liebe Brauch.
"Liebster Mann, das wünsch' ich auch!"

3.
Schon das Graue
Hat der blaue
Tag entwandt,
Vogeltöne hör' ich viel:
Tag, wer hat nach dir gesandt?
Dein Gewand
Kleidet nicht der Liebe Spiel.

Deinen Preis
Rühm' ich leis,
Keckes Licht!
"Guten Tag, lieb Angesicht,
Weine nicht!
Meine Worte haben Eil',
Lebe wohl, dir wünsch' ich Heil."

übersetzt von Johannes Schrott (1824-1900)

Aus: Gedichte Oswald's von Wolkenstein
des letzten Minnesängers
Zum erstenmale in den
Versmaßen des Originals
übersetzt, ausgewählt, mit Einleitung
und Anmerkungen versehen
von Johannes Schrott
Stuttgart Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung 1886 (S. 88-89)
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