Liebeslieder der Völker (Volkslieder)

 



Kurdische Liebeslieder

 


XVIII. Dälilâo Amar lâo!

In dem Dorfe Kafsur war ein Liebespaar Ali und Aische; Ali traf das Los, Soldat zu werden, und man zog ihn ein. Die Geliebte beschreibt in dem Gedichte, durch welches Mittel es ihr gelungen sei, ihn vom Dienste zu befreien. - Dälilao ist Gesangmodulation, doch haben die beiden letzten Silben die Bedeutung Sohn; so nennt die Geliebte den Liebenden. - Ali wird durch das ganze Gedicht hindurch Amar genannt.

1 Dälilao, Amar! o Sohn, Wölkchen am heiteren Himmel! Aische ist vor den Obersten getreten, um den neu angekommenen Burschen loszubitten.
2 Die Karawane von Märdin ist gekommen; wer mir gute Botschaft von Amar bringt, dem gebe ich die Goldstücke meines Kopfputzes für die Botschaft.
3 Drei Reiter waren in der Rennbahn, die Pferde wurden grau vom Schwitzen, der Oberst legte dem Amar das Soldatenkleid an.
4 Jenes Märdin, das schöne Märdin; wenn einer den Amar freimacht, so gebe ich ihm Goldstücke mit der Wage, mag er sie sich nehmen.
5 Jenes Märdin liegt dort unten, Aische machte sich auf, trat vor den Oberst und sprach: "Oberst, ich begebe mich in deinen Schutz, lass Amar frei; lässest du ihn nicht frei, so werde ich ihn begleiten".
6 Der Oberst sprach zu ihr: "Zu dem grossen Gemach führen Stufen, ich lasse Amar nicht frei, er ist sehr tauglich zum Soldaten".
7 Aische ging zur Audienz, barfuss war sie; eine Turteltaube ist sie, der Hals eine Elle lang. Der Oberst sagte: "Ich will ihn freilassen, aber schlafe eine Nacht bei mir".
8 Sie sagte: "Oberst, es geht nicht, es geht nicht, diese Sache könnte schlimm werden; wenn du aber nicht anders willst, so mag es sein!"
9 Das Herz der Aische war bekümmert, sie machte sich auf und ging zum Obersten, eine Nacht schlief sie bei ihm, da liess er Amar von den Soldaten frei.
10 Jenes Märdin liegt dort unten, Aisches Kopf trägt einen Goldschmuck, die erste Nacht war sie für ihn.
11 Jenes Märdin hat viele Wege, Aisches Kleider sind von Seide, Amar war mit seiner Aische zufrieden.
(S. 69-70)
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XIX. Scheni

Scheni (syr. Tscheni, muslimischer und auch christlicher Männername) und seine Geliebte Sultane wohnten in Dschenata, einer Ruinenstadt nördlich von Dara. Das Lied wird der Geliebten in den Mund gelegt.

1 Scheni, das Thor unseres Hofes ist aus Marmor, eine Seite ist rot, die andere ist gelb; wer immer zwischen den beiden Herzen Unfrieden stiftet, gehört nicht zu der Gemeinde des Propheten.
2 Scheni, ich sah dich auf dem Begräbnisplatze, o du mit roter Jacke, ich gehöre dir; wenn meine Eltern mich dir geben, so wollen wir nach den Sängern schicken.
3 Scheni, der Regen kam platsch! platsch! Mein Geliebter ist in Nisibis wahrhaftig Reiter-Corporal; ich habe keinen Kummer, meine einzige Sorge sind die Amulette um seine Mütze.
4 Scheni, ich sah dich auf der Tenne, du wickeltest den Rosenkranz um den Dolch; Scheni, komm, lege deine Hand auf die Schnalle meines Gürtels.
5 Scheni habe ich im Hofe gesehen, als er aufbrach; er trug eine geblümte Kopfbinde; Scheni, komm, stecke deine Hand unter meinen Gürtel, zieh ihn mit vier Fingern hinunter.
6 Scheni, ich bin dein Plaudern nicht müde geworden; ich bin zum Verkauf gekommen, ergötze dich an der Lust der Welt.
7 Scheni, weshalb stehst du nicht auf? erhebst deinen Kopf nicht vom Kopfkissen? weshalb küssest du mein Gesicht nicht?
8 Scheni, mit Pulverhorn und Flinte stand Scheni auf dem Sieb*; Scheni warf sich an ihre Brust.
(S. 70-71)

* Dieses Bild ist vom Vogel genommen, der auf das grosse Getreidesieb fliegt und den andern wegtreibt; es bedeutet also: tapfer, kampfbereit hinzuspringen und den Nebenbuhler ausstechen.

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XX. Der Sang von Dono und Maimo

Ein junger Mann, namens Dono, von Diarbekr liebte ein Mädchen namens Maimo von Qeterbel (Quturbul bei Diarbekr). Der Vater wollte ihm das Mädchen nicht zur Frau geben; die Mutter wollte es. Als er einmal zur Nachtzeit nach Qeterbel gegangen war und an der Thüre des Hauses, in welchem seine Geliebte wohnte, lauschte, hörte er, wie ihr Vater sie schlug.

1 Vor dem Hofthore lauschte ich; ihr Vater schlug sie; die Mutter suchte zu vermitteln. Ich ging hin und holte sie mir. Sie war noch jung; ich aber zog sie auf. Ich verlangte einen Kuss von ihr; da schämte sie sich vor mir.
2 Jenes Diarbekr dort ist ein Pflugland; Maimo! auf! setze dich und lass die Locken frei herunterhängen! Die Küsse der Maimo verursachen mir Schmerz und Kummer.
3 Jenes Diarbekr liegt mitten in Oelbäumen. Der Gürtel der Maimo ist von Seidenstoff; das Gewand des Dono ist aus rotem Brokat. Dono und Maimo jedoch sind aus Kummer über die Welt abgezehrt geworden.
4 Jenes Diarbekr liegt an Quellen. Maimo! du bist zwar noch jung; aber dein Name ist mir teuer. Die Mutter der Maimo war gekommen und holte Maimo weg.
5 Jenes Diarbekr liegt mitten in grünem Grase. Die Mutter der Maimo kam, um Maimo zu holen. Der Vater der Maimo aber wollte sie nicht mehr [in sein Haus] aufnehmen.
6 Jenes Diarbekr liegt in Kümmerpflanzungen. Als Maimo [wieder nach Hause] kam, wurde sie von ihrem Vater gescholten, dass sie geflohen war.
7 Sie: Die Kopfbinde meines Geliebten hat sich aufgelöst; alle Welt belästigte ihn; derjenigen, welche seine Geliebte ist, wird das Herz versengt.
8 Er: Der Oberkörper meiner Geliebten misst eine Elle und eine Spanne. Ich vertraue sie weder der Hand der Lehrlinge, noch der Meister an. Nach Maimo nehme ich mir keine Freundin noch Geliebte mehr.
9 Ich will ein Zimmer von der Gestalt einer Eichel bauen; ich will eine Thüre anbringen nach unserem Herzenswunsch. Wenn ich Maimo nicht mehr sehe, so ist mir Sterben lieber, als mein jetziger Zustand.
10 Jenes Diarbekr liegt auf Hügeln. Der Rock der Maimo besteht aus Seidenstoff. Dono und Maimo begaben sich ins Audienzzimmer des Statthalters.
11 Maimo die Waise trägt eine Haarflechte. Dono, hehe! machte sich mit ihr zu schaffen*. Der Statthalter gab sie ihm zu Frau mit Gewalt**.
(S. 71-73)

* d. h. er machte ihr den Hof
** wörtl.: mit dem Stock der Gewalt, d. h. gegen den Willen ihrer Eltern.

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XXI. O Verwaiste!

1 O Verwaiste, ich habe dich in der Halle gesehen, du lehntest deinen Rücken an die Treppe, deine Küsse schmeckten süss wie Zucker, als sie meine Zunge trafen.
2 O Alleinstehende, Wort und Versprechen sind fällig geworden, Rose und Kamille sind mit einander aufgeblüht; die Fransen des Seidengürtels flattern rings um die Schlanken.
3 O Alleinstehende, ein weisses Kleid lege nicht an, zu Anfang des Winters würde es dir zu kalt sein; du hast mein Wort und ein Versprechen: ausser der Schlanken nehme ich mir keine Freundin und Gefährtin; wenn du dir nun mit den jungen Burschen des Dorfes zu schaffen machst, so bringt das über mich Leid, über dich aber Zorn.
4 Meine Geliebte ist klein und zierlich, sie gleicht dem Basilienkraut, das am Wasser steht; wir wollen in die Fremde gehen, ausser Gott weiss [dort] niemand, woher wir sind.
5 Wenn ich in die Fremde gegangen bin, so vergiss mich nicht; denke ich sei ein süsser Apfel, stecke ihn in deinen Busen; und so oft ich dir in den Sinn komme, nimm den Apfel heraus und drücke ihn an deine Lippen.
6 Sie: Der Geliebte ritt auf dem Füllen weg, er schlug den Weg zur Fremde ein; ich habe keine Sorge [um ihn], nur dass Krankheit sein Haar befallen könnte.
7 Er: Ein rotes Kleid lege nicht an, es steht dir nicht; was ist das Wort und das Versprechen, das du mir gegeben hast? Du kommst deinem Worte ja nicht nach; deinetwegen bin ich drei Jahre lang ins Unglück geraten; wenn ich dich nicht sehe, habe ich keine Ruhe.
8 Sie: Mach's nicht finster an der Luke! Er: Aus deinem Munde fallen Rosen, wenn du lachst; komm zu mir, ich will meine Hand auf deine Brust legen als auf mein rechtmässiges Eigentum.
9 Er: Ich hatte dich auf der Bank gesehen. Sie (zu den Leuten): Mein Geliebter ist gekommen, ihm steht der Tressenmantel, Gott wird unser beider Wunsch erfüllen.
10 Er: Ich hatte sie beim Nähen gesehen; möchte sie doch kommen, ein wenig bei mir sitzen. Die Schwiegermutter hat es gemerkt, sie gibt ihr Schläge.
11 Sie: Ich bin eine Rose, die eben aufgeblüht ist; über mich und meinen Geliebten hat man Klage geführt; wenn ich dich nicht sehe, brennt Feuer in meinem Herzen.
12 Welch ein Morgen ist das! ein kalter Morgen ist's; mach's nicht finster an der Luke. Er: Lege deine Hand in meine, wir wollen beim Anfang des Frühlings mit einander fliehen.
13 Ich werde sterben, du bist schuld daran; mein Grab möge im Hause deines Vaters sein; wenn du dann vorübergehst, so setze deinen Fuss auf mein Grab und sprich: hundert Gnaden seien über dir!
14 Sie (zur Schwiegermutter): Ein hoher Berg kann nicht ohne Wind sein, ein tiefes Thal kann nicht ohne Wasser sein, die Mädchen heutzutage, welche sieben Jahre und darüber alt sind und noch im väterlichen Hause wohnen, können nicht ohne Schatz und Liebhaber sein.
(S. 73-75)
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XXII. Gendsch

Gendsch, Schulze von Kereke, liebte ein Mädchen, namens Nure; dasselbe war aus Hafra (syr. Hafro).

1 Sie: Das Pferd meines Gendsch ist schwarz, auf der Landstrasse läuft es schnell; ich werde meinen Gendsch sehen, er ist sehr gut.
2 Meine Gestalt ist ganz klein; Messer und Schere hangen an ihr herunter. Ich hatte einen Geliebten, aber er hat sich zornig entfernt. Ich habe ein Wort zu ihm gesprochen, es fuhr mir heraus. Die Zunge bestand aus Fleisch; daher fehlte sie.
3 Das Pferd meines Gendsch ist braun, dazu hat es noch einen [schönen] Sattel und ein [schönes] Gebiss. O Gendsch, sprenge vorwärts! hier ist unser Haus; meine Brust soll dir als Lager dienen und meine Brüste als Kopfkissen; iss und trink! du hast genug daran.
4 Ich sah meinen Gendsch auf dem Filzsattel, er liess die Rosenkranzkügelchen paarweise [durch die Finger] gleiten. Einige sagen, er sei [wie] der Mond, andere, er sei wie die Sonne. Mein Freund ist allerliebst; er ist nun in Hafra. Wenn es sich hier nicht machen lässt, so fliehe ich mit ihm nach Kafärlo zu Hatscho.
5 Das verfluchte Hafra ist ein schöner alter Ort; hundert christliche Familien wohnen darin. Diejenige, deren Geliebter ein Christ ist, lebt doppelt.
6 Ich erblickte meinen Gendsch am Wasser; wie strahlte doch der schlanke! Ich will meinen Gendsch aus dem Hause seines Vaters entführen.
7 Ich erblickte meinen Gendsch auf der Gasse; möchte er mir zurufen und dadurch meinen Namen angesehen machen!
8 Ich erblickte meinen Gendsch oben auf der Laube; schaue seinen Rock und seinen Gürtel! Gendsch, du hörtest die Stimme der Nure gar nicht.
9 O Gendsch, komm her! Gendsch, komm her und gehe dann nicht wieder von unserem Hause weg! Seine Mütze ist ein Fez, Kopfbinden sind darum [gewickelt].
10 Gendsch, komm vor das Fenster! ziehe mich zu dir hinaus mit Gewalt! Bei Gott! Ich und mein Gendsch stimmen vollständig mit einander überein!
11 Das Pfeifenrohr meines Gendsch ist aus Jasmin; seine Hand war verwundet, er konnte es kaum halten; o Gendsch, ich gehöre dir, du bist der Herr.
12 Der Rock meines Gendsch ist aus Atlas. Gendsch kommt in unser Dorf ganz atemlos. O Gendsch, ich gehöre dir; entführe mich und nimm mich zu dir! es ist nun genug.
13 Das verfluchte Hafra liegt in steinigem Land, aber mein Gendsch ist gekommen wie das Feuer. Gendsch floh mit Nure und führte sie sich heim.
(S. 75-77)
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XXIII. Die Geliebte vom Galläpfelgebirge

1 Er: Die Mädchen unserer Ortschaft tragen alle bunte Röcke; ich will sie alle zusammenbringen und in ein Zimmer meines väterlichen Hauses sperren; ich will die Thüre zuschliessen, aber Luken und Fenster öffnen. Eine oder zwei von ihnen will ich für mich selbst auslesen und die übrigen unter meine Gefährten und Kameraden verteilen.
2 O du hochgewachsene! dein Wuchs ist schlank wie das Minaret von Märdin. Deine Brüste gleichen den Aepfeln des Baumgartens von Gurine, deine schwarzen glänzenden Augen gleichen den wilden Melonen von Gärharin. Deine Brust gleich dem Käse* der Hochlandkurden, welchen ein Mann auf die Wagschale legt, um ihn für sich abzuwägen.
3 Es ist Nacht, um mich ist Nacht. Vor dem Thore meines väterlichen Hauses ziehen Kaufleute mit Maultieren und Kamelen vorbei. Ich wollte, du wärest ein Apfel von Chalat und fielest in meine Busentasche; dann würde ich dieselbe über dir zusammenknüpfen. Wenn die Dorfleute und die Hausgenossen fragen: "Was ist das?", so will ich antworten: "Das ist wegen meines Liebesschmerzes".
4 Es ist Nacht und schwarze Finsternis; sie zerteilt sich nicht, auch regnet es nicht. Die Geliebte ging an der Thüre meines väterlichen Hauses vorbei; da legte ich meine Hand auf die Brust der Vierzehnjährigen. Sie konnte weder nach dieser noch nach jener Seite ausweichen.
5 Sie: Auf dem Dache meines väterlichen Hauses schaue nach mir aus! Wenn niemand da ist, so mache dann die Thüre auf! Aber [hier] knüpfe meine Brust und meinen Busen wieder zu, behandle mich wie dich selbst.
6 O! O! mein Geliebter! An der Thüre meines väterlichen Hauses ist er hin und hergegangen; er hat auf die Mädchen des Dorfes achtgegeben, welche Enten gleichen, die am frühen Morgen aus dem Weiher auffliegen. - Lege deine Hand auf meine Brust und meinen Busen! ich gleiche einem Füllen, das im Stalle gestriegelt worden ist.
(S. 78-79)

* Der kurdische Käse ist blendend weisser Ziegenkäse

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XXIV. Aischane

Das folgende Lied ist mit Ausnahme der letzten Strophe dem Geliebten in den Mund gelegt. - Aischane ist muslimischer Mädchenname und identisch mit Aische.

1 Dälele* Aischane, dälele Aischane! Der Berg ist hoch, ich sehe dich nicht; ich möchte mit meiner Hand über deinen Busen streichen, in der ganzen Welt finde ich nicht deinesgleichen.
2 Dälele Aischane, dälele Aischane! Ich will eine Laute mit vierzehn Griffen machen, ich will Saiten darauf ziehen wegen meiner Krankheit, wegen meines Schmerzes. Die schöne Frau für den hässlichen Mann, der schöne Mann für die hässliche Frau! nicht kommt's zum Totschlag, nicht kommt's zur Scheidung.
3 Dälele Aischane, dälele Aischane! Ich will eine Laute aus Schlangenknochen machen, ich will Saiten darauf ziehen von den Locken der Geliebten; ich will meinen Mund unter das den Ohrring tragende Ohr legen.
4 Dälele Aischane, dälele Aischane! Ich will eine Laute von Sperlingsknochen machen, ich will Saiten darauf ziehen von den Locken der Braut; jetzt will ich noch nicht heiraten, denn meine Freundin ist noch jung.
5 Dälele Aischane! Weh mir und meinem Herzen, weh mir und meinem Herzen! Du bist wie eine eben aufgeblühte Blume, aber deine Eltern sind zur Klage über mich und dich geschritten.
6 Sie: Lele, o weh mir! Lele, o weh mir! Ich lasse nicht von dir bis zum Todesröcheln, ich bin dieses Geschwätz nun müde geworden.
(S. 79-80)

* Blosse Gesangmodulation

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XXV. Der Kranich

Das Lied hat diese Überschrift, weil in der zweiten und vierten Strophe die Geliebte in Bezug auf Schönheit und schlanken Hals mit dem Kranich verglichen wird; der Kranich hält sich im Sommer im Hochlande auf, bei eintretender Kälte kehrt er in die Ebene zurück.

1 Ich sah dich vor dem Spinnrade, eine Handvoll Baumwolle auf dem Knie; ich winkte ihr, aber sie wollte durchaus nicht aufstehn; da zerfloss meine Seele wie [das Fett an] einem Bratspiesse voll Fleischstückchen.
2 Es kam der Kranich der Bergeshöhen und liess sich in der Ebene von Hallubije nieder; von der Schlanken wil ich nicht lassen, bis sie eine schwarze Kopfbinde um ihr Barett legt.
3 Ich sah dich am Fenster, Schlanke mit dem Entenhalse; o Seligkeit, da wir zusammen sassen, damals stahlen wir dem Himmel drei Tage.
4 Es kam der Kranich jener Särhad-Berge; ich fiel in die Hände der Frevlerinnen und wandte mich drei Tage lang nach allen Richtungen.
5 Ich sah dich an der Quelle, das Goldstück glänzte auf der Stirne, eilends schritt ich ihr entgegen.
6 Ich sah die Geliebte und wollte sie nicht kennen; weder Dorfleute noch Hausleute fragte ich [nach ihr]; ich habe die Verfluchte nicht geküsst.
7 Die Vorderseite und die Rückseite unseres Hauses liegt mitten unter Taobäumen; auf diese hatte sich ein Rebhühnerpaar niedergelassen, aber meine Freundschaft mit der Verfluchten war Trug.
(S. 79-81)
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XXVII. Merame

Merame, d. i. Mirjam, Maria, war der Name eines Mädchens in Marbaba, ihr Geliebter hiess Hanna, beide waren Christen. Schaker Aga aus Tell Dschehan und Abbas Aga aus Tell esch-scha'ir führten das Mädchen gegen seinen Willen weg, um dasselbe zu verheiraten. Die Jakobiten einer Anzahl umliegender Ortschaften vereinigten sich unter dem Scheich Maqsi Dänho und nahmen es den beiden Herren wieder ab. Dieses Ereignis fällt in das Jahr 1863. - Hanna befindet sich bei Beginn des Liedes in düsterer Stimmung; die Geliebte ist zwar noch in ihrem väterlichen Hause, aber die Wegführung durch die beiden Agas steht unmittelbar bevor, man munkelt schon davon im Dorfe.

1 Merame! Merame! Merame! Nacht ist's, über mir ist Nacht; Nacht ist's, über mir ist Nacht. Steh auf, nimm unser Lager in die Höhe und lege es auf das Hausdach über dem Zimmer, die [Betten der] Dörfler und andern Leute aber packe zusammen, und komm, an meinem Busen zu ruhen, so will ich denselben über dir zuknüpfen; die Pest aber möge das Haus Schaker Agas und Abbas Agas befallen, denn sie liessen nicht zu, dass ich sagen konnte: diese ist meine Geliebte.
2 Merame! Merame! Von Kirche zu Kirche [bin ich gegangen], da brach der Tag in der Gegend des Glückes an; an der Schlanken aber sind Schere und Messer hinabgeglitten; Merame, komm hieher, weshalb wagst du es nicht?
3 Merame! Wind vom Särhad ist über uns gekommen, er brauste. Wie strahlte doch die Schlanke mit der Kopfbinde von hamudischem Muselin! Möchtest du doch, wenn ich das Pfeifenrohr aus Jasmin in die Hand nehme, um mir den Rauch der Pfeife um den Kopf zu blasen, mir dann gegenüber sitzen! doch deine Küsse sind der Seufzer meines Herzens.
4 Sie: Mein Geliebter sass in dem Zimmer meines väterlichen Hauses, sein Oberkleid war weiss, seine Schuhe waren rot und eng anschliessend; er wollte die Treppe hinuntergehen, aber die Schuhe waren mit Eisen beschlagen, da glitt er aus, und das Kleid meines Geliebten bekam einen Flecken von der Grösse eines Zwanzigpfennigstückes.
5 Ich zog meinem Geliebten das Kleid aus und brachte es zum Wasser von Diarbekr, welches vor der Burg von Hasan Kef vorüberfliesst; aber das Wasser war trübe, da mochte ich das Kleid nicht waschen, sondern brachte es zum Wasser, welches reichlich fliesst; jedoch auch hier wusch ich es nicht, denn es waren Kieselsteine darin.
6 Die Umgebung von Tell Schahem liegt in Mandelbäumen, ich ging zum Wasser von Seliva; wie ich aber hinschaute, da wusch ich nicht, denn dort waren Spuren von Büffeln.
7 Mein Geliebter ist mir teuer, so ging ich weiter nach Çaur; aber auch hier gefiel's mir nicht, und ich wusch nicht, denn da schwammen Nussblätter.
8 Nun ging ich zum Wasser des Euphrat, ja wahrhaftig, jedoch die Leute sagten: wasche hier nicht, das wäre Frevel.
9 Ich sagte: Hollah! Hollah! und kam zur Nussquelle nach Märdin; das Wasser war rein, ein Krahn zur Hand, ich drehte - aber da waren Spuren vom Munde der Grindköpfe, da mochte ich nicht waschen.
10 Wie weit bin ich herumgezogen, ohne dass mich jemand bemerkte; endlich wandte ich mich zum Wasser von Nisibis, hier floss reines Wasser, da wusch ich in Nisibis.
11 Vorsichtig zog er sein Oberkleid an; ich bin ihm nun vom Schicksal zugeteilt. - Der Mann hat Merame heimgeführt, Dschirdschi ist von dort gekommen, Aber er hat nichts bekommen.
Andere Recension von Strophe 11:
Vorsichtig habe ich das Kleid meines Geliebten ins Wasser gelegt und gewaschen, ich gehöre ihm nun an, er hat mich zu sich genommen.
(S. 84-87)
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XLVIII. Die Gazelle

Vorbemerkung: Chasale ("die Gazelle") war die Frau des Dichters. Muhammed Ali Pascha von Bagdad hatte sie ihrem Manne, während derselbe von Hause abwesend war, entführt. Jener Pascha soll "vor 150 Jahren" gelebt haben. - Das Gedicht ist jedenfalls nicht ganz jung, wahrscheinlich jedoch stark verkürzt; auch steht nicht fest, dass die Strophen in der ursprünglichen Reihenfolge überliefert sind.

1 Von Statur gleicht meine Gazelle einem Minaret; unter Anrufung Gottes bin ich auf dasselbe gestiegen und wohlbehalten wieder hinuntergekommen. Ich kann sie mit ihren glänzenden Augen nicht aufgeben, bis über meiner Brust sich das Geräusch der kleinen Axt Habibs des Tischlers hören lässt. - O du schlimme Gazelle, du süsse und reizende! deine Füsse stecken in Pantoffeln; um die Taille trägst du einen Gürtel; an den Beinen Spangen. Ich gebe mich ihr hin, deren Kehle . . . . , deren Gesicht tätowirt, deren Mund und Lippen von Zucker sind; heute bin ich unterworfen ihrer schönen Gestalt.
2 Meine Gazelle hat sich unter die Mädchen (?) des Dorfes begeben. Ich habe dreimal Freiwerber in das Haus ihres Vaters geschickt; aber er hat sie mir nicht geben wollen. O ihr Dorfbewohner! tadelt mich um die Gazelle nicht; meine Geliebte im Hause ihres Vaters ist stolz. - O du schlimme Gazelle! deine Füsse stecken in Pantoffeln; um die Taille trägst du einen Gürtel, an den Beinen Spangen, am Halse eine Kette von Gold. Ich gebe mich ihr zu eigen, deren Kehle . . . . ., deren Gesicht tätowirt, deren Mund und Lippen von Zucker sind; ich unterwerfe mich ihrer schönen Gestalt.
3 Meine Gazelle hat sich an den Rand des grossen Teiches begeben. Einmal weide ich; das andere mal laufe ich. Am Abend bin ich freundlos in euerem Dorfe; am anderen Tage früh mache ich Jagd auf die Schönen. - O du schlimme Gazelle! du süsse und reizende! Ich gebe mich ihr hin, deren Kehle . . . . . ist; ich hänge mich an den Hals derjenigen, deren Mund und Lippen von Zucker sind.
4 Meine Gazelle hat sich auf die Dachterrasse begeben. Meine Schervan haben ihre grossen und kleinen Siebe in die Ebene Qira . . . . . mit fortgenommen. O ihr Dorfbewohner! tadelt meine Gazelle nicht! die Augen meiner Gazelle sind von Natur schwarz; ich brauche ihr nicht Morgens und Abends eine schwere Last [Augenschminke] zu bringen. - O du schlimme Gazelle! du süsse und reizende! deine Füsse stecken in Pantoffeln; um die Taille trägst du einen Gürtel. Ich gebe mich ihr hin, deren Kehle . . . . ., deren Gesicht tätowirt ist; ich hänge an ihrem Halse, an ihrem Munde und an ihren Lippen von Zucker.
5 Auf dem Gebirge Sindschar wachsen Bäume und Weiden. Die Soldaten des Muhammed Ali Pascha bestehen alle aus Vornehmen und Herren. O Muhammed Ali Pascha! ich flehe dich an; lass doch meine Gazelle frei, denn ihre Lämmer sind hungrig. - O du schlimme Gazelle! du schöne und liebliche, du lustige und reizende, du frische und zarte! O hätte ich das Genick gebrochen und den Hals verrenkt und hätte nicht die . . . . . .  Flinte ergriffen und wäre ich doch nicht von Hause weggegangen!
6 Das Gebirge Sindschar liegt dem Hochland gegenüber. Unter den Soldaten des Muhammed Ali Pascha sind Goran-Kurden. O Muhammed Ali Pascha! ich flehe dich an: lass meine Gazelle frei; denn es sind ja im Hause Lämmer, welche Milch trinken.
7 Das Gebirge Sindschar ist gekrümmt. Die Soldaten des Muhammed Ali Pascha wie verschieden sind sie untereinander! Gott zerstöre das Haus Muhammed Ali Pascha! Er hat meine Gazelle eingefangen und sie zwischen sich und seinen Pelz versteckt.
(S. 264-265)
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Aus: Kurdische Sammlungen Erzählungen und Lieder
in den Dialekten des Tur 'Abdin und von Bohtan
Gesammelt, herausgegeben und übersetzt von
Eugen Prym [1843-1913] und Albert Socin [1844-1899]
B. Übersetzung
St. Petersburg 1890


 


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