Liebeslieder der Völker (Volkslieder)

 


Neuaramäische Liebeslieder



1.
Sie war hinter meiner Mauer vorbeigegangen,
hatte das Geräusch meines Webebalkens gehört;
mein Gewebe hat sie gern.*
(S. 283)

* Nach einer anderen Übersetzung: "meine Veilchen ..."

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2.
Er webt in der Hütte,
sein Dolch ist zur Hälfte gezückt;
er ist böse und sein Herz ist gegen mich.
(S. 283)
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3.
Er ist böse, gehet und besänftiget ihn,
bekleidet ihn mit einer weinfarbigen Jacke,
setzet ihn zu seiner Geliebten.
(S. 284)
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4.
Wer ist da gegangen?
ihr Hals wird von ihrer Schulter straffgezogen;
ihre Augen sind Falken (Eulen)augen.
(S. 284)
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5.
Sie spinnt in Charchir
und weint gar bitterlich
und sagt: "Mein Schatz ist gar nicht hübsch!"
(S. 284)
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6.
Sie steigt den Bergpass hinauf
und spinnt karmesinrote [Wolle] an der Spindel;
ihr Geliebter steht still und sieht ihr nach.
(S. 284)
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7.
Sie kocht Bohnen,
ihre Locken sind über ihre Augen gekämmt (?),
ihr Geliebter kam heran und bringt sie in Unordnung.
(S. 284)
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8.
Ich sah sie von unten kommen,
ihr Gürtel war wie ein Radiesblatt,
ich küsste sie, da setzte sie sich hin und weinte.
(S. 285)
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9.
Sie reibt meine Finger,
dass mir das Blut hinter den Nägeln hervorläuft.
Wie ein Edelfräulein sieht mein Mädchen (?) [aus].
(S. 285)
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10.
Heute wollen wir Stockschläge geben
und Blut hinter den Nägeln hervorspritzen lassen
und fluchen dem Vater der Schwiegermutter,
wenn sie uns nicht ein Huhn bringt.
(S. 285)
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11.
Ha! da ist sie auf der Mauer der Höhle,
ihr Überwurf ist krapprot gefärbt,
den breitete sie aus unter mir und sich.
(S. 285)
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12.
Da steht sie auf dem Dächlein,
ihr Auge ist auf ihren Geliebten geheftet,
sie sehnt sich nach ihm; das ist nichts Sündhaftes.
(S. 285)
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13.
Eine Trägerin eines roten Hemdes – –
ich bat sie, ihr einen Kuss geben zu dürfen
zwischen der Kehle und dem Kehlkopfe.
(S. 285)
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14.
Sie spinnt in einer Ruine
und zieht viele Fäden in die Höhe.
Die Freier sind zu ihr gekommen.
(S. 286)
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15.
Ich gehe, um mich bei meiner Mutter zu beklagen:
auf der Strasse sprichst du mit mir!
meine Freundinnen machen noch meinen Namen schlecht! -
Du willst mich auf den Mund küssen.
(S. 286)
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16.
Ich gehe, um mich bei meiner Schwester zu beklagen,
dass du mir meine Finger zerknittertest,
dass du mir Locken abschnittest,
meine Freundinnen machen noch meinen Namen schlecht.
(S. 286)
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17.
Ich gehe hin, um sie zu sehen,
jenes Haupt am Busen der Mutter;
einen Kuss auf jenen Mund!
(S. 286)
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18.
Einen Kuss und zwei auf Borg,
auf dass ich ruhig weggehen und wiederkommen kann!
Schminke will ich für ihre Augen bringen.
(S. 286)
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19.
Schwarze Schminke aus Ispahan,
selbst im Jahre der Teuerung gebracht;
nicht um meine Seele wollte ich dich weggeben.
(S. 286)
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20.
Alt bin ich geworden und [krumm wie] ein Krebs,
ich tauge nicht mehr zum Heiraten;
Mutter! bereite mir ein Heilmittel.
(S. 287)
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21.
Alt bin ich geworden und krumm wie ein Igel,
ich tauge nicht mehr zum Arbeiten;
Vater, verheirate mich schnell!
(S. 287)
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22.
Die Tochter des Pfarrers hat mich gern,
sie will mir auch ein Schloss bauen,
dann wollen wir uns beide.
(S. 287)
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23.
Sie kamen herunter [geschmückt] mit roten Blumen,
sie traten vor, die Halskettenträgerinnen;
sie alle wollen Haselnüsse.
(S. 287)
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24.
Ich ziehe weg und will wandern,
gieb mir eine Locke von dir,
ich will sie um den Griff meines Dolches wickeln,
damit ich an dich denke, und du mir in den Sinn kommst.
(S. 287)
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25.
Ich bin zu ihnen gegangen,
zu ihren zwei Nelkentöpfen,
ich bat um einen von ihnen,
ich wollte ihr Eidam werden.
(S. 287)
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26.
Zwei Tauben kamen aus Arbela,
sprachen kurdisch und arabisch,
unsere Sprache verstanden sie nicht. (S. 288)
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27.
Zwei Gänseriche waren in einem Neste,
der eine sagte zum andern:
"Freund, ich liebe deine Schwester."
(S. 288)
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28.
Ich schwöre dir bei gesiebten Perlen
und bei den hundert und zwanzig Aposteln,
dass ich beim Tanze nicht seine Hand anfasste.
(S. 288)
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29.
Und wenn ich [sie] anfasste, was thut's?
Es war ja mein Freund und mein Vetter,
möglich, dass er auch mein Geliebter war.
(S. 288)
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30.
Die Trägerin eines wachsgelben Hemdes
machte mich glücklich;
sie klopfte mit ihrer Hand auf meine Brust.
(S. 288)
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31.
Eines Jahres fiel Schnee
und versperrte den Weg nach Marga;
da traf ich sie und führte sie mitten durch (?).
(S. 288)
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32.
Sie ist auf den unteren Tennen,
sie trägt eine Kette von Baghdâje,*
ich liebe sie, dass ich dich, Mutter, für sie hingeben möchte.
(S. 289)

* Das sollen österreichische oder russische Münzen sein.

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33.
Eine Sonne ist sie und ein Vollmond,
sie streckte ihre Hand nach meiner Brust aus;
ich mass sie – sie kam meinem Wuchse [gleich].
(S. 289)
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34.
Eine Sonne ist sie, ein leuchtender [Mond],
sie streckte ihre Hand nach meinen Hüften aus;
sie dachte (gedachte?), meinen Gürtel zu lösen.
(S. 289)
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35.
Sie kocht Somaq,
der Gürtel glänzt an ihren Lenden,
die Blauäugige hat mir den Tod gebracht.
(S. 289)
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36.
Sie sitzt in der Wächterhütte,
in ihrer Nase steckt ein Nasenring,
nach ihr wurde ich wie besessen.
(S. 289)
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37.
Sie steht an den Taubenschlägen,
um ihren Hals sind Perlenschnüre,
ich bin [beinahe] tot vor Seufzern.
(S. 289)
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38.
Sie steht an den Taubenschlägen,
um ihren Hals sind Perlen und buntfarbige [Steine?],
und ich bitte flehentlich um sie.
(S. 289)
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39.
Sie hatte Siegelringe von Kupfer,
die hatte er genommen und in die Tasche gelegt;
[sie sagt:] Ich will in die Welt ziehen, um ihn zu suchen,
nicht anders (?), bis ich bei ihm liege.
(S. 290)
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40.
Sie läuft über die Tennen,
barfuss, ohne Schuhe,
schade, dass sie noch keine Schwiegermutter hat.
(S. 290)
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41.
Ein Kessel voll Fleischsuppe – –
so viel sie auch feuern mögen, sie wird nicht heiss.
Alle haben sich schon verheiratet, nur wir sind zurückgeblieben.
(S. 290)
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42.
Sie läuft nach frischem Futter,
ihr Haar ist hinten geflochten,
sie verbrannte die Eingeweide ihres Herrn.
(S. 290)
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43.
Ein Ackerland, mit Gerste besäet,
auf jedem Teile zwölf Schnitter;
rufet die Kleine, damit sie einsammle.
(S. 290)
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44.
Ein Ackerland, mit Weizen besäet;
ihre Finger sind weiss und kurz,
ihr Schleier ist mit Punkten gemustert,
ihre blauen Augen funkeln.
(S. 290)
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45.
Sie steigt hinauf auf den Düngerhaufen,
ihre blauen Augen hatte sie geschminkt,
hatte die Burschen vom Tanze abgelenkt.
(S. 291)
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46.
Wer ist da gekommen? –
sie ist ins Haus ihres Geliebten getreten;
ich küsste sie, da setzte sie sich hin und weinte.
(S. 291)
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47.
Sie weinte gar bitterlich.
Sie sagte, ihr Geliebter wäre nicht schön,
grindig wäre er, und sein Haar sei ihm ausgefallen.
(S. 291)
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48.
Sie sitzt im Winkel.
Ein Storch pickte da ein Weizenkörnchen auf,
ich küsse sie, das ist ja keine Sünde.
(S. 291)
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49.
Da ist sie hinter der Thür,
ihre Brust ist weiss wie Sahne,
ich küsse sie, da sagt sie: "Es thut weh."
(S.291)
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50.
Der Mond ist bereits bis zur Mitte des Firmaments hinaufgestiegen;
wecke sie – sie schläft [schon lange] genug;
es ist Zeit zur Trauung.
(S. 291)
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51.
Bis hundertmal wollen wir auf den Boden stampfen,
die Dolche wollen wir in die Thüre stossen.
Unser Feind wird [darob] Bauchweh bekommen.
(S. 291)
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52.
Da ist sie auf der Spitze des Hügels,
ihr seidenes Tuch ist vom Knie herabgeglitten;
rufet ihren Geliebten, damit er es annähe (?).
(S. 292)
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53.
Sie steht an der Wächterhütte,
in ihrer Nase steckt ein Nasenring,
Mutter, suche mir ein Heilmittel,
ich bin schon tot und in die Hölle gefahren.
(S. 292)
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54.
Sie zieht Eimer hinauf,
in ihrer Freude hat sie die Pantoffel vergessen,
sie ist gut zum Scherzen.
(S. 292)
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55.
Gott! meine Seite thut mir weh,
die Schnalle meines Gürtels ist in sie eingedrungen (?),
und dann zerbrach ich sie aus Wut;
in der Nacht wird es mein Gebieter merken.
(S. 292)
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56.
Was ist doch dieser Oktober für ein [schöner] Oktober,
dieser Monat ist das Haupt unter den Monaten!
In ihm hecken die Vögel;
doch mein Geliebter weint auf dem Dache.
(S. 292)
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57.
Rufet, lasst uns rufen: O Gott!
an dem Feste des Mâri Abraha;
es ist bereits spät und keine Zeit mehr da,
saget, aus welchem Grunde
ihr mir jetzt eure Tochter nicht gebet.
(S. 292)
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58.
An dem Feste, an dem ich mich nicht fein machte,
sondern das Alltagskleid trug. – –
Wie süss ist er doch, und wie passt er zu mir!
seinetwegen liebt mich meine Freundin.
(S. 293)
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59.
Am Johannisabend stellte sie sich hin;
rufet ihren Geliebten, dass er sie befriedige
und ihr gebe, was sie will.
(S. 293)
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60.
In einer Nacht tiefschwarzer Finsternis
hörte ich, dass mein Geliebter schlafe,
man hatte ihm seinen Mantel ausgezogen.
(S. 293)
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61.
Sie kochte Kubebe,
da versetzte sie ihrem Geliebten einen Schlag (?). – –
Seine Augen heftete er auf mich,
er stand still da und blickte auf mich.
(S. 293)
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62.
In diesem Blicke steckte Liebe,
er schickte eine Anfrage nach Hause
und mit der Anfrage Schmucksachen.
In derselben Stunde, wo mein Vater und meine Mutter
ihre Einwilligung gaben
und sich schliesslich nicht mehr weigerten (?),
lagen wir schon auf dem Polster
und umarmten einander in Liebe.
(S. 293)
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63.
In der Liebe, mit der ich sie liebte. – –
Sie schwor und versicherte mir,
dass, wenn sie lebt, sie mir gehören wird;
als sie das aber bei meinem Onkel erfuhren,
da wollten sie mich davon zurückhalten,
aber die Liebe lässt mich nicht los;
ich trennte mich (nicht?) von ihnen.
(S. 293-294)
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64.
Eines Jahres kam und legte sich zur Ruhe
meine Geliebte; sie war krank. Als sie dalag,
liess sie mich ihrer Liebe teilhaftig werden.
(S. 294)
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65.
Sie ist klein und ist [wie] nichts,
sie ist [wie] ein Granatapfelkernchen;
thue sie in einen Becher und schlucke sie hinunter.
(S. 294)
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66.
Er schluckte sie hinunter, da rief sie ihm zu: "Wohl bekomm's!"
Sie warf ihm einen Granatapfel zu,
der war aber sauer, und er ass ihn nicht,
sondern stopfte ihn der Mutter in den Mund.
(S. 294)
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67.
Als sie ihn erblickte,
winkte sie ihm mit dem rechten Auge zu
und begann ihn so sehr zu ermahnen,
dass er seinem Versprechen treu bleibe.
Sie gab ihm auch ein Andenken von sich,
und was er auch sonst wünscht, will sie ihm geben,
nur dass er dabei bleibe, dass sie ihm gehören soll.
Gar sehr verliebte sie sich in ihn,
sie nahm ihre Kette ab und gab sie ihm.
(S. 294-295)
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68.
Auch in einer Freitagsnacht
öffnete ich ihre Thür mit einer Schaufel (?),
da sah ich meine Geliebte sitzen
und ihre Mutter auf dem Polster schlafen.
Ich setzte mich an ihre Seite auf das Lager
und gab ihr einen Kuss;
da sagte sie zu mir: "Meine Mutter wacht noch auf!";
da küsste ich sie noch einmal
zwischen der Kehle und dem Kehlkopfe.
(S. 295)
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69.
An einem Mittwoch ging ich
stracks nach dem Hause ihres Vaters,
da sass die Kleine am Spinnrade.
(S. 295)
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70.
Vor dem Thor des Davischa
stand die ganze Sippe voller Erregung,
vor dem Hause ihres Vaters gab es einen Aufruhr.
(S. 295)
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71.
Sie tobten wegen des Geredes,
das sie aus Batnae vernommen hatten,
(dass sie Mittag gebracht hatten).
Und als die Mutter das hörte,
brachte sie die Kette mit den Münzen heraus.
Sie sagte: "Ich liebe ihn, Mutter, dass ich dich für ihn hingeben möchte".
(S. 295-296)
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72.
Am Feste des Mar Jochannan
waren wir alle mit [zu?] ihr gegangen,
nachdem wir unsere Gewänder angezogen hatten.
Als sie uns erblickte,
winkte sie mit dem Auge, und wir blieben stehen,
da teilte sie uns mit,
was ihre Mutter uns hatte sagen lassen. –
(S. 296)
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73.
Sie liess uns sagen: "Ich bin damit einverstanden,
denn sie sind die Angehörigen meines Oheims."
Sie kam dann an mich heran und sprach zu mir:
"Mein Geliebter passt mir nicht,
doch du passtest mir [schon früher]." –
"So will ich mich denn hinbegeben
direkt in das Haus meines Oheims.
Doch du gieb mir ein Andenken,
da es aus deiner Hand ist, wird es mich beruhigen;
jetzt geht die Angelegenheit mich an."
(S. 296)
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74.
Er worfelt auf der Tenne
und hebt die Worfschaufel hoch;
das Herz der Kleinen ist entbrannt, –
sie trägt einen Goldmünzenbesatz –
sie sagt: "Mutter, ich liebe ihn –
seine Figur gleicht Solitärs;
befreie mich von diesen Leiden,
mein Herz ist entbrannt zu ihm."
(S. 296)
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75.
Er stand an der Einfassungsmauer des Teiches,
da spannte er seinen Mantel als Zeltdach aus,
aus Furcht, dass die Kleine schwarz würde.
Er steckte die Hand [in die Tasche] und gab ihr Geld,
dann küsste er sie auf den Mund,
das erzählte sie ihrer Mutter.
(S. 297)
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76.
Und die Mutter sprach so zu ihr
und gab ihr viele Ermahnungen,
dass sie den liebe, der ihr passe.
(S. 297)
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77.
Wer ist sie, wer?
ihr Schleier ist von Mani, Mani,*
als stammte sie aus dem Hause des Abdelghani;
sie sagte: der und der passt mir.
(S. 297)

* Art Muster

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78.
Als sie an unserer Hintermauer war,
da setzten wir unsere Hoffnung auf sie.
(S. 297)
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79.
Sie läuft ans Schöpfrad,
sie sagte mir, sie hätte keinen Vater mehr;
sie hat eine sonderbare That begangen;
man machte den Namen ihres Geliebten schlecht.
(S. 297)
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80.
Sie steigt den Bergpass hinauf
und spinnt karmesinrote [Wolle] an der Spindel.
In ihrer Hand hält sie einen Milcheimer,
sie setzt ihn ihm und seinen Freunden vor,
füllt Gefässe vor ihm
und stellt sich hin und kühlt sie mit ihrem Umhang ab. –
Er sagte: "Das geht nicht,
was du sagst, das kann nicht sein."
(S. 297-298)
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81.
Er verursachte Krankheit in ihrem Herzen,
einen Kampf focht er ihretwegen aus,
nachher kam er zu ihr,
füllte mit Geld ihre Tasche
und legte etwas hinter ihre Seite (?);
dann näherte er sich ihr und kam zu ihr heran,
trat ihr darauf auf den Knöchel;
doch sie ging und erzählte ihrem Vater
alle Dinge, die er mit ihr gethan.
(S. 298)
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82.
Und ihr Vater sagte: "O Tochter,
ich werde dir ein Wort sagen,
wenn er dich haben möchte
und dich jetzt liebt,
wenn er dir etwas sagt,
so sage du: Erst wenn ich nach Hause gegangen bin,
werde ich dir Bescheid geben."
(S. 298)
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83.
Sie stand im Aussenhofe,
da kamen fremde Soldaten
und küssten sie auf die rechte Backe.
(S. 298)
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84.
Ihr Wuchs ist wie der einer frischen Blume,
ihre Augen sind [wie] Mandelkerne;
unsere Liebe [sparen wir auf] auf einen Feiertag.
(S. 298)
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85.
Sie sitzt auf der Treppe,
in ihrer Hand hält sie das Schminkrohr und den Spiegel,
sie hat mich getötet, die Brünette.
(S. 299)
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86.
Ich stieg auf den Düngerhaufen und erblickte sie.
Da winkte sie mir mit dem rechten Auge zu
und sagte so zu mir:
"Mein Mann passt mir nicht,
ich möchte, dass du mein Liebhaber wirst,
und dass du mein Mann wirst;
du musst dann meine Kinder erziehen
und sie mir ernähren, denn meine Lage ist erbärmlich."
(S. 299)
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87.
Sie ist auf dem Dache des Hauses des Dischla;
fürchte nicht, sie ist ja die Deinige geworden,
steh' auf, geh, wecke sie,
die Zeit zur Trauung ist bereits gekommen.
Als sie es hörte, wurde sie unruhig,
der Verstand verliess sie fast vor Erregung,
sie wusste nicht, dass die Leute bereits wach waren.
(S. 299)
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88.
Er war in der Gegend von Märdin,
als er hörte, dass man um seine Braut freite;
da sprach er: Ein anderer soll sich ihrer nicht freuen.
(S. 299)
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89.
Und wenn sie das thut,*
dann komme ich schnell,
damit ich sehe, wie das zuging,
ob das von ihr allein ausgegangen ist,
oder ob die Leute sie verdorben haben.
(S. 299)

* D. h. wenn sie die Werbung des andern annimmt.

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90.
Wenn sie die Reichen verdorben haben,
indem sie ihr viel Geld gaben
und Gewänder und kostbare Brautgeschenke,
dann sind ihre Leute Dummköpfe,
sind Narren und Esel,
wie es im Kinderliede (?) heissst:
"Gieb die Frau den Männern,
sollte sie auch im Ofenloche schlafen";
und ich gehöre jetzt zu den Männern,
ich stamme aus dem Rückgrat von Helden,*
aus einem mächtigen Stamme Reicher.
(S. 300)

* Das Rückrat oder vielmehr das Rückenmark
wird als Sitz der Zeugungskraft gedacht.

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Übersetzt von Mark Lidzbarski (1868-1928)

Aus: Beiträge zur Volks- und Völkerkunde Vierter Band
Geschichten und Lieder aus den
neu-aramäischen Handschriften
der Königlichen Bibliothek zu Berlin
von Mark Lidzbarski
Weimar Verlag von Emil Felber 1896




 


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