Philosophie der Liebe

Liebesgedichte an die Liebe, über die Liebe
und das menschliche Herz
von deutschen Dichtern und Dichterinnen

 


Franz Marc (1880-1916)
Rotes und gelbes Reh



Angelika von Michalowska
(1830-?)


Verstand und Herz

Des ew'gen Zwistes endlich müde,
Schloß eines Tages der Verstand
Ein Freundschaftsbündnis mit dem Herzen,
Und beide gingen Hand in Hand.

Und als sie gar nicht weit gegangen,
Da trat heran ein armes Kind,
Das bat um eine kleine Gabe -
"Da hast du", rief das Herz geschwind.

Doch der Verstand hielt schnell die Gabe,
Griff nach dem Herzen eisig hin
Und sprach: "Wir sind jetzt eng verbunden,
Du handelst nicht nach deinem Sinn.

Erst mußt du dich mit mir beraten,
Und wenn wir beide einig sind,
Dann magst du deine milde Gabe
Darreichen diesem armen Kind."

Das Herz lauscht traurig solchen Worten,
Doch war es selber daran schuld,
Der Bund, er war einmal geschlossen,
D'rum mußt sich's fügen in Geduld.

Verstand fing an zu überlegen,
Was wohl dem Kinde nützlich sei,
Und ob man selbst nicht Unrecht thäte,
Ständ' man dem Bettelvolke bei.

Und wie er hin und her so dachte,
Das Herz mit neuem Bitten naht,
Dem armen Kinde nun zu gönnen
Die Spende doch, um die es bat -

Da gab er endlich nach mit Grollen,
Nahm selbst ein hartes Stücklein Brot,
Und trat mit vielen Mahnungsworten
Zum Kinde hin - das Kind war tot.

Aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888 (S. 320-321)



 


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