Philosophie der Liebe

Liebesgedichte an die Liebe, über die Liebe
und das menschliche Herz
von deutschen Dichtern und Dichterinnen

 


Franz Marc (1880-1916)
Rotes und gelbes Reh



Aloys Schreiber
(1761-1841)


Liebe

Es ist der Himmel mit Nacht umzogen,
Doch wandelt die Liebe ihre Bahn,
Es brüllen des Meers empörte Wogen,
Doch Liebe vertraut dem schwachen Kahn.

Es harrt das Mägdlein am Felsgestade,
Wo schwach die Leuchte des Thurmes glimmt,
Und lauschet, ob sie vom Wellenpfade
Die Schläge des Ruders nicht vernimmt.

Umsonst! sie hört nur des Meeres Toben;
Nun wird es in ihrer Seel' auch Nacht!
O Mägdlein, es wohnt ja noch dort oben
Ein Gott, der über die Liebe wacht.

Schon ist der Jüngling an's Land gesprungen,
Schon fliegt er in der Geliebten Arm;
Sie hält ihn mit süßer Lust umschlungen,
Und küßt ihm die kalten Lippen warm.

Es sey der Himmel mit Flor umhangen,
Es tobe noch zürnender der Belt!
Sie halten sich fester nur umfangen,
Und außer ihnen ist keine Welt.

Die Liebe bettet am nackten Strande
Den Liebenden wie auf weichem Flaum,
Es drücken sie nicht des Lebens Bande,
Für sie ist das Leben ein schöner Traum.

Mag ihnen das Schicksal alles rauben,
Sie lassen von der Liebe nicht ab,
Und blicken mit Lächeln, in dem Glauben
Sich wieder zu finden, in ihr Grab.

Wenn ihnen nur eine Wüste bliebe,
Sie hätten ein Paradies auch dort,
Und ihnen wäre ohne die Liebe
Der Himmel nur ein Verbannungsort.


Aus: Aloys Schreiber's Gedichte
Zweyter Theil Neueste Auflage
Wien 1817 Bey B. Ph. Bauer (S. 49-51)


 


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