Liebeslyrik aus China

(in deutscher Übersetzung)

 



Chinesische Lieder und Gesänge
2. Jh. v. Chr. - 8. Jh. n. Chr.



Das Mädchen im Garten

Vor dem Regen sah man kaum
Zarter Knospen Hülle,
Nach dem Regen zeigt sich nun
Üpp'ger Blumen Fülle.
Biene klein und Schmetterling
Fliegen um die Wette
Immerfort - als ob es hier
Keine Blumen hätte -
Über jene Mauer weg,
Können's kaum erwarten:
Wohnt des ganzen Frühlings Lust
Denn in Nachbars Garten?
(S. 9)

Wang Gia (zwischen 751 und 835)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Lieder der Mitternacht

1.
Der Weihrauch sendet Düfte aus,
Und bin ich auch nicht reich und schön:
Der Himmel ist uns Menschen hold,
Er schenk' uns bald ein Wiedersehn.


2.
Versponnen bleiben auch zerrissene Fäden,
Und ewig bleibt die Liebe uns im Blut.
Wohl sterben jährlich alle Seidenspinner,
Doch ist ihr Grab die Wiege ihrer Brut.


3.
Ich bette mich in weiche Kissen ein,
Mein Liebster kommt und kost mit mir.
Doch allzu ungestüm darf er nicht sein,
Nur rein bewahrt weilt Liebe lange hier.


4.
Der Hunger ruft Speisen,
Die Liebe ruft Lieder.
Ich lehn' an dem Tore -
's ist Abend! Komm wieder!


5.
Ich tret', noch eh mein Morgenkleid geschlossen,
Mit Falten auf der Stirn hinaus geschwind.
Ein Windstoß flattert in die leichte Seide
Und lüftet sie. Der böse Frühlingswind!


6.
Wie freu ich mich des Wiedersehens! -
Doch was siehst du so streng darein?
Dreimal ruf ich und keine Antwort -
Warum willst plötzlich du so weise sein?


7.
Ich habe dich lieb, möchte zu dir gehn,
Möcht wohnen ganz nahe bei dir.
Vor meiner Tür müßt ein Holderbusch stehn,
Dann könnt ich dich Holder immerfort sehn.


8.
Die Lieb' im Herzen treibt mich dir entgegen,
Jedoch die Schüchternheit hält mich und will's nicht leiden.
Die roten Lippen öffnen sich zum Liede,
Und mit der weißen Hand rühr ich die zarten Saiten.
(S. 17-18)

Unbekannter Dichter

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Erwartung

Die jungen Schwalben fliegen,
Das schmucke Haus ist still und leer,
Der Bäume Schatten wiegen
Sich leis zur Mittagszeit. -

Der Abend ist gekommen,
Ich kühle mich im frischen Bad,
Und mit dem seidnen Fächer
Spielt meine weiße Hand.

Und leise senkt der Schlummer
Auf meine müden Augen sich,
Ich lehne mich ins Polster
Und schlummre selig ein.

Da hör ich plötzlich klopfen.
Wer ist's, der mich im Traume stört?
Ach nur des Windes Säuseln
Im schlanken Bambushain. -

Und der Granaten Blüten
Tun ihre seidnen Knospen auf,
Wenn alle Sommerblumen
Schon längst vorüber sind.

Ich denke dein, mein Lieber,
Und breche leise einen Zweig,
Ich schau in seiner Blüten
Gefülltes Rot hinein.

Wie lange wird es dauern,
Bis sie verweht der kalte Wind,
Und nur die grünen Blätter
Allein noch übrig sind. -

Ich schau auf diese Blume
Und warte treulich, bis du kommst.
Ich will sie sorgsam hüten,
Daß nicht ihr Tau zerrinnt.
(S. 30-31)

Su Dung Po (1036-1101)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Nach dem Gewitter

Überm Wasser fernes Donnern,
Regen kommt herangezogen. -

Und die dichten Tropfen plätschern
Von dem Lotusblatt ins Wasser. -

Überm Gartenhaus da leuchtet
Stark und hell ein Regenbogen. -

Hingelehnt auf das Geländer
Wart ich bis der Mond hervorkommt. -

Und die Abendschwalben flattern
Um die bunt bemalten Pfeiler. -

Nieder rauscht der Seidenvorhang,
Unbewegt vom Lufthauch hängt er. -

Neben meinem Kissen liegen
Aufgelöst des Haares Spangen. -
(S. 32)

Ou Yang Siu (1007-1072)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Die Lotosblume

Unterm Laub des roten Ahorns
Blitzt des Teiches Schimmer auf,
Kühlend naht des Herbstes Frische.

Und der Fürst des Abendhimmels
Wandelt unter grünem Schirm,
Dicht umringt von tausend Feen.

Zart erröten ihre Wangen,
Hell und duftig wie der Tag
Füllen sie des Teiches Fläche.

Plötzlich wogt in vollen Tönen
Übers Wasser her ein Lied,
Doch die Sängrin ist verborgen. -

Abseits weilt am andern Ufer
Eine Blume aus dem Mond,
Die zur Erd' herabgesunken.

Und sie schämt sich ihrer Blässe,
Heimlich hat sie sich gefärbt,
Und erstrahlt in ros'ger Schöne.

Keusch schlägt sie die Augen nieder
Zu der Wogen Spiegelgold,
Und sie sinnet in die Ferne. -
(S. 33)

Dschung Schu

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Die durchwachte Nacht

Der Bambus wiegt sich im Winde,
Das Mondlicht fließt durchs Gestein.
Es fliegt in der Milchstraße Schimmer
Einsam eine Wildgans hinein.

Ich denke des Wiedersehens,
Da ist es mit Schlafen vorbei.
Und während ich singe vor Freuden,
Ertönt schon der Elstern Geschrei.
(S. 54)

Han Yi (768-846)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Mondgedanken

Über dem Meere steigt
Silbern spiegelnd der Mond auf,
Nahes und Fernes
Einend in seligem Schaun.

Liebendes Suchen
Strebt durch die Weiten der Nacht hin,
Stunde auf Stunde
Steiget der Sehnsucht Gewalt.

Kerze verglimmet,
Aber die Fülle der Lichtflut
Lockt mich noch einmal
Fort in den feuchtenden Tau.

Ach könnt' ich schenken
Dir von der Fülle des Lichtes, -
Einsam zum Lager
Kehr' ich und träume von dir.
(S. 65)

Dschang Giu Ling (673-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten
Lieder und Gesänge verdeutscht von Richard Wilhelm
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1922

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Das Kuan Tsü-Lied

"Schon lockt der Turteltaube Ruf
Dort von der Insel her im Fluß.
So schlank und zart, die holde Maid,
Ist unsres Herren liebe Braut.

Seerosenknospen kaum enthüllt,
Sie treiben in der Flut umher,
So schlank und zart, die holde Maid,
Bei Tag und Nacht sucht sie sein Sinn.

Er sucht nach ihr und sieht sie nicht,
Bei Tag und Nacht, so sehnsuchtsvoll,
So endlos ach, so endlos ach,
Wirft er sich ruhelos umher.

Seerosenknospen kaum enthüllt,
Wir pflücken rings sie in der Flut,
So schlank und zart, die holde Maid,
Der Harfen Ton bringt unsren Gruß.

Seerosenknospen, kaum enthüllt,
Wir winden sie zu Kränzen ihr,
So schlank und zart, die holde Maid,
Die Zimbel rauscht ihr zum Willkomm."
(S. 20)

Aus dem Schi-King

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Vergebliche Sehnsucht

Im Süden stehen Bäume hoch,
Sie spenden Schatten nicht und Ruh,
In Han sind schöne Mädchen viel,
Sie wenden mir den Blick nicht zu.

Der Fluß ist so breit,
Daß niemand ihn durchschwimmen kann,
Der Strom ist so tief,
Daß kein Boot ihn durchqueren kann.

Das Dickicht wächst so dicht und wild,
Wie gern bräch ich die Dornen los!
Ach, wenn das Mädchen zu mir käm,
Wie gerne füttert ich ihr Roß!

Der Fluß ist so breit,
Daß niemand ihn durchschwimmen kann,
Der Strom ist so tief,
Daß kein Boot ihn durchqueren kann.

Das Dickicht wächst so dicht und wild,
Wie bahnt ich einen Pfad so gern!
Ach, wenn das Mädchen zu mir käm,
Ihr Rößlein füttert ich so gern!

Der Fluß ist so breit,
Daß niemand ihn durchschwimmen kann,
Der Strom ist so tief,
Daß kein Boot ihn durchqueren kann.
(S. 21)

Aus dem Schi-King

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Sehnsucht nach dem fernen Geliebten

Es zirpen die Grillen im Grase,
Und Heuschrecken springen umher,
Ich sehe nicht meinen Geliebten,
Mein Herz ist vor Sehnsucht schwer.
O, könnt ich ihn sehen,
O, könnt ich ihn herzen!
Dann wäre mein Herz gesund.

Ich stieg auf den Berg dort im Süden
Und sammelte Kräuter im Wald,
Ich sehe nicht meinen Geliebten,
Mein Herz ist vor Sehnsucht krank.
O, könnt ich ihn sehen,
O, könnt ich ihn herzen!
Dann wäre mein Herz wieder froh.

Ich stieg auf den Berg dort im Süden
Und sammelte Blumen am Grund.
Ich sehe nicht meinen Geliebten,
Mein Herz ist vor Sehnsucht wund.
O, könnt ich ihn sehen,
O, könnt ich ihn herzen!
Dann käme zur Ruhe mein Herz.
(S. 21)

Aus dem Schi-King

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Heimliche Liebe

Im Felde liegt ein totes Reh,
In weißes Gras gehüllt,
Das Mädchen hat den Frühling im Blut,
Der Jägersmann redet mit ihr.

Im Walde stehen die Büsche so dicht,
Im Felde liegt das tote Reh,
Und weißes Gras hüllt es ein.
Das Mädchen ist schön wie Nephrit.

"Sachte doch! Sei nicht so stürmisch!
So faß mir doch nicht nach dem Kleid!
Gib acht, daß mein Hündchen nicht bellt!"
(S. 22)

Aus dem Schi-King

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Die verstoßene Gemahlin

Es schwanket das Zypressenschiff,
Und schwankend treibt's im Strom dahin.
Kein Schlaf kam noch ins Auge mir,
Ein tiefer Schmerz trübt meinen Sinn.
Nicht weil  es mir an Wein gebrach,
Duld ich des Wanderns Ungemach.

Mein Herz ist nicht dem Spiegel gleich,
Ich kann nicht ruhig alles sehn.
Wohl hab ich Brüder noch zu Haus,
Doch kann ich nicht zu ihnen gehn.
O, wollt ich klagen meinen Schmerz,
Sie böten mir nur Hohn und Scherz.

Mein Herz ist nicht dem Steine gleich,
Der hin und her sich rücken läßt.
Mein Herz ist nicht der Matte gleich,
Die um und um sich drücken läßt.
Ich wahrte treu der Sitte Pflicht,
Ich scheu das Licht des Tages nicht.

Mein Herz ist voller Bitternis,
Mich haßt der Niederträchtgen Rott',
Gar manches Leid ward mir zuteil,
Und statt des Mitleids Schimpf und Spott.
Ich denke schweigend meiner Not,
Erwachend wünsch ich mir den Tod.

O Sonne du, o Mond dort oben,
Was mußte euer Schein veralten!
Des Herzens Kummer hängt an mir
Wie ungewaschner Kleider Falten.
In Schweigen ist gehüllt mein Sinnen,
Kein Flügel ach! trägt mich von hinnen!
(S. 22)

Aus dem Schi-King

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Wandern, wandern immerfort,
Abschied fürs Leben nahmst du von mir.
Tausend Meilen bin ich von dir
Durch des Himmels Weite getrennt!
Weg und Steg so steil, so lang!
Wiedersehen? Wer weiß, wer weiß!
Doch der Vogel aus fernem Süd
Friert nach Sonne in Schnee und Eis.
Daß wir schieden, der Tag ist fern -
Loser wird täglich Gürtel und Kleid
Ziehende Wolke die Sonne verhüllt,
Wandrer denkt nicht der Heimkehrzeit.
Sehnsucht nach dir macht müd und alt.
Jahre und Monde fliegen vorbei.-
Laß! Gib's auf! Sprich nicht mehr davon!
Iß und trink und mach dich frei.
(S. 118)

Me Tsch'eng (gest. 140 v. Chr.)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Dort droben steht ein hohes Haus,
Das ragt zu den schwebenden Wolken auf.
Die Fenstergitter glänzen bunt,
Drei Marmortreppen führen hinauf.
Oben zur Laute ein Lied ertönt,
Das klingt so traurig und sehnsuchtsschwer.
Das Mädchen singt eine Melodie,
Als gäbe es keine Hoffnung mehr.
Der Wind trägt die reinen Töne fort,
Doch mitten im Lied, da zögert sie jäh
Und rührt die Saiten immer aufs neu
In überströmendem Herzensweh.
Ach nicht ihr Leid mir wehe tut,
Mich kümmert, daß niemand sie will verstehn.
Ich wollt wir wären zwei Vögel
Und flögen hinauf zu den ewigen Höhn.
(S. 118)

Me Tsch'eng (gest. 140 v. Chr.)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Beim Pferdetränken an der großen Mauer

Grün, grün wächst das Gras am Fluß,
Unermüdlich denk ich in die Ferne.
Ach durch Denken kommt sie dir nicht näher.
Heut im Traume hab ich sie gesehen,
Heut im Traume stand sie mir zur Seite.

Da erwacht ich, sie ist fern in anderm Land.
Fern in anderm Land und in der Weite.
Und ich kann sie lange nicht mehr sehen.
Dürrer Maulbeer kennt des Himmels Stürme,
Meereswogen kennen Wetterkälte.

Drinnen denkt ein jeder seiner Lieben,
Keiner spricht ein Wort mit den Genossen ...
Kommt ein Gast aus fernen Landen
Bringt zwei Karpfen mir als Gruß und Gabe.
Ruf den Koch, die Karpfen zu besorgen,
Fand er einen Brief darin verborgen.
Knie nieder, schau des Briefes Worte
Was hat er geschrieben aus dem fernen Orte?
Erst schreibt er: ich soll nur tüchtig essen,
Und dann heißt's: er woll' mich nie vergessen.
(S. 118-119)

Ts'ai Yung (spätere Han-Zeit)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Trauergesang

Sie haben mich in die Ehe gegeben
Hierher ins ferne Land!
Ach, in der Fremde muß ich weilen
An des Königs Seite gebannt.
Ein rundes Zelt ist meine Hütte
Aus Filz ist seine Wand.

Ach, rohes Fleisch ist meine Speise
Und saure Milch mein Trank!
Ach, mein Herz ist mir wund im Busen,
Denk ich ans Heimatland.
Ach, wär ich ein weißer Schwan doch!
Flög ich hin zum fernen Strand!
(S. 119)

Prinzessin Hsi Kün (um 100 v. Chr.)
(wurde an den Fürsten der Wu Sun verheiratet)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Das Lied vom weißen Haar

Weiß wie der Berge ewger Schnee,
Hell wie im dunkeln Gewölk der Mond!
Ich höre, dein Herz denkt anders nun,
So komme ich, um mich zu scheiden von dir.
Heute sind wir beim Wein vereint.
Morgen früh an des Baches Rand,
Eilen wir hin an des Baches Rand,
Baches Wasser fließt nach Ost und nach West,
Kalt, kalt ist es, so kalt, so kalt!
Doch bei der Hochzeit weint man nicht.
Ich hoffte auf einen ganzen Mann,
Der mich nicht verläßt, wenn ich grau und alt.
Ach, wie die Bambusstauden wanken!
Ach, wie der Fische Schwänze schwanken!
Dem Mann ist's heute anders zu Mut,
Was fang ich da an mit Geld und Gut!
(S. 119)

Wen Kün (um 126 v. Chr.)
(Si-Ma Hsiang-Ju (gest. 126. v. Chr.) dachte einmal daran,
eine Nebenfrau zu nehmen, da machte seine Frau, die Wen Kün,
dieses Gedicht, um damit von ihm Abschied zu nehmen.
Darauf ließ er den Gedanken an die Nebenfrau wieder fallen.)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Der Fächer im Herbst

Neu und zart aus weißer Seide,
Rein wie Schnee und frisches Eis
Ist des Fächers heitre Scheibe,
Wie des Vollmonds klarer Kreis
Weilet stets dem Herrn zur Seite,
Kühlen Wind ihm fächelnd zu.
Doch es kommt des Herbstes Kühle,
Sommers Hitze geht zur Ruh -
Und der Fächer entgleitet der Hand,
Treue Liebe ihr Ende fand.
(S. 119)

Pan Tsie Yü
(Dieses Lied stammt von einer Tante des Pan Ku, namens Pan Tsie Yü,
die lange in der Gunst des Kaisers Tsch'eng (32.-6. v. Chr.) gestanden hatte,
aus der sie durch die Tänzerin Fe Yen verdrängt wurde.
Bei ihrem Rückzug in die Einsamkeit sandte sie dem Kaiser
mit einem Fächer dieses Lied.)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Am Turm des gelben Kranichs wendet
Der Freund sich von mir.
Ein bunt Gewimmel treibt im Frühling
Den Strom hinunter.

Einsam verliert sich nun das Segel
In blaue Ferne.
Ich schau ihm nach, bis weit am Himmel
Der Strom verdämmert . . . . 
(S. 138-139)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Frühe Mandelblüten

Im Garten steht ein früher Mandelbaum
Mitten im Winter blütenüberdeckt.
Die junge Frau bricht einen vollen Zweig.
Daß sie ihn an den Spiegel steckt.
Sie geht. Da fällt ihr ein, das sei doch zu bescheiden.
Sie holt die Schere, um noch mehr zu schneiden.
(S. 139)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Am Pfirsischblütenquell

Fernab geriet ich von der Menschen Treiben,
In Waldesdickicht fand ich mich verstrickt.
Da sah ich eines Zaubrers Hütte stehen,
Die nie zuvor ein Erdenmensch erblickt.

Tanzende Kraniche auf verlassenen Stufen,
Fliegende Affen pfiffen im Genist;
Da ward mir offenbar der Sinn des Zaubers:
Mir ward ein Herz, das tief ist und vergißt.
(S. 139)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Frühlingsmorgen

Ich schlief im bunten Frühling
Und merkte nicht des Morgens Nahn.
Die Vögel haben mich aufgeweckt
Mit süßem Singen.

Es hat zur Nacht geregnet;
Durch meinen Garten geht der Wind.
Die blassen Blüten wurden verweht,
Wer weiß, wie viele? -
(S. 139)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Sommerabend

Hinterm Berge sinkt die Sonne nieder,
Aus dem Teiche steigt der Mond empor:
Sommerabends Kühle naht sich wieder,
Und gelassen öffne ich das Tor.
Lotosblumen senden zarte Düfte.

Von den Blättern tropft der Tau ins Gras.
Meiner Zither Töne suchen durch die Lüfte
Ihn, der ahnend meine Seele las.
Ferne ist er, ach, von mir gegangen;
Nachts im Traume such ich ihn mit Bangen.
(S. 139)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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Am Bergteich

Ich lasse die Angel hängen
Und sitz an des Ufers Bühl.
Das Wasser ist klar wie ein Spiegel.
Mein Herz ist ruhig und kühl.

Ich sehe die Fische dort schwimmen
Tief unter den Bäumen im Teich;
Die Affen klettern und springen
In dichter Ranken Gezweig.

Ein Mädchen aus weiter Ferne
Kam einstens in dieses Tal;
Sie gab dem Geliebten beim Abschied
Die Spang als Erinnerungsmal.

Doch als er zum Freien gekommen,
Da fand er sie nimmermehr.
Er rudert im Mondschein heimwärts,
Es war ihm das Herze so schwer.
(S. 140)

Mong Hao Jan (689-740)

übersetzt von Richard Wilhelm (1873-1930)
Aus: Die chinesische Literatur von D. Dr. Richard Wilhelm
Wildpark-Potsdam
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion M. B. H. (1925)
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