Liebeslyrik aus Japan

(in deutscher Übersetzung)

 


Die altjapanische Liebespoesie
aus dem Kokinshu



XI, 8.

Gedichtet und übersandt, als am 6. Tage des 5. Monats
hinter dem Vorhang eines Wagens, der beim Rennen
der rechten kaiserlichen Gardeabteilung gegenüber
gestanden hatte, ein Frauenantlitz flüchtig erschienen war.

Da ich in eine Person verliebt bin,
die ich weder nicht gesehen,
noch gesehen habe,
so werde ich wohl
den heutigen Tag grundlos
in trüben Gedanken verbringen.
(S. 2)

Ariwara no Narihira no Ason (825-880)
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XI, 11.

Als er sich zum Ort begeben hatte, wo Leute
Blumen pflückten, verfaßte er später (dieses Gedicht)
und schickte es an eine Person, die sich dort befunden hatte.

Wie liebenswert ist doch die Geliebte,
die ich nur ganz undeutlich
gesehen habe,
wie die Bergkirsche durch
die Nebelspalten hindurch.
(S. 3)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XIV, 2.

Wäre ich ihr nicht persönlich begegnet,
so würde ich von Liebessehnsucht nicht erfüllt sein,
denn ich würde ja dann diese Person
nur vom Hörensagen kennen.
(S. 3)

Verfasser unbekannt

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XI, 14.

Was die Begegnung (mit der Geliebten) anbelangt,
so ist sie fern wie der Wolkensitz;
wenn ich sie, wie das Dröhnen des Donners,
auch nur vom Hörensagen kenne,
so fahre ich doch fort,
sie zu lieben.
(S. 3)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XII, 37.

An eine in Yamato weilende Person geschickt

Solange du (die Berge)
nicht überschritten hast
(um dich mir zu zeigen),
fahre ich fort,
dich wie die Kirschblüten
der Yoshino-Berge
leider nur vom Hörensagen
zu kennen.
(S. 3-4)

Verfasser unbekannt

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XI, 3.

Ach, ich habe mich so schnell
in sie verliebt,
wie das Wasser des Yishino-Flusses fließt,
dessen Wellen hoch gegen
die Felsen schlagen.
(S. 4)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XI, 7.

Ich bin in eine Person verliebt,
die für meine Augen
genau so unsichtbar ist
wie der wehende Wind.
In dieser irdischen Welt
ist es eben nur so . . .
(S. 4)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XI, 30.

Ich bin von Liebessehnsucht
in solchem Maße erfüllt,
daß ich die Stimme
klagend erheben muß,
wie es die Nachtigall auf den
obersten Zweigen der Pflaume
in meinem Garten tut.
(S. 5)

Verfasser unbekannt

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XII, 5.

Am Tage, als im buddhistischen Tempel
Shimotsu Izumo eine Totenmesse abgehalten wurde,
auf die Worte des die Zeremonie leitenden
Mönchs Shinsei verfaßt und an Ono no Komachi geschickt.

Die weißen Perlen,
die sich auf dem Ärmel nicht halten,
so sehr ich sie auch einhülle,
sind (nichts anderes als)
Tränen aus meinen
die Geliebte nicht sehenden Augen.
(S. 5)

Abe no Kiyoyuki no Ason

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XIV, 6.

So wie die weißen Wellen
des zwischen den Felsen dahinfließenden
Wassers immer wieder
(ans Ufer) herankommen,
ebenso möchte auch ich
immer wieder (die Geliebte) sehen,
ohne ihrer jemals
überdrüssig zu werde.
(S. 6)

Verfasser unbekannt

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XI, 12.

Das ist das Außerordentliche
an der Sehnsucht,
die ja kein Bote ist,
daß sie das Herz zu der
geliebten Person befördert.
(S. 6)

Motakata

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XI, 20.

Meine Liebessehnsucht scheint
den weiten, leeren Himmelsraum
ausgefüllt zu haben;
wenn ich meine trüben
Gedanken auch verjage,
so gibt es doch keine Gegend,
wohin sie gehen könnten.
(S. 6)

Verfasser unbekannt

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XI, 42.

Ich werde mich dauernd
nach dir sehnen,
wohl nur um immerzu
Qualen zu erdulden,
gerade so wie die Fischer
Im Meer von Ise
immerzu das Angelseil winden.
(S. 7)

Verfasser unbekannt

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XI, 75.

Wenn der Morgen anbricht,
verbringe ich den Tag mit Klagen,
die so beständig sind
wie das unaufhörliche Zirpen
der Zikaden,
während ich in der Nacht
(vor lauter Leidenschaft)
wahrlich wie ein
Glühwürmchen brenne.
(S. 7)

Verfasser unbekannt

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XI, 7.

Während es doch niemand meldete,
sollte die Geliebte
etwa wissen,
daß ich sie liebe,
indem ich vor Liebe
wie abgemähtes Binsengras
verwirrt bin?! . . .
(S. 7)

Verfasser unbekannt

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XI, 28.

Da ich liebe, ohne daß es
die geliebte Person weiß,
so ist es schmerzlich;
könnte ich doch wie die
rote Safflor-Blume
Farbe bekennen
(und meine Gefühle kundgeben)! . . .
(S. 8)

Die rote Safflor-Blume wird zum Färben benutzt

Verfasser unbekannt

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XI, 51.

Da ich meine Liebe verheimliche,
so ist es qualvoll für mich.
Wem soll ich meine
sogenannte Liebessehnsucht anvertrauen,
ohne daß es die Liebste erfährt? . . .
(S. 8)

Verfasser unbekannt

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XI, 66.

Beständig hege ich heimliche Liebessehnsucht,
sodaß mein Leib fürwahr
wie der in Suruga befindliche
(innen glühende) Fuji-Berg
geworden ist.
(S. 8)

Verfasser unbekannt

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XII, 9.

So sehr meine Liebe an Intensität
auch zunimmt,
so weiß doch niemand von ihr,
als ob sie ein tief
in den Bergen verborgenes
Kraut wäre.
(S. 8-9)

Ono no Yoshiki
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XII, 53.

Sollte die Geliebte etwa
von meiner Liebe wissen,
die so üppig gedeiht
wie die Schilfknospen
von Naniwa im Lande Tsu,
die im Frühling,
soweit das Auge schweift,
üppig schwellen? . . .
(S. 9)

Tsurayuki (860/1-945/6)
_____



XI, 55.

Wohl weil mein Herz,
das sich nach der Liebsten sehnt,
sich nicht in mir befindet
(sondern bei ihr weilt),
ist es mir nicht einmal
bewußt geworden,
daß ich in Liebesverwirrung bin.
(S. 9)

Verfasser unbekannt

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XI, 64.

Verwirrt wie das schöne
Flußgras auf den Wellen,
das weder in der Tiefsee
noch an der Küste Halt findet,
werde ich wohl bloß
beständig lieben . . .
(S. 10)

Verfasser unbekannt

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XII, 32.

Kummervolle Gedanken
überkommen mich tausendfach,
wie mannigfaltig die Farben
der Blumen sind,
die zu dieser Zeit verstreut
auf dem herbstlichen
Felde blühen.
(S. 10)

Tsurayuki (860/1-945/6)
_____



XIII, 1.

Verfaßt und übersandt, als der Regen rieselnd niederfiel,
nachdem er sich am ersten Tage des dritten Monats
mit einer Person heimlich unterhalten hatte

Weder schlafend, noch wachend
verbringe ich die Nacht
und verlebe trübsinnig meine Zeit,
indem ich in den langanhaltenden
Frühlingsregen starre.
(S. 10-11)

Ariwara no Narihira no Ason
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XV, 14.

Da wir uns nicht sehen,
so wird meine Liebe
nur noch größer.
Warum werde ich mich
so leidenschaftlich
verliebt haben? . . .
Zu welchem Zweck
soll man den wasserlosen
Fluß vertiefen?! . . .
(S. 11)

Verfasser unbekannt

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XI, 13.

Seitdem ich die Stimmen
der ersten Wildgänse
flüchtig hörte,
ist es mir so,
als ob ich vor lauter
trüben Gedanken
ganz von Sinnen wäre.
(S. 11)

Ochi Kochi no Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XII, 28.

Leider bin ich von
vergeblicher Liebe erfaßt
und klage mit lauter Stimme,
wie auch der Bergkuckuck
im Himmelsraum mit lauter Stimme schreit,
da die oberen Baumzweige
auf dem Berg im Mai
hoch sind.
(S. 11-12)

Tsurayuki (860/1-945/6)
_____



XII, 35.

Sogar beim Klang der Zither,
die der herbstliche Wind
ertönen läßt,
werde ich ganz grundlos
von liebender Sehnsucht
nach der Geliebten erfaßt.
(S. 12)

Tadamine (etwa 880-920)

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XII, 36.

Wenn der Regen in das stille Wasser
des Sumpfes niederfällt,
wo man das schöne Binsenkraut mäht,
so wird mein Liebesgefühl noch mehr
als sonst ganz intensiv.
(S. 12)

Tsurayuki (860/1-945/6)
_____



XI, 24.

Wenn ich vor Liebe auch sterbe,
so werde ich nicht
so viel Lärm von mir machen,
wie das Wasser des Yoshino-Flusses,
das die Felsen durchschneidend
(stürmisch) fließt . . .
(S. 13)

Verfasser unbekannt

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XI, 26.

Wenn ich (schließlich) vor Liebe
auch sterben sollte,
so werde ich noch dahinleben,
indem ich nur in meinem Innern
das Liebesgefühl hegen werde,
so wie das wegen der Höhe des Berges
herabfallende Wasser nur
im Verborgenen fließt.
(S. 13)

Verfasser unbekannt

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XII, 14.

Meine heimliche Liebe ist so tief verborgen,
wie die in der Flußströmung
schwankenden Algen
im Wasser verborgen sind.
(S. 13)

Verfasser unbekannt

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XII, 26.

Wenn man mich fragt,
so werde ich antworten,
daß mein Ärmel vom Frühlingsregen
naß geworden ist,
obwohl er in lautem Weinen
(von meinen Tränen)
durchnäßt wurde.
(S. 14)

Chisato
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XI, 38.

Warum muß es denn eine
heimliche Leidenschaft sein?!
Obgleich (die Geliebte) so nahe ist,
wie die Zwischenräume
eines Schilfzaunes
einander nahe sind,
so gibt es doch
keine Möglichkeit
mit ihr zusammenzukommen . . .
(S. 14)

Verfasser unbekannt

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XI, 29.

Da keine Gelegenheit vorhanden ist
(mit der Geliebten heimlich)
zusammenzukommen,
soll ich meine Liebe nicht besser
offen kundgeben,
wie die Blumen, die mit den
Obana-Gräsern vermischt
auf dem herbstlichen Felde blühen,
ihre Farbe (offen zeigen)?! . . .
(S. 14)

Verfasser unbekannt

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XI, 35.

Meine Ausdauer (im Verheimlichen)
ist doch der Sehnsucht unterlegen,
wie sehr ich auch danach trachtete,
daß nichts bekannt werden soll.
(S. 15)

Verfasser unbekannt

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XI, 6.

Wie die weißen Wellen
der hohen See
immer wieder kommen
und gehen, so muß auch ich
immer wieder an die
geliebte Person wenigstens
aus der Ferne denken
und sie fürwahr
als liebenswert betrachten.
(S. 15)

Verfasser unbekannt

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XI, 80.

Kann ich dich etwa selbst
für die kurze Dauer eines Blitzstrahls vergessen,
der über den Ähren des herbstlichen
Feldes aufleuchtet?!
(S. 15)

Verfasser unbekannt

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XII, 42.

Abend für Abend, wenn ich mein
(von Tränen) nasses Hofkleid
ausziehe und es aufhänge,
gibt es auch nicht einen
Augenblick, wo ich nicht
immerwährend an dich denke.
(S. 16)

Tomonori (850-915)
_____



XI, 57.

In der Nacht
(deren vorhergehenden Tag)
ich in der Hoffnung
auf ein Zusammenkommen
im Traume verbracht habe,
kann ich auf keine Weise
einschlafen.
(S. 16)

Verfasser unbekannt

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XI, 59.

Nicht einmal im Traume
bist du mir deutlich sichtbar,
während im unruhigen Schlaf
das Kissen auf dem
(von mir vergossenen) Tränenstrom
herumschwimmt.
(S. 16)

Verfasser unbekannt

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XV, 20.

Obgleich ich Liebessehnsucht empfinde,
gibt es doch keine Nacht,
in der wir (wenn auch nur im Traume)
zusammenkommen . . .
Das Vergessenskraut wird wohl sogar
auf den Pfaden der Träume
üppig wachsen . . .
(S. 17)

Verfasser unbekannt

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XV, 21.

Sogar im Traume wird
das Zusammenkommen
immer schwerer;
finde ich keinen festen Schlaf
oder hat mich etwa
die Geliebte vergessen?! . . .
(S. 17)

Verfasser unbekannt

_____



XII, 2.

Seitdem ich im Gelegenheitsschlummer
die geliebte Person gesehen habe,
begann ich dem, was man Träume nennt,
zu vertrauen.
(S. 17)

Verfasser unbekannt

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XII, 18.

Da ich vor Sehnsucht gequält wurde,
dachte ich zwar, ich könnte
mich zwingen (die Liebste)
zu vergessen;
aber ein sogenannter Traum
flößt mir in bezug auf die Geliebte
wieder Hoffnung ein.
(S. 18)

Verfasser unbekannt

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XII, 24.

Traurig ist es fürwahr,
sich am Morgen vom Lager zu erheben,
wenn man in der Nacht
die Geliebte, sei es auch
nur ganz flüchtig,
im Traume gesehen hat.
(S. 18)

Sosei-hoshi (bis etwa 916)
_____



XII, 57.

Da es ein Traum war im Schlaf,
in den ich vor lauter Sehnsucht
nach der Liebsten gefallen bin,
so habe ich ihn meinem
Herzenswunsch gemäß gesehen.
(S. 18)

Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XIII, 32.

Das wirkliche Geschehnis (unserer Begegnung)
in der pechschwarzen (Nacht-) Finsternis
hat meinen lebhaften Traum
nicht um Vieles übertroffen.
(S. 19)

Verfasser unbekannt

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XI, 58.

Es scheint (der Geliebten) Absicht zu sein,
daß ich vor Liebe sterben soll,
denn die pechschwarzen, langen Nächte hindurch
erscheint sie mir dauernd in Träumen
(ohne je in Wirklichkeit zu erscheinen).
(S. 19)

Verfasser unbekannt

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XII, 7.

Gedicht (verfaßt) beim Liederwettkampf
der Kaiserin in der Kwampyo-Ära (889-897)

Der gerade Weg, auf dem ich
im Traume (mit der Geliebten) verkehrte,
während ich, von Sehnsucht ermüdet,
eingeschlafen war, -
möchte er doch zur Wirklichkeit werden.
(S. 19-20)

Fujiwara no Toshiyuki no Ason (bis 901)
_____



XIII, 43.

Wenn ich auch auf den Pfaden
der Träume (zur Liebsten) hin und her wandere,
ohne meinen Füßen Ruhe zu gönnen,
so ist es doch nicht dasselbe,
wie sie mit einem einzigen Blick
in der Wirklichkeit zu sehen.
(S. 20)

Verfasser unbekannt

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XI, 21.

Für die Wellen in der Bucht
von Tago in Suruga
gibt es zwar Tage,
wo sie nicht steigen,
für mich gibt es aber keinen Tag,
an dem ich mich
nach dir nicht sehne.
(S. 20)

Verfasser unbekannt

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XI, 22.

So wie die Kiefernblätter
auf den Abhängen des Hügels,
die der abendliche Mond bescheint
(immer grün bleiben),
so werde auch ich
ohne Unterschied der Zeit
von Liebessehnsucht verzehrt.
(S. 20-21)

Verfasser unbekannt

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XI, 46.

Da es keine Zeit gibt,
wo (meine Liebe von mir)
vergessen werden könnte,
so kann ich nur wie der Schilfkranich
von Liebe verwirrt
laut klagen.
(S. 21)

Verfasser unbekannt

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XI, 75.

Wenn der Morgen anbricht,
verbringe ich den Tag in Klagen,
die so beständig sind
wie das unaufhörliche Zirpen der Zikaden,
während ich nachts
(vor ungestillter Sehnsucht)
wahrlich wie ein
Glühwürmchen brenne.
(S. 21)

Verfasser unbekannt

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XII, 4.

Wenn der herbstliche Wind
mich Kälte fühlen läßt,
hoffe ich in jeder dunkelnden Nacht,
daß die herzlose Geliebte
endlich (zu mir kommen wird).
(S. 21-22)

Sosei-hoshi (bis etwa 916)
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XII, 19.

Wie sehne ich mich nach ihr,
ob schlafend ob wachend,
in ganz törichter Weise.
Wohin soll ich mein Herz hintun,
damit ich sie vergesse? . . .
(S. 22)

Verfasser unbekannt

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XI, 82.

Wie der Schaumschnee,
kaum daß er sich (auf den Zweigen)
aufhäuft, wieder zerbröckelt,
so zerbricht (auch mein Herz)
zur Zeit, wo meine trüben Gedanken
üppig gedeihen.
(S. 22)

Verfasser unbekannt

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XI, 83.

Da meine Liebe übermäßig ist,
so wird man wohl sagen,
daß ich (vor lauter Liebe) vergehe,
wie der fallende Schnee,
der im Innern der Berge
die Suga-Blätter unter
seiner Last erdrückt.
(S. 22-23)

Verfasser unbekannt

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XII, 13.

Vor Liebessehnsucht
bin ich ganz weggeschmolzen,
wie der Reif, der auf der
Asternhecke bei meinem Hause liegt.
(S. 23)

Verfasser unbekannt

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XI, 70.

Es ist kein Mensch da,
der mein Gefühl versteht,
als ob es die Wassertiefe wäre,
auf deren Oberfläche Wasserlinsen
dicht gewachsen sind.
(S. 23)

Verfasser unbekannt

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XI, 72.

Oh, könnte man doch
die Herzen austauschen! . . .
Ich würde (dann)
der geliebten Person zeigen,
wie schmerzlich
einseitige Liebe ist.
(S. 23-24)

Verfasser unbekannt

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XII, 16.

Da die Tränen aus Liebe zu dir
mein Lager überschwemmt haben,
so bin ich (der ich bereit bin)
Leib und Leben (für dich) zu lassen,
wahrlich zu einem
Flußmeßpfad geworden.
(S. 24)

Okikaze (um 900)
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XII, 21.

Wenn die Tränen (die ich) aus Liebe
zu dir (vergieße) nicht wären,
so würde mein chinesisches Gewand
an der Brust mit (Feuer-) Farbe
(meiner flammenden Leidenschaft) brennen.
(S. 24)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XII, 22.

Mein Tränenfluß, der zusammen
mit meinem Leben
unaufhaltsam dahinfließt,
ist fürwahr zum Wasserschaum geworden,
der nicht einmal
im Winter einfriert.
(S. 24-25)

Verfasser unbekannt

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XI, 61.

Während ich doch
keine (Fischer-) Fackel bin
(deren brennender Reflex
sich im Flusse wiederspiegelt),
warum werde ich wohl so glühen,
wenn ich auf dem Tränenfluß schwimme?! . . .
(S. 25)

Verfasser unbekannt

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XI, 62.

Trostlos ist es, daß ich
wie ein Reflex der (Fischer-) Fackel
geworden bin, die den Fluß herabfließt und glüht,
wie auch ich (auf dem Tränenfluß)
schwimmend weiterlebe
und dabei (vor Liebe)
innerlich verbrenne.
(S. 25)

Verfasser unbekannt

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XI, 77.

Wenn es Abend wird,
setzt sich auf meine Ärmel,
die ohnehin schon
(vor lauter Tränen) schwer trocken werden,
noch der herbstliche Tau
dauernd hinzu.
(S. 26)

Verfasser unbekannt

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XI, 78.

Meine Liebessehnsucht hört
zwar (auch so) nimmer auf,
aber an herbstlichen Abenden
ist sie ganz besonders heftig.
(S. 26)

Verfasser unbekannt

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XI, 49.

Wenn man das Leben gegen
die Liebe austauschen könnte,
ach wie leicht dürfte dann
das Sterben werden! . . .
(S. 26)

Verfasser unbekannt

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XII, 64.

Was ist denn das Leben? . . .
Ein Ding vergänglich wie der Tau . . .
Wenn ich es gegen ein
Zusammenkommen (mit der Geliebten)
austauschen könnte,
so würde ich es nicht bereuen.
(S. 26-27)

Tomonori (etwa 850-915)
_____



XIII, 6.

Da die Nächte, in denen wir
nicht zusammenkamen,
sich wie der niederfallende weiße Schnee
aufgehäuft haben,
so muß sogar ich
(der ich doch kein Schnee bin)
mit ihm zusammen zerschmelzen . . .
(S. 27)

Verfasser unbekannt

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XII, 60.

Meine Liebessehnsucht weiß nicht,
wohin sie sich wenden soll.
Ich glaube, daß sie nur
in einem endlosen Beisammensein
(mit der Geliebten)
ihr Ende nehmen wird.
(S. 27)

Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XII, 62.

Nur das Vertrauen zu deinem Wort,
daß wir uns recht bald sehen werden,
erhält mich am Leben;
sonst würde ich schon längst
vor Liebessehnsucht
gestorben sein.
(S. 28)

Fukayabu (um 908-930)
_____



XII, 63.

In beständigem Hoffen
sind die Jahre vergangen,
ohne daß wir zusammenkamen;
möge doch die Geliebte
endlich mein nicht einmal
von jahrelanger Täuschung
gewarntes Gefühl erkennen . . .
(S. 28)

Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XIII, 37.

Wenn du mich liebst,
so gedenke meiner nur
in deinem tiefsten Innern,
bekenne aber keineswegs Farbe
eines mit der Wurzel des Purpurgrases
gefärbten Kleides.
(S. 28-29)

Verfasser unbekannt

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XIII, 52.

Aus Schmerz darüber,
daß ich nur heimlich lieben darf,
werde ich gänzlich
in Verwirrung geraten wie Perlen,
deren Schnur zerrissen ist . . .
Die Leute sollen mich
darob nicht tadeln.
(S. 29)

Tomonori (etwa 850-915)
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XIII, 12.

Gleichwie Wellen, die sich schon
von vornherein in der Windstille erheben,
noch ehe der Wind bläst,
ist vorzeitig ein übles Gerede aufgekommen,
ohne daß wir wirklich
zusammengekommen sind.
(S. 29)

Verfasser unbekannt

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XIII, 42.

Im Zustande einer grenzenlosen Sehnsucht
werde ich nachts (im Traume)
zu dir kommen;
die Leute werden (doch hoffentlich)
nicht sogar den Traumweg tadeln.
(S. 29-30)

Verfasser unbekannt

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XIII, 58.

Unsere Zusammenkünfte sind nur (kurz)
wie eine Perlenschnur;
das Gerede aber, das sich darüber erhebt,
ist (so laut) wie die brausende Strömung
des Yoshino-Flusses.
(S. 30)

Verfasser unbekannt

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XIII, 59.

Jetzt bin ich wieder ins Gerede geraten,
wie eine Vogelschar (plötzlich) aufsteigt;
auch wenn ich so täte,
als ob nichts geschehen wäre,
würde es mir denn etwas nützen?! . . .
(S. 30)

Verfasser unbekannt

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XIII, 60.

Wie der Frühlingsdunst sich
über den Blumen erhebt
und sich sowohl in den Feldern
als auch in den Bergen verbreitet,
so hat sich deinetwegen
über mich ein Gerede erhoben
und überall verbreitet.
(S. 30-31)

Verfasser unbekannt

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XIII, 61.

Während ich (um meine Liebe geheimzuhalten)
sogar ohne ein Kopfkissen zu benutzen
geschlafen habe,
da man behauptet,
daß es (von den gehegten Gefühlen) erfährt,
wird mein Name,
der ja kein (in die Luft sich erhebender) Staub ist,
doch überall ins Gerede kommen.
(S. 31)

Ise (etwa 875-939)
_____



XIV, 27.

Glaube nicht, daß (unsere Liebe) aufhören wird,
wenn auch die Gerüchte immer üppig wuchern,
wie das sich wiederholende Haspeln
der Seidenfäden, die im Sommer
mit der Hand gezogen werden.
(S. 31)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 14.

Ich bin kein (so ängstlicher) Mann,
daß ich aufhören sollte,
den Tatsuta-Fluß zu überschreiten
(um zu dir zu gelangen),
weil mein Name ganz grundlos und vorzeitig
in einen schlechten Ruf geraten ist.
(S. 31-32)

Miharu no Arisuke
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XIII, 16.

Da ich in einer Welt lebe,
in der die geliebte Person
nicht abstoßend ist, so (fühle ich mich
zu ihr dauernd hingezogen und )
werde wohl wieder
in einen schlechten Ruf geraten sein,
von den üblen Erfahrungen nicht gewarnt.
(S. 32)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 17.

Als ich im Osten die fünfte Querstraße passierte,
wurde ich mit einer Person bekannt, die ich nun öfters besuchte.
Da es ein heimlicher Platz war (an dem wir uns trafen),
konnte ich durch das Tor nicht eintreten,
und da es sich oft wiederholte, daß ich durch eine
eingefallene Stelle im Zaun kam und ging,
so bemerkte es zufällig der Besitzer und ließ jenen Weg bewachen,
indem er jede Nacht einen Mann dahin postierte.
Obgleich ich kam, konnte ich (die Geliebte)
doch nicht treffen und mußte nur (unverrichteter Weise)
zurückkehren. Aus dieser Veranlassung verfaßt und abgeschickt.

Der Barrierewächter, der unseren
heimlichen Verbindungsweg bewacht,
möge er doch in jeder Nacht
ein Schläfchen machen.
(S. 32-33)

Narihira no Ason (825-880)
_____



XIII, 15.

Was die Leute (meinen), weiß ich nicht.
Da ich aber unsern schlechten Ruf bedauere,
so werde ich sagen, daß ich
(die betreffende Person) weder früher,
noch jetzt gekannt habe.
(S. 33)

Motokata
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XIII, 34.

Weder dein Name, noch der meine
sollen in üblen Ruf geraten.
Sage nicht, daß du mich in der Mitsu-Bucht
von Naniwa gesehen hast,
wie auch ich nicht sagen werde,
daß wir zusammengekommen sind.
(S. 33-34)

Verfasser unbekannt

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XIII, 18.

Zur Zeit, wenn ich Liebessehnsucht hege,
gehe ich, so sehr ich mich auch sehne,
erst in der Dunkelheit heraus zu dir,
wenn der Mond hinter den
unwegsamen Bergen erscheint.
(S. 34)

Tsurayuki (860/1-945/6)
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XIII, 41.

In Wirklichkeit ist es zwar so,
aber wie trostlos ist es davon zu träumen,
daß man sogar im Traume
die Augen der Leute
(aus Angst vor übler Nachrede) scheuen muß.
(S. 34)

Komachi (zwischen 859 und 877)
_____



XIII, 49.

Werde ich denn (so plump) lieben,
daß die Leute auch nur vom Hören davon erfahren,
wie man vom Otowa-Berg
 in Yama-shina (hört)?! ...
(S. 34-35)

Verfasser unbekannt

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XV, 65.

Das sollst du dir jedenfalls merken:
erzähle keineswegs, daß du
meinen Wohnsitz gesehen hast,
falls die Leute dich darüber aushorchen.
(S. 35)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 40.

Da das Gerede der Leute
in dieser vergänglichen Welt
üppig wuchert,
so muß es so sein,
als ob wir uns einander
entfremdet hätten,
während wir doch (in Wirklichkeit)
einander nicht vergessen.
(S. 35)

Verfasser unbekannt

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XIV, 14.

Ohne die Fichtenbrettertür zu schließen,
habe ich mich in der 16. Nacht des Monats
zögernd niedergelegt (mit dem Gedanken):
wird die Geliebte herkommen,
oder soll ich hingehen?! . . .
(S. 35-36)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 16.

Wenn ich der geliebten Person sagen lasse,
daß die Mondnacht eine gute Nacht ist,
so ist es so, als ob ich sagte: "komm!";
ich bin wirklich in Erwartung.
(S. 36)
_____



XIV, 17.

Falls du nicht kommst,
werde ich nicht einmal
ins Schlafgemach hineingehen,
wenn sich auch auf mein tief-purpurnes
Zopfband der Reif setzt.
(S. 36)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 25.

Seit dem Morgen, an dem er Abschied nahm,
indem er sagte, daß er bald wiederkommen werde,
verbringe ich die Tage in trüben Gedanken,
indem ich wie eine Zikade
nur mit lauter Stimme klage.
(S. 36-37)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 26.

Weil ich in Gedanken versunken bin,
ob (die geliebte Person) wohl kommen wird,
so trete ich in der Abenddämmerung,
wo die Zikaden zirpen,
vor das Tor hinaus und warte.
(S. 37)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 20.

Nur dem Namen nach
war es eine herbstliche Nacht.
Während man doch behauptet
(sie sei lang genug), um zusammenzukommen,
ist es gleich ohne weiteres
hell geworden.
(S. 37)

Komachi (zwischen 859 und 877)
_____



XIII, 21.

Wenn man auch denkt,
daß (die herbstliche Nacht) lang ist,
so bin ich gar nicht dieser Meinung;
denn seit uralten Zeiten
ist die herbstliche Nacht
das Wesen der Person,
mit der man zusammenkommt.
(S. 37-38)

Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XIII, 22.

Wenn die Nachtdämmerung
sich allmählich schimmernd aufhellt,
ist es traurig, daß jeder von uns
sein Kleid wieder anziehen muß.
(S. 38)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 26.

Die Stimme des Bergkuckucks
in der Morgendämmerung,
in der ich mich erhob und Abschied nahm,
als noch der Morgentau lag,
war sie ein Traum oder Wirklichkeit? . . .
(S. 38)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 30.

Als Narihira sich nach der Provinz Ise begeben hatte,
traf er sich ganz heimlich mit einer Person,
die eine Kultprinzessin war.
Als es am nächsten Morgen keine Möglichkeit gab,
jemanden zu ihr zu schicken und er darob
in trübe Gedanken versunken war,
wurde ihm von der Frau (dieses Gedicht) zugeschickt.

Bist du zu mir gekommen,
oder werde ich etwa zu dir gekommen sein,
ich weiß es nicht mehr . . .
War es im Schlafen oder im Wachen,
Traum oder Wirklichkeit?! . . .
(S. 38-39)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 19.

Nachdem ich mich so lange
nach dir gesehnt habe
und wir endlich in dieser Nacht
zusammenkommen,
möge doch der Hahn von Osaka
ausnahmsweise in dieser Nacht
seine Stimme nicht ertönen lassen.
(S. 39)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 25.

Noch früher als der Hahn zu schreien begann,
habe ich zuerst zu klagen angefangen,
da ich über den Abschied
in der Morgendämmerung traurig bin.
(S. 39-40)

Utsuku
(Sohn des Kaisers Nimmyo 834-850, wurde Urin-in no miko genannt)
_____



XIII, 23.

Nachdem in mir bei anbrechender
Morgendämmerung der Entschluß
gereift ist: "jetzt (muß ich gehen)",
warum werden da wohl so unsäglich
traurige Gedanken hinzukommen?! . . .
(S. 40)

Fujiwara no Kunitsune no Ason
_____



XIII, 24.

Gedicht (verfaßt) bei einem Liederwettkampf
der Kaiserin in der Kwampyo-Ära

Bei anbrechender Morgendämmerung
bin ich auf dem Rückwege (von dir)
sowohl vom Regen, als auch
von (Abschieds-) Tränen,
die (beide) heftig herabfielen,
vollständig durchnäßt worden.
(S. 40)

Fujiwara no Toshiyuki no Ason (bis 901)
_____



XIII, 28.

Heute morgen habe ich wahrhaftig
nicht gewußt, in welchem Zustand
ich aufgestanden bin.
Es ist doch traurig,
daß bei Anbruch des Tages
die Erinnerung (an in der Nacht Erlebtes) erlischt,
(gerade so wie) der Reif,
der sich heute morgen gesetzt hat,
ebenfalls zerschmilzt.
(S. 41)

Oe no Chisato
_____



XIV, 25.

Ist etwa selbst der Donnergott,
der das Himmelsgefilde unter seinem Tritt
erdröhnen läßt, imstande,
unser Liebesverhältnis
zu zerspalten?! . . .
(S. 41)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 47.

Werde ich denn deine Liebe vergessen,
die so tief empfindet,
wie tief purpurrot die Färbung
der ersten Blüten ist?! . . .
(S. 41-42)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 5.

Von der Sehnsucht, dich zu sehen,
werde ich dauernd verlockt
(dich aufzusuchen),
obgleich ich nur vergebens
komme und gehe . . .
(S. 42)

Verfasser unbekannt

_____



XIII, 7.

In der Nacht, wo ich heimkehrte,
ohne daß wir uns trafen,
sind meine Ärmel (von Tränen der Enttäuschung)
nässer geworden,
als wenn ich am Morgen
durch die (taufeuchten) Bambussträucher
des herbstlichen Feldes hindurchschreite.
(S. 42)

Ariwara no Narihira no Ason (825-880)
_____



XIV, 15.

(Ich verließ mich) nur darauf,
daß du sagtest, du würdest bald kommen;
so habe ich denn bis zum Aufgang
des Morgendämmerungsmondes
des 9. Monats gewartet.
(S. 42-43)

Sosei-hoshi (bis etwa 916)
_____



XIV, 9.

Man muß wohl das Herz fürwahr
als ein unvernünftiges Ding betrachten;
würde ich denn sonst
solche Liebessehnsucht
nach dir empfinden,
während ich dich doch sehe?! . . .
(S. 43)

Fukayabu (um 908-930)
_____



XIII, 33.

Im Mondenschein, der das Firmament
durchquert, wenn sich die Nacht vertieft hat,
erblicke ich dich endlich,
ohne mich sattsehen zu können.
(S. 43)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 44.

Sogar auf dem Felsen wächst die Kiefer auf,
wenn nur Samen vorhanden sind;
sollte man da nicht (mit der Geliebten)
zusammenkommen können,
wenn man nur immer
mit (tiefer) Liebe liebt?! . . .
(S. 43-44)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 45.

Es ist eine Welt,
in der das Liebesgefühl
nur vergeblich hin und her schwankt,
wie der jeden Morgen aufsteigende
Morgennebel im Luftraum schwebt.
(S. 44)

Verfasser unbekannt

_____



XII, 2.

Während ich ganz allein schlafe,
sind die Ärmel meines Gewandes
noch viel kälter geworden
als der Reif, der sich auf
die Blätter des Sasa-Bambus setzt.
(S. 44)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 28.

Während ich denke, daß er jetzt
nicht mehr kommen wird,
vergesse ich es doch fortwährend,
und das Warten hört leider
immer noch nicht auf.
(S. 44)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 69.

Wenn es Abend wird
und ich das Lager,
auf dem die Geliebte fehlt,
vom Staube säubere,
(denke ich) daß ich wohl
nur dazu existiere,
um zu seufzen.
(S. 45)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 76.

Daß ich mich um mich selbst nicht kümmere,
wie die Nachtmotte (die ins Feuer fliegt und verbrennt),
geschieht wegen der einzigartigen
flammenden Sehnsucht (nach dir).
(S. 45)

Verfasser unbekannt

_____



XII, 49.

Ich, der ich die Sommerinsekten
nutzlos nannte,
(weil sie in das Feuer fliegen),
muß jetzt von Herzen in Flammen
der Sehnsucht verbrennen . . .
(S. 45)

Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XIV, 33.

Da die Bäume zahlreich geworden sind,
um die sich die Schlingpflanze windet,
so erfreut mich nicht ein Gefühl,
das sich (von anderen Leuten)
noch nicht losgelöst hat.
(S. 46)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 34.

Du Bergkuckuck, der du deine Stimme erhebst,
als ob du gleich hier geschlafen hättest,
in wessen Heim (hast du geweilt),
als du dich nachts vom gewohnten Orte fernhieltest?! . . .
(S. 46)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 15.

Im Flügelschlag der Wildenten
in der Morgendämmerung,
in ihrem hundertfachen Flügelschlagen
zähle ich nur die Nächte,
in welchen du nicht gekommen bist.
(S. 46)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 24.

Während ich auf die herzlose Geliebte
gewartet habe,
ist mein Garten so verwildert geworden,
daß sogar kein Durchgang mehr
vorhanden ist.
(S. 47)

Sojo Henjo
_____



XIII, 9.

Wenn diese Nacht sich aufhellt,
ohne daß wir zusammenkommen,
so werde ich die Geliebte so lange,
wie ein Frühlingstag ist,
für gefühllos halten.
(S. 47)

Minamoto no Muneyuki no Ason
_____



XIV, 35.

Was die Menschen anbelangt,
so ist leider nur ihre Rede gut,
während ihre wirkliche Gesinnung
von veränderlicher Farbe ist,
als ob sie vom Anhefte-Kraut
übertragen wäre.
(S. 47-48)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 36.

Wenn die Welt ohne Lüge wäre,
wie sehr würden dann die
(Liebes-) Beteuerungen
der geliebten Person
erfreulich sein! . . .
(S. 48)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 37.

Weil ich (deine Reden)
als Lüge betrachte,
während ich dich liebe,
zu wessen Glaubwürdigkeit
soll ich von jetzt an
noch Vertrauen haben?! . . .
(S. 48)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 2.

Während ich dich nur
im Verborgenen innig liebte,
hast du dich öffentlich,
wie die blühende Susuki in Ähren schießt,
mit einem andern verbunden.
(S. 48-49)

Fujuwara no Kanesuke no Ason (877-933)
_____



XV, 6.

Während bei mir,
obgleich ich die Geliebte gesehen habe,
der Wunsch vorhanden ist,
sie immer wieder und wieder zu sehen,
scheint sie (im Gegenteil)
abgeneigt zu sein,
es zur Gewohnheit werden zu lassen.
(S. 49)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 17.

Da der Sprühregen (der Tränen)
verfrüht auf meinen Ärmel gefallen ist,
so werden wohl in dein Herz
herbstliche Stimmung und Überdruß
eingezogen sein.
(S. 49)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 74.

Das Zusammenkommen im Herbst
im Überdruß des Herzens
ist wahrlich noch trauriger,
als das Verfärben der Blätter
und das Verändern der Worte
im dauernd fallenden Sprühregen.
(S. 49-50)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 75.

Auf dem Felde von Musashi,
wo der Herbstwind wehte und wehte,
haben sämtliche Kräuter und Gräser
ihre Farbe verändert,
so wie auch du im Überdruß
deine Gesinnung geändert hast.
(S. 50)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 38.

Narihira stand in intimen Beziehungen zu der Tochter
von Ki no Aritsune. Als einmal Unstimmigkeiten
entstanden und er eine Zeitlang nur am Tage
zu kommen und bei Anbruch der Nacht
wieder zu gehen pflegte, (von ihr) verfaßt und abgeschickt.

Du wirst mir allmählich so fremd
und fern wie die Himmelswolken,
da du ja kaum vor meinen Augen erscheinst.
(S. 50)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 42.

Die Worte der Geliebten,
die immer herzloser wird,
sind wahrlich (so sehr veränderliche) Blätter,
daß sie noch vor Anbruch des Herbstes
schon zu Rotblättern geworden sind.
(S. 51)

Minamoto no Muneyuki no Ason
_____



XV, 53.

Wenn ich auch an die sich
mir entfremdende Geliebte denke,
was soll ich denn tun?! . . .
Ich betrachte sie fürwahr als eine Blüte,
die abgefallen ist,
ohne daß ich ihrer überdrüssig war.
(S. 51)

Sosei-hoshi (bis etwa 916)
_____



XIV, 41.

Gerade bevor wir einander
überdrüssig geworden sind,
werden wir uns trennen,
während wir uns noch lieben werden;
dies wenigstens werden wir
als ein unvergeßliches Andenken
für spätere Zeiten (behalten).
(S. 51-52)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 43.

Grolle mir nicht darob,
daß ich dich vergessen möchte;
so wie man den Kuckuck im Herbst treffen wird
(da er ja nur im Sommer erscheint),
ebenso möchte ich mich nicht
dem Überdruß deiner herbstlichen
Stimmung aussetzen.
(S. 52)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 52.

Oh, könnte ich doch recht bald
in der nächstkommenden Welt sein! . . .
Dann werde ich die (jetzt) vor meinen Augen
so herzlose Person als zur Vergangenheit
gehörend betrachten.
(S. 52)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 53.

Indem man eine gleichgültige Person liebt,
seufzt man leider (nur so laut),
bis das Bergecho
Antwort gibt.
(S. 52-53)

Verfasser unbekannt

_____



XI, 54.

Was noch nutzloser ist,
als auf der Oberfläche des fließenden Wassers
Zahlen zu schreiben,
ist die Liebe zu einer Person,
die einen nicht wiederliebt.
(S. 53)

Verfasser unbekannt

_____



XII, 51.

Wenn es mir möglich wäre,
mich in den Mondschein zu verwandeln,
so würde selbst eine herzlose Person
mich wohl für lieblich halten.
(S. 53)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 16.

Jetzt sind wohl (unsere Beziehungen)
endgültig abgebrochen,
wie man schöne Schlingspflanzen
auseinanderreißt;
nicht einmal durch die
vom blasenden Winde (verbreiteten) Gerüchte
werde ich von dir zu hören bekommen.
(S. 53-54)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 81.

Da ich ganz traurig bin,
so möchte ich zu Schaum werden,
der im Schwimmen vergeht;
denn selbst wenn ich
weiter dahinlebe,
hoffe ich doch auf nichts mehr.
(S. 54)

Tomonori (850-915)
_____



XV, 82.

Wie der Yoshino-Fluß im Fließen
mitten zwischen den Bergen Imo
und Se herabströmt,
ebenso entsteht beim Dahinleben
im Verhältnis zwischen Mann und Frau (eine Spaltung).
So ist es eben in dieser Welt.
(S. 54)

Verfasser unbekannt

_____



XIV, 22.

Wer mag wohl die Liebe
mit diesem Wort bezeichnet haben? . . .
Er hätte sie geradezu "Sterben" nennen sollen.
(S. 55)

Fukayabu (um 908-930)
_____



XIII, 10.

Seitdem ich von ihr Abschied genommen habe,
wobei sie mir so kalt
wie der Morgendämmerungsmond erschienen ist,
gibt es für mich nichts traurigeres
als den Morgendämmerungsmond.
(S. 55)

Tadamine (etwa 880-920)

_____



XIV, 55.

Wenn ich im fallenden Frühlingsregen
eine alte Bekannte sehe
und wie beim Luftflimmern (nicht weiß),
ob es dieselbe Person ist oder nicht,
dann werden meine Ärmel
(von Tränen des Kummers) naß.
(S. 55-56)
_____



XIV, 57.

Wenn ich das Lager,
das (von den vielen Tränen) wüst
wie ein Ozean geworden ist,
jetzt von neuem säubere,
so werden meine Ärmel wohl
wie Schaum (auf dem Meere) schwimmen.
(S. 56)

Ise (etwa 875-939)
_____



XIV, 58.

Immer noch kehrt mein Herz
beständig zu vergangenen Zeiten zurück,
ohne das in der Liebe Gewesene
zu vergessen.
(S. 56)

Tsurayuki (860/1-945/6)
_____



XIV, 10.

Wie die Sommergräser tief (und üppig wachsen),
ohne von den späteren Zeiten,
wo sie ganz verwelken werden,
etwas zu wissen,
ebenso tief denke auch ich
an die Geliebte,
ohne von der Zukunft,
wo wir uns (vielleicht) trennen werden,
zu wissen.
(S. 56-57)

Ochi Kochi no Mitsune (blühte etwa 890-910)
_____



XIV, 38.

Wenn die Blätter der Bäume im Gebirge
ihre Farbe im herbstlichen Winde verändern,
so bin ich nachdenklich,
wie es da wohl
mit dem Gefühl der Geliebten
sein wird . . .
(S. 57)

Sosei-hoshi (bis etwa 916)
_____



XV, 35.

Wie die herbstliche Hagi allmählich verblaßt,
da der bald hier bald dort
über das Feld wehende Wind kalt ist,
ebenso verändert sich auch
das Herz der Geliebten.
(S. 57)

Utsuku
(Sohn des Kaisers Nimmyo 834-850, wurde Urin-in no miko genannt)
_____



XV, 49.

In dieser vergänglichen Welt
ist das menschliche Herz
von einer gleichwie mit Blumensäften erzeugten,
allzu leicht veränderlichen Farbe.
(S. 57-58)

Verfasser unbekannt

_____



XV, 51.

In dieser vergänglichen Welt
ist das menschliche Herz wahrlich
zu einer Blume geworden,
die sich verändert,
ohne Farbe zu bekennen.
(S. 58)

Komachi (zwischen 859 und 877)
_____



XV, 60.

Da ich einer bin,
dessen Sehnsucht nicht erlischt,
so betrachte ich mein Schicksal als traurig;
es ist eben eine Welt,
in der man nur auf solche
(qualvolle) Weise dahinlebt.
(S. 58)

Verfasser unbekannt

_____

Aus: Altjapanische Liebespoesie aus dem Kokinshu
Übersetzt und erläutert von Alexander Chanoch [1894-unbekannt]
In: Asia Major Band 6 1930

 

Wir haben in der obigen Darstellung versucht, eine Gruppierung des Stoffes nach den in der Liebespoesie vertretenen Hauptmotiven vorzunehmen, um an Hand von zitierten Beispielen den in sich abgeschlossenen, inneren Ablauf des Liebeslebens zu zeigen. Seine sämtlichen Stadien, sowie die verbindenden Zwischennüancen ziehen an uns in dieser Zusammenstellung vorbei: heimliche Sehnsucht und Werbung, Geständnis und Zurückhaltung, Gewährung und Ablehnung, Erfüllung und Überdruß, Untreue und Eifersucht, Entfremdung und Trennung, Abschiedstränen und kummervolle Erinnerungen.
Fast allen Gedichten ist eine traurige Stimmung gemeinsam; man hat die Empfindung, als ob die Dichter der Liebe einen nur tragischen Aspekt abzugewinnen vermochten. Die Verfasser verweilen mit Vorliebe auf den schmerzlichen Begleiterscheinungen des Liebeslebens und ergehen sich in jammernden Ergüssen über die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich der Erfüllung ihrer Wünsche in den Weg stellen. Über die zweifellos vorhanden gewesenen helleren Seiten ihres Liebeslebens finden wir nur knappe Andeutungen und vermissen den Ausdruck von Seligkeit über die genossenen Liebesfreuden.
Der Grund oder besser die Gründe dafür sind uns klar. Es ist zunächst die buddhistische Weltanschauung, die sowohl den Gemütern der Dichter, als auch deren Erzeugnissen ihren unverkennbaren Stempel aufdrückt. Von dieser Betrachtungsweise der Dinge durchdrungen, erlebte man in allen Lebenserscheinungen dieser irdischen Welt vor allem ihre Unbeständigkeit und Kürze, ihre in ihnen bereits lauernde, unabweisbare Vergänglichkeit, - und der sich augenblicklich bietende Genuß war durch diese nicht zu betäubende Erkenntnis von vornherein verleidet.
Man wird allerdings auch annehmen müssen, daß die höfischen Kreisen entstammenden Dichter in ihren Liebesgedichten einen ganz bestimmten, damals üblichen Stil folgten; sie mußten sich eben an eine für sie normative Geschmacksrichtung halten, um der Wirkung ihrer Dichtung einigermaßen sicher zu sein. Wir gehen wohl in der Vermutung nicht fehl, daß für Japans höfische Liebesdichtung jener Zeit die "unglückliche Liebe" als Hauptmotiv vorgeschrieben war, genau so wie für europäischen Minnesänger.
Und so sehen wir denn die unglückliche Liebe als immanente, tragische Schicksalsgegebenheit im Mittelpunkt dieser Gedichte. In irgendeiner Beziehung ist die Liebe für die Dichter immer schmerzlich und kummerbringend. Der Wunsch, die Geliebte zu sehen (miru) und kennenzulernen (shiru); mit ihr zusammenzukommen (au) und zu leben (sumu), scheint niemals in voller Weise befriedigt zu werden. Das wird aber durchaus verständlich, wenn man bedenkt, daß in der Liebespoesie der Heian-Periode (792-1186) die eben erwähnten vier Verben nur als Umschreibungen für die zu einem intimen Verhältnis führende körperliche Annäherung dienten.
Wir erkennen auf diese Weise, daß wir es in den meisten Gedichten nicht mit einem in der Seele verwurzelten, tiefen Gefühl zu tun haben, sondern mit einer stark sinnlich betonten Sehnsucht oder, noch besser gesagt, mit einer Leidenschaft, die, falls nur selten oder mangelhaft befriedigt, schon allein aus physiologischen Gründen zu akuten Depressionen führen mußte. Allerdings wurde das Objekt der Leidenschaft dadurch nur noch begehrenswerter, allerdings erschien die schwer erreichbare Geliebte nur noch liebreizender, aber dadurch wurde eher eine Steigerung als eine Milderung der Sehnsucht herbeigeführt. Um wieviel intensiver war also das Leid des Liebenden, wenn seiner Einstellung tiefere Regungen zugrunde lagen, denen er nur bei seltenen günstigen Gelegenheiten, in aller Heimlichkeit, von Gefahren der Entdeckung und des böswilligen Klatsches umgeben, Ausdruck verleihen konnte. Diese Situation, die der Platoschen Definition der Liebe, als eines mittleren Zustandes zwischen Haben und Nichthaben, vollkommen entsprach, war peinlich genug für beide Teile.
Ist aber das Gemüt einmal vom Kummer vergiftet, ist das Liebesgefühl vom Leid getrübt, so wird die endliche Gewährung oder Erfüllung kein frohes, innerlich unbeschwertes Jauchzen auslösen. Irgendwo im Innern, sei es im Bewußtsein, sei es im Unterbewußtsein, wird der latente Druck einer, wenn auch nur leisen Unlust bleiben. Diese Unlust kann gegenstandslos in Form eines leicht störenden Stachels bestehen, kann aber auch gegen eine bestimmte, gegenwärtig oder früher geliebte Person gerichtet sein, als eine immer noch schmerzende Erinnerung an Qualen, die durch imaginäre oder wirkliche Schuld der betreffenden Person einmal erlitten waren. Sie bleibt ein ewiger Mißklang, der auch in Augenblicken des Genießens nicht restlos verschwindet, sondern vielleicht nur weniger grell klingt.
Haben wir es aber in diesen Gedichten vorwiegend nur mit Leidenschaft, nur mit sinnlicher Lust zu tun, so sind die der Erfüllung nächstfolgenden Stadien wie Überdruß, Entfremdung und Trennung nur natürliche, ja sogar gesetzmäßige Erscheinungen. Wenn nur irgend etwas in dieser Welt vergänglich ist, so ist es in erster Reihe die bloße Leidenschaft, die Begierde, die nach ihrer Befriedigung genau so schnell erlischt, wie sie vorher entflammt wurde. Allerdings vergeht sie nur, um bald in vollem Umfang wieder zu erstehen, aber dann wendet sie sich in der Regel an ein anderes Objekt.
Es wäre sowohl psychologisch, als auch kulturhistorisch sehr interessant, an dieser Stelle auch die Haltung der Frau einer besonderen Betrachtung zu unterziehen. Für die Beurteilung des Mannes steht uns ein bei weitem reichhaltigeres Material zur Verfügung, denn die wenigen Dichterinnen sind nur durch wenige Gedichte vertreten. Somit beruht alles, was wir bereits zur allgemeine Charakteristik des Liebeslebens in der Heian-Zeit gesagt haben, auf dem von Dichtern gelieferten Stoff; die oben eingehend zusammengefaßten Motive der Dichtung kennzeichnen in der Hauptsache das Verhalten des Mannes. Wir können aber mit gutem Recht voraussetzen, daß die in diesen Gedichten enthaltenen Liebeserklärungen, Beteuerungen, Sehnsuchtsäußerungen, Klagen und Vorwürfe ganz der jeweiligen Situation entsprangen und zwar als die sich daraus ergebenden Reaktionen auf die entsprechende Haltung der Geliebten. Damit wären also gewisse Anhaltspunkte für eine Beurteilung der Haltung der Frau gegeben, die jedoch mit einiger Vorsicht zu gebrauchen sind.
Fast aus allen Gedichten geht hervor, daß in der Annäherung und Bekanntschaft die Initiative dem Manne gehörte, der in vielen Fällen allerdings im Verhalten der Frau eine Ermutigung hierzu gesehen oder gefühlt haben mag. In ihrem natürlichen Bestreben, Gefallen zu erregen, wußte die Frau sich des altbewährten Mittels zu bedienen - der Koketterie; durch dieses rhythmische Abwechseln von Ja und Nein wurde der Mann in ihrem Banne gehalten. Die Art der Abweisung ließ im Manne die Hoffnung auf eine noch mögliche Gewährung wach bleiben. Die Art der Gewährung hielt ihn dagegen in dauernden Zweifeln über ihre Vorbehaltlosigkeit und Dauer. Wir sehen in so vielen Gedichten, daß die Wonne der Zusammenkunft bei dem Manne meistens mit einer Angst der Verabschiedung vermischt war. Er hatte nur allzu oft die Empfindung, als ob das Lager, auf dem er mit der Geliebten ruhte, von dem im Hintergrunde tückisch lauernden Gespenst der Trennung bereits überschattet sei. Die Haltung der Frau ließ in ihm fast niemals das siegesbewußte Gefühl einer restlosen Besitzergreifung aufkommen. In der Ungewißheit und Unsicherheit, die sich daraus ergab, fand der Mann immer einen gewissen innern Abstand zwischen sich und seiner Geliebten, über den er keine Brücke zu bauen wußte.
Das Liebeserlebnis der Frau war in den meisten Fällen voller, weil ungetrübter; sie hielt, zum mindesten solange sie jung und schön war, sowohl die erste als auch die letzte Entscheidung in ihrer Hand. Dieses Bewußtsein der Macht, die der japanischen Frau auf allen anderen Gebieten bestimmt versagt blieb, verlieh dem Liebesspiel im Erlebnis der Frau einen besonderen Reiz. Hier war freier Raum für Triebe gegeben, die sie sonst, in den eisernen Rahmen der Tradition und der bestehenden Existenznormen eingezwängt, zu verdrängen gezwungen war. Unter solchen Umständen war es doch nicht verwunderlich, daß sie ihr Spiel mit der Entscheidung, ohne das Leid des Mannes zu beachten, oft unnötig in die Länge zog, nur um die seltenen Augenblicke der Macht bis zur Neige auszukosten.
Wie wenig wir geneigt sind, die Rolle der Koketterie im Verhalten der Frau zu verkennen, geht aus den oben dargelegten Betrachtungen mit Deutlichkeit hervor. Aber ebenso klar glauben wir angedeutet zu haben, daß es sich dabei nicht nur oder nicht in sämtlichen Fällen um ein "frivoles" Spiel mit der Herzensneigung des Mannes gehandelt hat. Vielmehr lag dem Verhalten der Frau oft eine tief in ihrem Innern verwurzelte und ihr dabei nicht immer bewußte psychologische Notgedrungenheit zugrunde.
Wir gehen sogar noch weiter, indem wir annehmen, daß das unberechenbare und scheinbar willkürliche Aufeinanderfolgen des Sich-Gebens und Sich-Versagens in vielen Fällen nicht in den Launen der Frau seinen Ursprung hatte, sondern von ihrem Verstand jeweils diktiert wurde. Eine Frau, die sich von irgendwelchen Illusionen über das wahre Wesen der Leidenschaft, von dem wir oben bereits gesprochen, nicht umgaukeln ließ, mußte aus empirischer oder erkenntnistheoretischer Erfahrung wissen, daß eine Befriedigung der Begiere recht bald die Trennung unvermeidlich nach sich zu ziehen pflegte. Daß eine solche Frau aus dieser Erwägung heraus, um sich die Neigung des ihr gefallenden oder von ihr geliebten Mannes möglichst lange zu erhalten, die volle Befriedigung seiner Begierde nicht eintreten lassen wollte und sich ihm häufiger, als es ihr selbst vielleicht genehm war, versagte, kann also keineswegs als bloße Koketterie gedeutet werden. Diese Haltung wurde im Gegenteil meistens von einem mehr oder weniger tiefen Gefühl veranlaßt.
Der Mann, der sich bedenkenlos in jedes Liebesabenteuer zu stürzen bereit war, weil er es nur als ein solches betrachtete, hatte in der Regel keinerlei Konsequenzen zu tragen. Er betrachtete es eben als seine unantastbare Prärogative, wie ein bunter Schmetterling von einer duftenden Blüte zur andern zu flattern. Zwar ließ er in den Gedichten hier und da Befürchtungen wegen seines guten Rufes laut werden, aber es war doch nicht allzu ernst gemeint, galante Abenteuer wurden einem Manne leicht verziehen.
Dagegen war die Lage der Frau ganz erheblich komplizierter, zunächst schon aus dem Grunde, weil die Initiative in der Annäherung für sie unmöglich war. Gewiß stand es ihr frei, für sich in ihrem Innern die Wahl ihres Herzens zu treffen, aber es blieb ihr im Rahmen der Gesamtsituation versagt, um die Gunst des ihr gefallenden Mannes zu werben. Der Mann hatte stets die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der umworbenen Frau auf sich zu lenken, auch wenn er um ihres guten Rufes willen an der nötigen Vorsicht nicht fehlen ließ. Die Frau konnte zwar ihre Neigung durch Gebärde und Mienenspiel, durch Lächeln und verstohlene Blicke andeuten, aber es half ihr wenig, wenn der nichts davon ahnende Mann ihr keine Beachtung schenkte. Dabei mußte sie die größte Vorsicht walten lassen, denn für sie war ein schlechter Ruf mit den größten Schwierigkeiten und Nachteilen verbunden.
War sich die Frau über die oben dargelegten Erscheinungsformen des Liebeslebens überdies im Klaren, so war ihr Bewußtsein, während sie ein Liebesverhältnis einging, von einer solchen Masse von Bedenken und Befürchtungen belastet, so waren an ihre Hingabe in ihrem Herzen so viele Vorbehalte geknüpft, daß ein schwankendes Verhalten ihrerseits, über das viele Dichter sich beklagen, unvermeidlich erschien.
Der von gedankenloser Ungeduld geplagte Mann, der von diesem Seelenzustand der Frau keine Ahnung hatte, fand für ihre Haltung keine andere Bezeichnung als "herzlos" (tsurenaki); es war eben eine Verlegenheitsdefinition dafür, was für ihn im Wesen der Frau irrational war und blieb.
Natürlich hat es Männer gegeben, die von tiefen Gefühlen beseelt gewesen waren, wie auch Frauen, die sich der Koketterie aus bloßer Liebe zu dieser Kunst befleißigten und ein flüchtiges Liebesabenteuer nicht ausschlugen. Und wenn es vorkam, daß Mann und Frau, von gleichen Intentionen durchdrungen, zusammenkamen, so war zunächst kein Boden für Kollisionen und Konflickte gegeben, was jedoch die Möglichkeit ihres späteren Entstehens nicht ausschloß.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, das japanische Liebesleben der Heian-Zeit erschöpfend zu behandeln; auch wäre es an Hand des nur im Kokinshu enthaltenen Stoffes nicht möglich. Wir mußten es daher darauf ankommen lassen, nur einige psychologischen Streiflichter auf eine Reihe von Einzelsituationen zu werfen, wie wir sie aus spärlichen Andeutungen haben entstehen sehen. Daß die Richtigkeit einer solchen, Jahrhunderte späteren Rekonstruktion und dazu noch auf Grund eines recht mangelhaften Tatsachenbestandes nur bedingt sein kann, sehen wir vollkommen ein.
Gegen unsere Ausführungen kann der Einwand erhoben werden, daß viele von den behandelten Gedichten bei Gelegenheit von höfischen Liederwettkämpfen (uta-awase) entstanden sind, daß sie sich somit auf eine nur imaginäre Situation beziehen. Auch können Zweifel an der Aufrichtigkeit und Intensität der in den Gedichten kundgegebene Empfindungen und Gedanken geäußert werden.
Darauf hätten wir zu erwidern, daß bei einer ganzen Reihe von Gedichten die Veranlassungen ihres Entstehens genau angegeben und die damit verbundenen Situationen dadurch deutlich umrissen sind. Ferner kommt es bei unserer Untersuchung gar nicht darauf an, ob das eine oder das andere Liebesverhältnis in Wirklichkeit stattgefunden habe. Für uns ist es viel wichtiger zu wissen, wie das Liebesleben sich in der Vorstellungswelt der Dichter und Dichterinnen abgespielt hat. Also auch solche Gedichte, die bei Liederwettkämpfen entstanden sind, behielten für uns als ein zu untersuchender Stoff ihre volle Geltung.
Auch die Überschwänglichkeit, auf die wir in den Gedichten zuweilen stoßen, haben wir in unseren Betrachtungen nicht unberücksichtigt gelassen. War nicht alles im Gedicht aus unmittelbarer Erfahrung besungen, war es vielfach mit gedankenvoller, oft farbloser Reflexion versetzt, so sollte die Überschwänglichkeit wohl die empfundene Unlebendigkeit der Darstellung verdecken. Versuchte man aber, wirklich Erlebtes und Erfühltes in Form eines Gedichtes zu kleiden, um es der geliebten Person als eine überzeugende Selbstinterpretation darzubringen, so mußte die Wucht des wirklichen Empfindens zu einem nur selbstverständlichen Überschwang führen. In beiden Fällen war aber das Gedicht ein voll zu wertender, selbständiger Akt des Liebeslebens gewesen.
Die Gesamtheit der Gedichte wirkt auf uns etwas monoton. Einen solchen Eindruck hinterlassen aber keineswegs allein die japanischen Gedichte; alle lyrische Dichtung wird eintönig, sobald sie massenhaft hintereinander gelesen wird. Gedichte, die einer gelegentlichen Stimmung entsprungen sind, wollen an und für sich ohne Vergleich mit anderen genossen werden. Umso mehr gilt das für die Liebespoesie des Kokinshu, deren Verfasser ausnahmslos demselben Milieu, derselben Anschauungswelt angehörten.
Wenn auch die Persönlichkeit notwendigerweise in den Vordergrund der Gedichte treten mußte, da sie ja den Mittelpunkt der jeweiligen Situation bildete, so spielt doch auch in den Liebesgedichten die Natur eine große Rolle. Irgendwie ist sie fast in jedem Gedicht vertreten: sei es als flüchtige Erwähnung, sei es als Vergleich, ist sie meistens auf das persönliche Erlebnis bezogen und bildet einen dekorativen Hintergrund, auf dem das Gefühlsleben der Dichter und Dichterinnen sich abspielte.
Daß dieses Gefühlsleben vor uns nur in kurzen Formeln ersteht, ist darauf zurückzuführen, daß die Liebespoesie, wie ja überhaupt fast die ganze Poesie des Kokinshu aus 31-silbigen Gedichten besteht. Durch dieses Format waren die Dichter in ihren Ausdrucksmöglichkeiten behindert; andererseits scheinen sie aber auch kein Bedürfnis gehabt zu haben, längere Explizierungen ihrer Gefühle darzubieten. Wie oft stoßen wir auf Gedichte, wo die Hälfte und sogar noch mehr einer dem Sinn nach vollkommen überflüssigen Vorrede eingeräumt ist, wo das eigentlich gesagte sich in den letzten zwei oder drei Zeilen konzentriert. Auch in den Liebesgedichten galt also der Primat des Ästhetischen; man strebte bewußt nach höchster Formvollendung oder hielt mechanisch an der verbreiteten Kompositionsschablone fest. Manche Gedichte mit ihrer Anhäufung von Wortspielen scheinen wirklich nur aus Freude an der beherrschten Formtechnik verfaßt worden zu sein. Aber selbst wenn man geneigt sein sollte, diese letztere Art von Gedichten mehr als Kunstgewerbe zu bezeichnen, um ihren Unterschied von reiner Kunst zu betonen, so dürfte doch ihre Form eine Stufe der Vollendung erreicht haben, auf der die Grenze zwischen Kunstgewerbe und Kunst verwischt wird.
So kurz die Gedichte auch sind, so wenig sie scheinbar auch sagen, - ihre Wirkung verfehlen sie niemals. Diese Auswirkungen eines fremden, in der fernen Vergangenheit ruhenden Seelenlebens, sind von einer seltsamen Eindringlichkeit, deren Zauber wir uns nicht entziehen können.
(S. 58-66)

Aus: Altjapanische Liebespoesie aus dem Kokinshu
Übersetzt und erläutert von Alexander Chanoch [1894-unbekannt]
In: Asia Major Band 6 1930


 

 

 


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