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      Myrrha 
      Alexandrowna Lochwitzkaja    
      (1869-1905)  
       
          russische 
          Dichterin 
        
        
      Komm, Herrin meiner Seele, die du frühe, 
      o Liebe, schwandest ungehemmten Flugs! 
      Wird nie berauschen mir das Herz, das glühe, 
      das süße Gift des jäh verwehten Trugs? … 
       
      Sie kam! Des Edens Tore stehn mir offen! 
      O Wonnetränen, drin die Welt sich malt! 
      O Seligkeit, zu leiden und zu hoffen! 
      O ewge Schönheit, die mich rings umstrahlt! (S. 61-62) 
      
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      Ein Gewitter gibt's! Ich seh es 
      an der Pappeln bangem Flehn, 
      an dem Hauch des Glutgewehes, 
      an dem Düster der Alleen; 
       
      An der Wolken scheuem Irren, 
      flammendrohend hinterrücks, 
      an dem fiebrisch müden Flirren 
      deines heißgeliebten Blicks. (S. 62) 
      
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      Ich wollt, ich könnte mein Geträum, 
      den gieren Wunsch nach Liebeskosen, 
      in Blumen wandeln insgeheim - 
      doch flammten dann zu grell die Rosen! 
       
      Ich wollt, ich hätt ein Saitenspiel 
      im Herzen. Welch ein Jubelklingen! - 
      Doch würden mir im Glücksgefühl 
      die Saiten meines Herzens springen! 
       
      Ich wollt, mir träumte nur einmal 
      von leidenschaftdurchlohten Küssen - 
      doch würde sterben ich vor Qual, 
      daß ich erwachen werde müssen! (S. 62) 
      
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      Der – sucht das Glück, der – geizt nach Ehren, 
      der – träumt von Ruhm zur Kriegeszeit, 
      der – lechzt nach des Gebetes Zähren 
      und der – will wüste Lustbarkeit. 
       
      Mich aber macht dies Treiben lachen - 
      mir ist ein höhres Glück bewußt! … 
      Ich möchte eines nur: erwachen 
      zu neuem Schlaf – an deiner Brust! (S. 62-63) 
      
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      Ach, was frommt's mir, daß ewig nur anschaust du 
      mich?! 
      Ich verschmachte vor Sinnendurst schier! 
      Durch den endlosen Winter allnächtlich will ich 
      werden heimlich geliebkost von dir! … 
       
      Eine Welt des Genusses, in Liebe verzückt, 
      bürgt dein Blick … Aber willst du nur sehn? … 
      Wenn uns zwei eine einzige Wollust umstrickt, 
      werden beide im Kuß wir vergehn! (S. 63) 
      
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      Hin mein Wille, mein Stolz! Alles, alles dahin! … 
      Ach, wie matt ich von deinen Liebkosungen bin! 
      Überirdische Wunder verriet mir dein Blick, 
      und dein Mund, er erschloß mir unsagbares Glück. 
       
      Ich war leidenschaftlos, ich war teilnahmlos kalt - 
      doch du rissest vom Haupte die Krone mir bald … 
      O, umschlinge mich heiß, bis die Lust wird zum Leid - 
      und die Königin dient dir als Sklavin allzeit! 
       
      Bis zur Grausamkeit schüchtern und zärtlich warst du, 
      sangst gemach mich in schlummernde, träumende Ruh. 
      Doch vor Liebe erstarb mir das Herz in der Brust, 
      ich erwachte … und küß dich … und sterbe vor Lust! (S. 64) 
      
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      O lichter Mai, ersehnter Mai, 
      wann kommst du endlich, endlich wieder 
      als holder Knabe frank und frei, 
      bringst Blumenduft und Vogellieder? 
       
      Verliebt in deinen Strahlenblick 
      ist die Natur, die unentweihte. 
      Es gibt dir heimlich das Geleite 
      die Freiheit und das Liebesglück. 
       
      Vermähle bald zu einem Streben 
      des Sinnens und Empfindens Macht! 
      Und seufzen wieder wird und beben 
      im Kuß die weiße Mitternacht! … (S. 64) 
      
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      Muß auch einst die Glut der Kälte weichen - 
      wieder flammen wirst du einst in Lust! 
      Deines Kusses eingebranntes Zeichen 
      wahr ich treu auf meiner weißen Brust. 
       
      Dieses Brandmal deines Liebeskusses 
      wahr ich treu, daß es kein Blick entweiht - 
      als die Spur unsterblichen Genusses, 
      als das Pfand erneuter Seligkeit! (S. 64) 
      
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      Ich liebe mitternachts dein müdes Angesicht. 
      Geheimnisvoll verklärt vom irren Mondeslicht, 
      sind deine Züge bleich; nur deine Augen sprühen 
      zwei Demantsternen gleich, die durch das Dunkel glühen. 
       
      Ich folge ihrem Blick. Bald lischt in ihnen sacht 
      in unterdrückter Glut wahnsinniges Begehren, 
      bald flammt in ihnen auf das Flehen um Gewähren 
      und zittert durch den Saum der Wimpern wie durch Nacht … 
       
      Es schwelgt mein Blick, gebannt von deinem Zauberblicke, 
      wenn fiebrisch du erbebst, erschöpft vor Leidenschaft; 
      ich fühl mein Herz vergehn vor höchstem Weh und Glücke! … 
       
      Das Haupt an deiner Brust, so halt ich dich umfangen … 
      Der Hände Blut erstarrt, es schwindet mir die Kraft - 
      und wie ein Wirbelwind durchstürmt mich das Verlangen! … 
      (S. 65) 
      
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      Nun will ich des Genusses Gluten 
      bei ausgelöschten Kerzenlicht, 
      bis Wonneschauer mich durchfluten 
      und mir das Herz vor Seufzern bricht! 
       
      Die Gluten des Genusses will ich 
      durch Stunden, die für ewig fliehn; 
      
      und meiner Liebe Durst, ihn still ich 
      an Küssen, die unsterblich glühn! 
       
      Ich will die Gluten des Genusses - 
      sei's nur im Traum! … Ich fleh, ich wein, 
      ich zittre, flamme, harr des Kusses! … 
      Der Traum zerrinnt … ich bin allein! (S. 65) 
      
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      Schwarz wie die Unterwelt sind deine Blicke. 
      Hüllt dir das Herz der Hölle Dunkel ein? 
      Hat sich geschlossen über deinem Glücke 
      der Liebe Himmel? Losch dein Sonnenschein? 
       
      O traure nicht – dir gilt mein ganzes Sehnen! 
      Nur du, nur du füllst ganz die Seele mir! 
      Wie vom verlornen Eden voller Tränen 
      die Peri träumt, so träum ich nur von dir! 
       
      Ich nahte gestern dir mit kalten Mienen 
      um, liebematt, zu sammeln neue Kraft; 
      doch heute nah ich dir voll Leidenschaft, 
      um wiederum als Sklavin dir zu dienen … 
       
      O, traue mir mit blinder Zuversicht 
      und nenne launisch meine Liebe nicht! (S. 65-66) 
      
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      Umarmen will ich dich so stark – daß alles Leid, 
      das mir das Herz zerquält hat in der Trennung Stunden, 
      mir jäh im Busen stirbt, und mich die Marterzeit 
      bedünken wird ein Traum, der spurlos hingeschwunden. 
       
      Umarmen will ich dich so glühend – daß so heiß 
      der Hölle Flammen selbst nicht lodernd können schlagen … 
      Und dieses Feuer ist der Liebe grauser Preis, 
      weil deinetwillen ich dem Himmel konnt entsagen. 
       
      Umarmen will ich dich so zärtlich – daß sogar 
      die Engel all, die nur die Seelenliebe kennen, 
      wenn meiner Liebe Macht sie werden erst gewahr - 
      sie nimmer freventlich und unkeusch werden nennen. (S. 66) 
      
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      Denke nicht, daß du jemals kannst lassen von mir: 
      Durch die Leidenschaft ewig verbunden sind wir! … 
      Oder hätte umsonst uns die Liebe beseelt 
      und die Qual und die Lust uns im Kusse vermählt? 
       
      Drückt das Leben zu schwer – nun, so streifen wir's ab! 
      Eine Mitternacht wähle nur, schwarz wie das Grab. 
      Bricht dann jählings durch Wolken des Mondes Gegrell - 
      fängt uns auf hoch vom Felsen des Meeres Gewell. 
       
      Mit den flatternden Locken umschling ich dein Haupt 
      wie mit seidenem Netze, daß nichts dich mir raubt! 
      Du entschläfst, und es schließt sich die Flut über dir - 
      an die Brust mir geschmiegt, bleibst du ewig mit mir! (S. 
      66-67) 
      
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      Als blauer Schleier wallt hernieder 
      der Frühlingsdämmer allerwärts … 
      Im Garten, unterm weißen Flieder, 
      will ich dich pressen an mein Herz. 
       
      Hörst du der Blätter Sehnsuchtflüstern? 
      Ich harre dein im Laubgekränz … 
      Wie ist die Nacht so liebelüstern! 
      Wie schönheitstrunken ist der Lenz! 
       
      O komm! Ich harre deines Blickes! … 
      Sieh, es erschließen sich ringsum 
      im Übermaß des höchsten Glückes 
      der Blumen Kelche, keusch und stumm! (S. 67) 
      
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      Die Eifersucht zermartert deine Seele, 
      und bergen willst du sie vor meinem Blick. 
      Allein ich laß nicht ab von dem Gequäle - 
      das Triumphieren ist ein eignes Glück! 
       
      Dein stolzes Auge reizt mich nur zum Lachen! 
      Maskiere dich vor mir nur immerfort - 
      verlorne Müh; nie wird mich irre machen 
      dein frostiges, verächtlich-schnödes Wort! … 
       
      So räch dich doch, von Zorn und Haß durchdrungen! 
      So kränk mich doch, verletz mich bis aufs Blut! … 
      Auf deine rasenden Beleidigungen 
      folgt die – Ekstase deiner Liebeswut! (S. 67) 
      
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       Der erste Kuß 
       
      Und wir blieben allein, und die Zeit schwand im Fluge … 
      In des Kusses Verlangen verschmachtete ich. 
      Die Vergessenheit sucht ich im Sinnebetruge - 
      o, wie liebte ich dich, wie begehrte ich dich! 
       
      Und im Vorgefühl senkten sich kraftlos die Lider, 
      und im Vorgenuß schlossen die Augen sich zu. 
      Unsre Arme umschlangen sich wieder und wieder - 
      und da warst du ganz ich, und da war ich ganz du! 
       
      Und es bannten mich wundersam wonnige Träume: 
      fernher zitterte Harfengetön durch die Luft, 
      über uns rauschten segnend weitwipflige Bäume, 
      um uns her hauchten Blumen betäubenden Duft. 
       
      Mich trieb's um wie ein Blatt in des Strudels Getümmel, 
      wie ein Sandkorn, gepackt von des Wirbelwinds Drang; 
      meine Seele verschwebte im grenzlosen Himmel. 
      Und es kreiste im Äther mein Leib und versank … 
       
      Meine Seligkeit konnt ich in Worte nicht fassen, 
      als mir strahlte der Abglanz unsäglichen Glücks 
      dir im Antlitz, dem wonneberauschten, dem blassen, 
      auf dem Grund deines dunkelnden, löschenden Blicks! (S. 
      68-69) 
      
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      Wenn mein Glück wär ein herrlicher, mächtiger Weih, 
      wenn am Himmel er kreiste so stolz und so frei - 
      würd ich schnellen nach ihm meinen klingendsten Pfeil, 
      und er würde – ob lebend, ob tot – mir zuteil. 
       
      Wenn mein Glück eine Blume wär sonderster Art 
      und entwüchse dem Firn, wo kein Blick sie gewahrt - 
      pflücken wollt ich sie, furchtlos vor grundloser Kluft, 
      und berauschen mein Herz an dem köstlichen Duft. 
       
      Wenn mein Glück wär ein Ring von hochedlem Metall, 
      und der Ozean bärg ihn mit seinem Geschwall - 
      eilig taucht ich als Nixe hinab auf den Sand, 
      und der Ring würde strahlend mir schmücken die Hand. 
       
      Wenn mein Glück du im Herzensgrund trügest allwärts, - 
      würd ich heimlich dir immer durchgluten das Herz, 
      daß es bebte und klopfte nur mir ganz allein 
      und in Ewigkeit sollte zu eigen mir sein! (S. 69) 
      
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      Nein, meiner Liebe Zeit ist nicht die Frühlingszeit: 
      Die Nacht starrt allzu licht, 
      der Tag lärmt allzu laut; in süßem Leid 
      verzärtelt sich das Herz, es dehnt sich weit 
      in ruhelosem Drang und leistet fromm Verzicht … 
      Im Frühling lieben kann ich nicht. 
       
      Fremd bleibt die Liebe mir auch in des Sommers Glut: 
      sie blüht als Kind der Nacht; 
      des Nebels Schleier heischt ihr scheuer Mut, 
      sie birgt sich bei des Frühlichts Lichtgeflut 
      und hat des süßen Rests im Wonnekelch nicht acht … 
      Kalt hab ich ihre Glut verlacht. 
       
      Nein, lieben kann ich nur, wenn stumme Herbstesluft 
      rings seufzt so trüb und bang, 
      wenn das vergilbte Gras haucht herben Duft, 
      wenn schwarz vor mir das Leben gähnt als Gruft - 
      doch wilder, gieriger mein Herz durchflammt der Drang 
      nach Schönheit, wonnesüß und krank. (S. 69-70) 
      
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      Ein Frühlingsmärchen 
       
      Wen sucht Prinzessin Maja allerenden 
      verliebten Blickes? Wen ersehnt sie lange? … 
      Sie geht bekränzten Haupts am Uferhange, 
      Maiblumen streuend mit den weißen Händen. 
       
      Schon harrt Prinz Junius im Waldeshorte, 
      der holde Jüngling mit den heißen Blicken … 
      Verwirrung macht den Atem ihnen sticken, 
      und das Gefühl macht stocken ihre Worte. 
       
      Es hat geheimnisvoll und unerwehrbar 
      sie eine Macht vereint im Waldesgrunde. 
      Sie steht gesenkten Haupts, mit stummem Munde, 
      er aber spricht: "Ich liebe dich!" kaum hörbar! 
       
      Sie ist ganz Schamerglühen, ganz Erbeben 
      und wagt es nicht, die Augen aufzuschlagen. 
      "Ich liebe dich!" kann hörbar kaum sie sagen - 
      und beide Seelen leben nur ein Leben. 
       
      Es schlingt den Arm um der Prinzessin Hüfte 
      der holde Jüngling mit den heißen Blicken. 
      Die Liebe will das junge Paar beglücken 
      und führt sie hin ins heimlichste Geschlüfte. 
       
      Dort halten sie in schauerndem Entzücken. 
      Dicht rankt um sie sein Blütennetz der Flieder - 
      und stumm vor Maja läßt sich Junius nieder, 
      der holde Jüngling mit den heißen Blicken. 
       
      *** 
       
      Es singen die Libellen den Mimosen: 
      "Wir stickten einen Vorhang vor ein Bettchen 
      wohl aus den duftigsten, den feinsten Blättchen 
      der blausten Veilchen und der rötsten Rosen. 
       
      Den Vorhang schiebt zur Seite schlummertrunken 
      der Knabe Junius mit den goldnen Locken, 
      sobald das Frühgeläut der Blumenglocken 
      ihn aus dem Schlafe weckt, drin er versunken … 
       
      Das Menschenherz, in süßer Lust entglommen, 
      wird heißer flammen als der Strahl der Sonne, 
      die Nacht wird bieten ihm die glühste Wonne, 
      und jubeln wird's: "Der Sommer ist gekommen!" (S. 
      70-71) 
      
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      Doppelliebe 
       
      O, neig dein Angesicht zum heißen Busen mir! 
      Ich schmachte, dir im Blick, dem klaren, zu versinken. 
      Laß tief mich schauen in die Augen dir, 
      die grünlich-blauen sind des Meeres Blinken. 
       
      Auf ihrem feuchten Grund, gleichwie im Wasserschlund, 
      schaun zwei Phantome auf mit seltsamlichen Mienen. 
      Drin tut mein Bild sich mir gedoppelt kund, 
      drin sehn zwei Ich mich an wie zwei Undinen. 
       
      Doch deiner Seele Grund schreckt meinen Blick zurück, 
      daß in der Ahnung mir das heiße Herz erkaltet: 
      Gleichartiges wird dort nicht schaun mein Blick - 
      nein, ein Gebild, das feindlich zwiegestaltet. (S. 72) 
      
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      Meiner Nebenbuhlerin 
       
      Und wärst die Schönste du im Lande, 
      und strahltest du auch Himmelsglanz - 
      so bist du nimmer doch imstande 
      zu trüben meinen goldnen Kranz. 
       
      Mein Tempel ragt, der säulenhohe, 
      weißschimmernd in die blaue Luft, 
      und ewig steigt die Opferlohe, 
      und ewig steigt der Opferduft. 
       
      Dort bin ich Königin! Mir dienen 
      muß meiner Reime Sklavenschar; 
      gleich einer Geißel über ihnen 
      schwing meinen Vers ich mitleidbar. 
       
      Dem Daktylus, dem plätschernd hellen, 
      folgt glüh mein Jambus auf dem Fuß; 
      dem Sprung des Anapästs gesellen 
      Trochäen sich mit sanftem Gruß. 
       
      Die Strophen alle, die beseelten, 
      ziehn hin wie Fluten klingend klar 
      und flechten meinem Auserwählten 
      den düftereichsten Kranz ums Haar … 
       
      Drum aus dem Wege mir geflüchtet, 
      und fort das törichte Geträum: 
      der Ort, wo ein Altar errichtet 
      ist keines Staubgebornen Heim! 
       
      Und wärst die Schönste du der Schönen - 
      Nur eine Blume bist du hier: 
      sobald der Leier Klänge tönen, 
      zerstiebt der Erdenblume Zier! (S. 73) 
      
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       Warum in den Rouleaus ersticken, 
      willst du des Tages Funkenpracht? 
      Umsonst erloht's in deinen Blicken - 
      an mir zerscheitert ihre Macht! 
       
      Kalt lächelnd, ohne zu erbeben, 
      hör ich das Flehen, dein zu sein. 
      Der Freiheit soll ich mich begeben 
      und opfern meinen Stolz? – O nein! 
       
      Wie sehr dein Herz, das liebgeübte, 
      sich auch in Leidenschaft verzehr - 
      dir soll ich folgen als Geliebte 
      und stumme Sklavin? – Nimmermehr! … 
       
      Wie? … Hör ich klirren schon die Ketten? … 
      O, laß die Odaliske dann 
      im Augenblickstriumphe retten 
      den Stolz vor ihm, der ihr Tyrann! (S. 73-74) 
      
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      Wie dunkel ist es hier! 
      Wie duftet's nach Verwesung! … 
      O, komm zum Kuß zu mir! 
      Ich schmacht nach dir 
      wie nach Erlösung! 
       
      Komm, hauch in diesen Tod 
      des Sturmes Lebensodem, 
      bis meine Liebe loht 
      als Morgenrot 
      durch all den Brodem! 
       
      Dann wird uns Lenz umblühn 
      und Frühling uns umtönen, 
      wir aber werden sprühn 
      in einem Glühn 
      und selig stöhnen! (S. 74) 
      
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      Schalmeienklang ist meine Liebe, 
      ist eine Spur vom Tau der Nacht, 
      ist eine goldge Immortelle 
      in ihres Blühens erster Pracht. 
       
      Das Abendrot ist deine Liebe, 
      ist ferner Leiern Abschiedsklang, 
      ist eine Königsanemone, 
      die sich der Dornen Haft entzwang. 
       
      Ein Frühlingswind ist meine Liebe, 
      die mir aus unbekanntem Land 
      trägt Düfte, die ich nie empfunden, 
      und Träume, die ich nie gekannt. 
       
      Doch ein Orkan ist deine Liebe, 
      der wirbelnd tobt und tosend kreist 
      und Himmlisches hinab zur Erde 
      und Irdisches zum Himmel reißt. (S. 74-75) 
      
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      Ja, ich lieb dich, wie der Meerschoß liebt der Sonne 
      Aufgangsglut, 
      wie die weiße Lotosblume die verträumte kühle Flut. 
      Ja, ich lieb dich, wie der Oststern liebt den Mond auf goldner Bahn, 
      wie der Dichter das Gebilde, das geboren hat sein Wahn. 
      Ja, ich lieb dich, wie der Falter liebt der Kerze warmes Licht, 
      daß vor Sehnsucht ich verschmachte und vor Weh das Herz mir bricht. 
      Ja, ich lieb dich, wie der Zephir liebt des Rohres Klang und Sang, 
      mit des Geistes ganzem Willen, mit der Seele ganzem Drang. 
      Ja, ich lieb dich, wie ein Traumbild, das als Rätsel reizt den Blick, 
      mehr noch ans den Lenz, die Sonne, als das Leben, als das Glück!
      (S. 76) 
      
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      Derweil mir nachts beim bangen Windgestöhn 
      vor Weh das Herz fast bricht - 
      gibt's irgendwo noch hehres Meergedröhn 
      und helles Sonnenlicht! 
       
      Derweil im Herzen, rings umblinkt von Eis, 
      mir stockt die Tränenflut - 
      blühn irgendwo noch Rosen rot und weiß 
      in grüner Myrten Hut! 
       
      Derweil den schönsten Traum im Erdentand 
      ersticken muß mein Herz - 
      schäumt irgendwo das Glück bis übern Rand 
      und klingt Gelach und Scherz! (S. 76) 
      
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        Biographie: 
        wurde als Tochter des bekannten Rechtsanwalts und juridischen 
        Schriftstellers Alexander Wladimirowitsch Lochwitzkij am 1. Dezember / 
        19. November 1869 in Petersburg geboren. Ihre Bildung erhielt sie im 
        Moskauer Alexander-Stift und heiratete 1891 den Studenten J. E. Gibert. 
        Im Jahre 1889 betrat sie die literarische Laufbahn. Ihre Gedichte 
        erschienen in fünf Bänden und erhielten zweimal von der Akademie der 
        Wissenschaften den Puschkin-Preis zuerkannt. – Sie starb in Petersburg 
        am 5. September / 27. August 1905. 
        
          
        
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        In der Übersetzung von Friedrich Fiedler (1859-1917) 
  
        
          
        
        Gedichte und Biographie aus: Russische 
        Dichterinnen. Ausgewählte Dichtungen übertragen und mit biographischen 
        Notizen versehen von Friedrich Fiedler. 
        Leipzig Verlag von Philipp Reclam jun. 1907 
          
       
        
      
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