Thomas Bailey Aldrich (1836-1907)
      nordamerikanischer Dichter
      
      
      
      
      
      Mirjams Weh
      
      Mirjam saß an des Pflanzers Thür,
      Ihr Kindlein auf dem Knie,
      Indeß in Abenddunkel schlief
      Das Thal von Nacoochee.
      
      Das Haupt gesenkt, mit trübem Blick,
      Von Sorg' erfüllt das Herz,
      Saß wie ein Bild von Stein sie da,
      Erstarrt in ihrem Schmerz.
      
      Von Reisfeld und Cypressensumpf,
      Lagun' und Stromesfluth
      Schweift' ihre Seele hin zum Land,
      Das brennt in Mittagsgluth.
      
      Auf ihrem Jugendliebsten lag
      Ihr Auge festgebannt,
      Sie sah ihn traurig, matt und krank
      An jenem fernen Strand.
      
      Sie sah ihn brechen Zuckerrohr
      Und Frucht vom Baumwollstrauch,
      Den Eisenring um seine Hand,
      Das Herz in Fesseln auch.
      
      Sie sah ihn, wenn sein Werk gethan,
      Heimgehn im Abendlicht,
      Gedenkend ihrer, schmerzlich oft
      Verhüllend sein Gesicht.
      
      Die liebe, alte Geige klang,
      Des Abends er vorm Jahr
      Gespielt in ihrer Liebeszeit,
      Als süß das Leben war.
      
      Da plötzlich aus dem nahen Baum
      Des Käuzchens Stimme schrie,
      Und Mirjams Seele flog zurück
      Ins Thal von Nacoochee.
      
      Und fester, fester drückte sie
      Ihr Kindlein an die Brust,
      Das seine Händchen ausgestreckt
      Und lächelte voll Lust.
      
      Doch ihr gehörte nicht der Druck
      Der lieben, kleinen Hand -
      O Gott, daß Solches darf geschehn
      In einem Christenland! 
      
      (S. 157-158)
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      Verlobung
      
      Einen Ring von Golde
      Steckt' ich an die Hand
      Meiner allerschönsten
      Dam' im ganzen Land.
      
      Wenn die frühen Rosen
      Blühn im Sonnenglanz,
      Will ich weiße pflücken,
      Ihrem Haar zum Kranz.
      
      Eilt euch, sel'ge Rosen,
      Mailuft küss' euch wach -
      Denn in euren Knospen
      Schläft mein Hochzeitstag! 
      
      (S. 158-159)
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      Parabras carinosas
      
      Gut' Nacht! Ich sage gute Nacht
      So vielem Holden ja zumal!
      Gut' Nacht der schneeig weißen Hand,
      Beglänzt von goldner Ringe Strahl!
      Gut' Nacht dem treuen Augenpaar,
      Gut' Nacht dem braunen Lockenhaar,
      Gut' Nacht dem schöngeformten Mund,
      Dem so viel' süße Scherze kund -
      Die Hand läßt mich nicht los . . . Hab Acht
      Dann sag' ich nochmals Gute Nacht!
      
      Doch eine Zeit wird kommen, Lieb,
      Wenn in den Sternen recht ich sah,
      Wo ich nicht zögernd mein Ade
      Dir sag' am Thor. Gut' Nacht bis da!
      Du wünscht', die Zeit wär' heut? Auch ich!
      Der Wunsch macht nicht erröthen dich?
      Vorm Jahr zu Tod dich hätt's erschreckt,
      Wenn mir dein Herz so Viel entdeckt -
      Wie! beide Hände gar? . . . Hab Acht!
      Dann sag' ich nochmals Gute Nacht! 
      
      (S. 159)
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      Lustig wie der Frühling
      
      Lustig ist die Drossel,
      Die hell ihr Liedchen singt,
      Und lustig die Forelle auch,
      Die hoch im Bache springt!
      Und lustig ist der Schmetterling,
      Der um die Blumen strich -
      Und lustig, wie der Frühling,
      Lieb, sind du und ich!
      
      Stumm ist jetzt die Drossel,
      Ihr Lied erstarb im Hain;
      Die bunte Bachforelle springt
      Nicht mehr im Sonnenschein.
      O, trüb ist jetzt das Himmelszelt,
      Und Blatt und Blum' erblich -
      Doch lustig, wie der Frühling,
      Lieb, sind du und ich! 
      
      (S. 160)
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      Die Glocken sollen klingen
      
      Die Glocken sollen klingen,
      Marguerite;
      Die Vöglein sollen singen,
      Marguerite -
      Du lächelst, doch du trägst, fürwahr,
      Myrthenblüthen noch im Haar,
      Marguerite!
      
      Weh mir! die Glocken klangen,
      Marguerite;
      Und ach, die Vöglein sangen,
      Marguerite -
      Doch von Cypressen flechten wir
      Eine traur'ge Krone dir,
      Marguerite. 
      
      (S. 160)
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      Ballade
      
      Die Amsel singt in dem Haselstrauch,
      Eichkätzchen sitzt auf dem Baum;
      Und Maud, sie wandelt im lustigen Wald,
      An des blitzenden Meeres Saum.
      
      Die Amsel lügt, wenn sie singt von Lieb',
      Und Eichkätzchen ist ein Schalk;
      Und Maud ist voll eitelen Flattersinns,
      Wie der schwirrende Wanderfalk!
      
      O Amsel, stirb in dem Haselstrauch,
      Eichkätzchen, verhungre im Baum!
      Und, Maud - du magst wandeln im lustigen Wald,
      Aus ist meiner Liebe Traum! 
      
      (S. 162)
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      Aus: Amerikanische Anthologie
      Deutsch von Adolf Strodtmann [1829-1879]
      Hildburghausen Verlag des Bibliographischen Instituts 1870