Kazimierz Glinski (1850-1920)
      polnischer Dichter
      
      
      
      
      
      Die Nachtigall
      
      Ringsum raunen still die Bäume,
      Blatt dem Blatte heimlich winkt -
      Goldne Helle füllt die Räume,
      Und die Sonne mählich sinkt.
      Goldne Strahlen sterben leise,
      Es entkleidet sich die Nacht . . .
      Und in wunderbarer Weise
      Singt die Nachtigall so sacht. -
      
      Ringsum feierliches Schweigen
      Tief in Abendkühle ruht -
      Und die Silbertöne steigen,
      Steigen ob des Wassers Flut;
      Und die Blumen an dem Strande
      Beben heimlich voller Lust,
      Hauchen Düfte in die Lande
      Aus der schlafgeküßten Brust.
      
      Und die Nachtigall sie läutet -
      Daß ihr Herz im Sang erscheint,
      Welche Töne sie vergeudet,
      Wie sie seufzt und schluchzt und weint!
      In den Trillern bald ein Lachen,
      Bald ein Klagen sich erhebt,
      Bis die Klänge sich entfachen,
      Daß die Herzensharfe bebt!
      
      Einsam ist die immerfort -
      Und es klingt in weiter Runde,
      Dort und da und da und dort,
      In des Abends später Stunde.
      Schlafen sie noch keiner sah . . .
      Hoch zum Himmelsdome dringen,
      Da und dort und dort und da,
      Silbersang und Silberklingen.
      Schluchzen hört man immerzu,
      Ohne Rast und ohne Ruh . . .
      Und die weite Welt durchzieht,
      Bis zum Himmelstor ganz nah,
      Dieses Lied:
      Dort und da,
      Da und dort . . .
      
      übersetzt von Lorenz 
      Scherlag (1881-1941)
      
      Aus: Moderne polnische Lyrik
      Eine Anthologie deutscher Übertragungen
      Herausgegeben von Lorenz Scherlag
      Amalthea Verlag Zürich Leipzig Wien 1923 (S. 27-28)
      _____