Semjon Jakowlewitsch Nadson (1862-1887)
      russischer Dichter
      
      
      
      
      
      Nicht ganz gehör' ich Dir - mich ruft
      Ein andres Leben, andres Sehnen ...
      Nichts überbrückt die Scheidekluft -
      Nicht Deine Küsse, Deine Thränen.
      
      Ich liebe Dich, doch nicht allein
      Genuß heisch' ich von diesem Leben:
      Noch lockt mein Herz der Strahlenschein
      Der Wahrheit - ihr nur gilt mein Streben.
      
      Nie band ich feige meinen Kahn
      Ans Ufer, daß ich ruhig schliefe -
      Durch Wellengrimm geht meine Bahn
      Zum Kampfe mit der finstren Tiefe! 
      
      (S. 250)
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      Wofür?
      
      Habt Ihr geliebt, wie ich? Hat Euch durch lange Nächte
      Ein ungestillter Schmerz um sie des Schlafs beraubt?
      Hat Euer Zährenstrom gefleht die Himmelsmächte
      Mit heilger Liebeskraft um Segen auf ihr Haupt?
      
      Seitdem der Tod geknickt ihr zartes Blumenleben,
      Seitdem Ihr nimmer schaut ihr holdes Angesicht -
      Starb diese Welt für Euch, starb Euer höchstes Streben,
      Erlosch für Euch das Licht, der letzten Hoffnung Licht? ...
      
      O nein - Ihr lebtet fort und strebtet unverdrossen,
      Nach kurzer Zeit vergaßt Ihr die Vergangenheit,
      Und späterhin, vielleicht, entweihtet Ihr durch Glossen
      Das einstmals laute, nun verstummte Herzeleid!
      
      Geliebt vom Glück, beglückt von Liebe, ward Euch nimmer
      Verständniß für ihr tief und engelrein Gemüth;
      Des Mitleids Kosungsblick war Euch ein leerer Schimmer -
      Doch ich empfand ihn tief, ich, der so krank und müd! ...
      
      Wofür denn durftet Ihr sie noch im Tod erblicken,
      Nur Ihr, nur Ihr Euch nahn dem Sarg mit stummer Pein,
      Nur Ihr den heißen Kuß des ew'gen Abschieds drücken
      Auf ihre Hand, die starr und kalt wie Marmelstein?
      
      Nachdem der Sarg zur Gruft versenkt von rohen Händen
      Und ihr der Priesterchor die Seligkeit verhieß -
      Wofür denn schmücktet Ihr das Grab mit Blumenspenden,
      Derweil ich abseits stand, durch nichts mein Weh bewies?
      
      O, hättet Ihr gefühlt dies Weh in meinem Herzen,
      O, hättet Ihr gesehn, wie ich gerungen hab' -
      Den Vortritt gönntet Ihr nur mir und meinen Schmerzen,
      Der Nächste stünd' ich dann an dem geliebten Grab! ... 
      
      (S. 251-252)
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      Übersetzt von Friedrich Fiedler (1859-1917)
      Aus: Der russische Parnaß
      Anthologie russischer Lyriker
      von Friedrich Fiedler
      Zweite unveränderte Auflage
      Dresden und Leipzig Verlag von Heinrich Minden [1910]