Enrico Panzacchi (1840-1904)
      italienischer Dichter
      
      
      
      
      
      Mentre tu canti . . .
      
      Zu mir herüber schwingt
      Hoch über jene Mauer feucht und dunkel
      Sich deine Stimme, die so lieblich klingt
      Im warmen Sonnenschein und Lenzgefunkel.
      
      Ein süßer Liebesgruß
      Hat rings umher sich durch die Luft ergossen,
      Und auf der Mauer, die uns scheiden muß,
      Breitet ein Mandelbäumchen seine Sprossen.
      
      Dein Antlitz sah ich nie,
      Weiß nicht, wie dir zu Sinn, wohl oder wehe.
      Doch wenn ich lausche deiner Melodie,
      Ist mir's, als ob ich deine Schönheit sähe.
      
      Ein Stündlein, wär's erlaubt,
      Möcht' ich als Bäumchen dort die Mauer hüten,
      Um, wenn du singst, dir auf dein junges Haupt
      Zum Dank hinabzustreun all meine Blüten. 
      
      (S. 311)
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      Im Traum
      
      Es war ein Duft von welkenden
      Rosen, der mich umwehte,
      Als ich am Ufer wandelte
      Des alten Flusses Lethe.
      Es spiegelten die Wogen
      Geklärt im tiefen Bad
      Die Stern' am Himmelsbogen,
      Die Bäum' am Flußgestad.
      
      Nacht war's, versunken rings umher
      Das Land in Schlummers Hülle.
      Vorüberzog, vorüberzog
      Die Flut in tiefer Stille.
      Doch aus dem Wogendrange,
      Der sie zum Meere trug,
      Ans Ohr mit sanftem Klange
      Mir eine Stimme schlug.
      
      Die blonde Maid Ophelia
      Schwamm auf der Flut der klaren,
      Halbschlummernd, einen Blumenkranz
      Und Algen in den Haaren.
      "Kein Strahl des Morgenrothes
      Fällt je auf diesen Fluß.
      Ich treibe wie ein todtes
      Herbstlaub, wohin ich muß.
      
      So wie der leichte Nebelhauch
      Das Haupt mir mit Gekose
      Umspielt, so schwankend folgen mir
      Traumbilder, namenlose.
      Süß ist Vergessen. Lenket
      Zu Lethe's süßer Flut
      Den müden Flug, ertränket,
      Seelen, die irre Glut!
      
      Was Lieb' an holden Träumen hat,
      An Ruhmesglanz das Leben,
      Nicht wiegt's die Himmelswonnen auf,
      Bewußtlos hinzuschweben!"
      
      So auf dem flüssigen Pfade
      Das sanfte Lied erscholl,
      Ich folgt' ihm am Gestade,
      Das Herz des Zaubers voll.
      
      Ein Dufthauch von verwelkenden
      Rosen umgab die Stelle.
      Vorüberzog, vorüberzog
      Schweigend die tiefe Welle. 
      
      (S. 313-314)
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      übersetzt von Paul Heyse (1830-1914)
      
      Aus: Paul Heyse Italienische Dichter in Übersetzungen
      Lyriker und Volksgesang Neue Folge
      Gesammelte Werke (Gesamtausgabe)
      Reihe V Band 5
      George Olms Verlag Hildesheim Zürich Neu York 2002
      (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart Berlin 1905)