Alexander Rodger (1784-1846)
      
      
      schottischer Dichter
      
      
      
      
      
      
      
      
      Das Auge
      
      Nicht weil Du so reizend, nicht weil Du so fein,
      Nicht weil Deine Haut wie der Schnee ist so rein,
      Nicht weil Dein Wuchs an Vollkommenheit reicht,
      Nicht darum ich fühl', was die Zunge verschweigt:
      Nein, die Seele, die aus Deinem Auge lacht,
      Die ist's, die so theu'r mir, so lieblich Dich macht.
      
      Gern mag Dein erröthendes Antlitz ich seh'n,
      Jede weibliche Anmuth verziert es so schön.
      An den glänzenden Locken nie seh' ich mich satt,
      Die beschatten die Stirne so weiß und so glatt.
      Doch häng' ich am Blick, den Dein Auge mir sandt',
      O Hannchen, nie größere Wonn' ich empfand.
      
      Die Schönheit des Wuchses verschwindet vielleicht,
      Und von den Wangen die Blüthe weicht,
      Und der goldenen Locken Herrlichkeit
      Ergraut vor dem kalten Hauche der Zeit:
      Doch der Seele Blitz, der dem Aug' entbricht,
      Ein Kind ist des Himmels und stirbet nicht.
      
      Laß das Meer durchfurchen mich fort und fort,
      Mich frieren, wo Alles erstarret der Nord,
      Mich keuchen, wo senkrecht die Sonne fällt,
      Wo fließet kein Strom, kein Baum sich hält,
      Auch da noch, lieb Hannchen, würd' glücklich ich sein,
      Säh ich Deiner himmlischen Augen Schein. 
      
      
      übersetzt von Eduard Fiedler (1817-1850)
      
      Aus: Geschichte der volksthümlichen schottischen
      Lieder-Dichtung von Eduard Fiedler
      Zweite Ausgabe Erster und zweiter Band
      Leipzig 1858 Verlag von Wilhelm Violet (Band 2 S. 163)
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